Die seit Tagen anhaltenden Massendemonstrationen in Georgien gegen das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der EU und auch die Gewalt der Polizei gegen Oppositionspolitiker, Journalisten und Aktivisten zeigen deutlich: Das Land im Südkaukasus steht an einem entscheidenden Punkt in seiner neueren Geschichte. Nachdem die Regierungspartei Georgischer Traum bei der offenkundig gefälschten Parlamentswahl im Oktober einen Sieg mit 54 Prozent der Stimmen beansprucht hat, treibt sie eine grundlegende Neuausrichtung der georgischen Politik und Gesellschaft weiter voran.
Wird das Land vollständig den Integrationskurs Richtung Europäische Union verlassen und sich damit stärker wieder Russland annähern? Wird es die wegweisenden Reformen der Vergangenheit bei der Korruptionsbekämpfung, administrativen Reformen und einer Demokratisierung der Gesellschaft vollständig beenden und zu einem autoritären Staat werden? Darum ging es bei der Parlamentswahl Ende Oktober und geht es aktuell auf den Straßen in Tbilissi und anderen Städten des Landes.
Georgien hatte nach der Rosenrevolution 2003 unter dem Präsidenten Mikail Saakaschwili von allen Ländern im postsowjetischen Raum den wohl konsequentesten Kurs hin zur transatlantischen Integration und maximaler Distanzierung von Russland verfolgt. Jedoch war Saakaschwili nie ein Demokrat, sondern ein autoritärer Reformer, dessen Politik zunehmend in Gewalt umschlug. Nachdem 2014 die Partei Georgischer Traum um den Gründer und reichsten Mann des Landes Bidsina Iwanischwili die Macht übernommen hatte, wurde der EU-Integrationskurs weiterverfolgt, aber auch ein Ausgleich mit Russland betrieben.
Ein politischer Schock für Iwanischwili
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Bedeutung Georgiens für Handel und Transit sowohl aus Sicht Russlands als auch der EU erhöht. Aus russischer Perspektive geht es vor allem um einen Nord-Süd-Korridor zu seinem wichtigen Verbündeten Iran. Außerdem spielen Georgien und andere Staaten der Region eine wichtige Rolle bei der Umgehung westlicher Sanktionen. Für die EU geht es um den sogenannten Mittelkorridor, der unter Umgehung Russlands Europa über den Südkaukasus mit den Ressourcen des Kaspischen Meeres und Zentralasiens verbinden soll. Auch China ist an dieser wichtigen Nahtstelle zwischen Asien und Europa aktiv. Es hat in diesem Jahr durch die Regierung in Tbilissi den Zuschlag für den Bau eines Tiefseehafens an der georgischen Schwarzmeerküste in Anaklia bekommen. Dieser Hafen sollte eigentlich unter der Vorgängerregierung von westlichen Firmen gebaut werden. Bekommen hat den Auftrag nun eine chinesische Firma, die unter US-Sanktionen wegen Geschäften mit Russland steht.
Eine weitere Folge des russischen Angriffskrieges 2022 war, dass die EU der Ukraine, Moldau und Georgien die Möglichkeit eröffnete, der Union beizutreten. Alle drei Staaten haben bereits ein Assoziierungs-, Freihandels- und Visaabkommen mit Brüssel. Für die georgischen Machthaber war es allerdings ein politischer Schock, dass der Beitritt nun plötzlich möglich schien. Es wurde immer klarer, dass der Oligarch Iwanischwili, entgegen seinen Versprechen, an einem EU-Beitritt doch kein Interesse hat. Denn dieser würde weitere Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, politischer Wettbewerb und unabhängige Medien verlangen. Das wiederum könnte für ihn Machtverlust bedeuten. Gleichzeitig sind laut einer Umfrage des IRI-Instituts von Ende 2023 86 Prozent der Georgier für einen EU-Beitritt. Somit musste der Georgische Traum einerseits zeigen, dass das Land weiter auf EU-Integrationskurs bleibt, aber andererseits alles dafür tun, damit es auf diesem Weg nicht wirklich vorangeht.
Parallel dazu sind in den vergangenen Jahren die autoritären Tendenzen in Georgien immer deutlicher geworden. Die politische Landschaft des Landes war seit jeher polarisiert. Und diese Polarisierung war stets Teil der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Doch der Georgische Traum hat die Regeln für die politische Auseinandersetzung neu definiert und alle wichtigen Institutionen inklusive des Verfassungsgerichts unter Kontrolle gebracht.
Laut Umfragen hatte die Regierungspartei vor der Wahl im Oktober nur etwa 30 bis 35 Prozent Zustimmung. Unabhängige Experten gehen davon aus, dass bis zu 15 Prozent der Stimmen für die Regierungspartei gefälscht sein könnten. Dafür wurde ein umfassendes Manipulationssystem aufgebaut, mit Stimmenkauf, Druck auf öffentliche Angestellte, Mehrfach-Abstimmungen und Schummelei bei der Auszählung. Unabhängige Organisationen wie die International Society for Fair Elections And Democracy und Transparency International haben diese Manipulationen nachgewiesen. Trotzdem hat die Wahlbeobachtungsorganisation der OSZE einen Bericht abgeliefert, der die massiven Fälschungen und Manipulationen nicht ausreichend abbildet und damit relativiert.
Doch der weitaus größere Skandal ist, dass aus der EU und seinen Mitgliedsstaaten keine ernsthaften Reaktionen auf die Wahlfälschung und die Gewalt gegen friedliche Demonstranten in Georgien kommen. Auch nicht aus Deutschland. Als die EU Georgien im vergangenen Jahr trotz dieser autoritären Tendenzen den Kandidatenstatus verlieh, war dies mit einer Hoffnung verbunden. Darauf, dass die Regierung zur Vernunft kommt und der proeuropäische Teil der Gesellschaft gestärkt wird.
Konten müssen eingefroren werden
Aber der Georgische Traum konnte das als Erfolg verkaufen und erhöhte gleichzeitig den Druck auf die Gesellschaft. Jetzt, nach gravierenden Wahlfälschungen, umfassenden Desinformationskampagnen der Regierung in Interaktion mit russischen Akteuren gegen die EU, gegen Aktivisten und gegen die proeuropäische Präsidentin Salome Surabischwili, gibt es noch immer Schweigen oder Lippenbekenntnisse aus Brüssel und Berlin. Allen war klar, dass es nach der Wahl zu Auseinandersetzungen kommen würde. Trotzdem scheint man erneut nicht auf die Krise in diesem Schlüsselland im Südkaukasus vorbereitet zu sein.
Es ist höchste Zeit, die Personen in der Regierungspartei zu sanktionieren, die für Gewalt und Wahlfälschung verantwortlich sind. Iwanischwilis Konten im Ausland müssen eingefroren und es muss ihm deutlich gemacht werden, dass Gewalt Konsequenzen hat. Stattdessen warten EU-Institutionen und Mitgliedstaaten ab, was passiert. Nur die baltischen Staaten haben Sanktionen verhängt. Jeden Tag werden Menschen mit Gewalt auf den Straßen Georgiens niedergeschlagen und eingesperrt. Es gibt Beweise dafür, dass russische Geheimdienste in Tbilissi aktiv sind. Trotzdem lässt die EU ohne angemessene Reaktion die autoritären Kräfte in Georgien gewähren, in einem Land, das bis vor Kurzem noch Beitrittskandidat war und in dem große Teile der Gesellschaft auf Unterstützung aus dem Ausland hoffen, allen voran aus Europa.