Emmanuel Macron wird in Münster den Westfälischen Friedenspreis erhalten. Nach dem Aachener Karlspreis ist es der zweite Preis, den der französische Präsident in Deutschland bekommt. Macron ist beliebt hierzulande, wie fast überall in der EU. Nicht aber in Frankreich, wo sich die Visionen des jüngsten und pro-europäischsten Präsidenten der französischen Geschichte in den Skandalen und Krisen des politischen Alltags abgenutzt haben, von der Benalla-Affäre und den Gelbwesten-Protesten (2018) bis zu den Unruhen in den Vorstädten, die im Juni 2023 zur Absage seines Staatsbesuches in Deutschland führten.
Dieser wird nun nachgeholt, und zum krönenden Abschluss bekommt Macron den Friedenspreis. Seit 1998 wird der für Verdienste um die europäische Integration vergeben. Erster Preisträger war der tschechische Menschenrechtsaktivist Vaclav Havel. Macron hat den Preis verdient, egal wie man zu seiner politischen Bilanz steht. Er hat europäische Debatten der vergangenen Jahre geprägt wie kein zweiter Spitzenpolitiker. Angela Merkel mag bis 2021 die wichtigste Stimme Europas gewesen sein. Doch die Kanzlerin war eine Verwalterin, keine Visionärin. Macron hingegen verteidigt große Ideen, scheut dabei keine Konflikte. Seine Obsession ist seit 2017 die europäische Souveränität, deren Allgegenwärtigkeit in den Debatten er sich selbst Ende April in seiner Europa-Rede an der Pariser Sorbonne-Universität als großen Erfolg zuschrieb.
Das westfälische System überwinden
Dass der Souveränist Macron nun nach Münster kommt, ist auf vielen Ebenen symbolträchtig. Dort wurde 1648 einer der drei Friedensverträge unterzeichnet, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten, ein „Urtrauma“ (Herfried Münkler) der Deutschen. Einer der Unterzeichner war Louis XIV., der französische Sonnenkönig, damals erst zehn Jahre alt. Die Verträge schufen das Fundament eines neuen internationalen Systems, das fortan zunehmend vom staatlichen Gewaltmonopol und der gegenseitigen Anerkennung souveräner Staaten strukturiert war. Besonders in der angelsächsischen Rechts- und Politikwissenschaft wird daher bis heute vom „Westphalian system“ gesprochen, das vor bald 400 Jahren in Münster begründet wurde.
Macron wird nun an gleicher Stelle für sein Bemühen ausgezeichnet, das westfälische System zu überwinden. Seit 2017 habe er sich für die „Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit“ eingesetzt, schreibt die Jury des Friedenspreises, der unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiner, der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz und der ehemalige Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, angehören.
Der französische Präsident habe neue Akzente in der deutsch-französischen Beziehung gesetzt und trotz „schwerer Verwerfungen“ auch mit der russischen Führung den Dialog aufrechterhalten. Diese Begründung stammt aus dem Frühjahr 2023, das gehört angemerkt. Seitdem hat Macron den Ton gegenüber Wladimir Putin deutlich verschärft, weil der auch nach mehr als zwei Jahren Krieg, Tod und Zerstörung die ukrainische Souveränität nicht anerkennt.
Auch Macron ist kein Föderalist
Macron ist ein überzeugter Anhänger der EU, das ist sicher. 2017 feierte er seinen Wahlsieg mit der Ode an die Freude, der Europahymne. Im Kontext der EU-Wahl im Juni wirbt er nun für ein „Hamilton-Moment“ und gemeinsame Schulden. Gleiches hatte Alexander Hamilton, der erste amerikanische Finanzminister, im späten 18. Jahrhundert durchgesetzt und damit einen entscheidenden Schritt hin zur Föderalisierung der USA gemacht. Neben der souveränen Verteidigungsfähigkeit gelten gemeinsame Schulden und Investitionen auch den Anhängern eines EU-Föderalismus als wichtigste Voraussetzung.
Dass sich Macron für beides einsetzt, wirft deshalb seit 2017 die Frage auf, ob er ein Föderalist ist. Diese Frage führt zu einem weiteren französischen Träger des Friedenspreises, Valérie Giscard d’Estaing, ein Vorgänger Macrons. Giscard wurde 2006 für seine Arbeit als Präsident des EU-Reformkonvents ausgezeichnet, das einen Verfassungstext für die Union erarbeitete.
Der Text wurde 2005 zwar von Franzosen und Niederländern im Referendum abgelehnt, fand aber trotzdem in großen Teilen Eingang in den Lissaboner EU-Vertrag. Das Ignorieren des Referendums von 2005 steht seither für das Demokratiedefizit der EU. Und in Frankreich hat es dazu beigetragen, dass die föderalistische Idee kaum Anhänger hat. Auch Macron, der die Bedeutung nationaler Souveränität immer wieder betonte, ist kein EU-Föderalist.
Souveränität als Sackgasse
Das jedoch wird zunehmend zum Problem. Der französische Präsident hat sich mit der Vision europäischer Souveränität in eine Sackgasse manövriert: Er muss das Kunststück vollbringen, die EU-Souveränität glaubhaft zu stärken, ohne Frankreichs Souveränität dabei zu schwächen – eine schier unmögliche Aufgabe.
Mit einigen europapolitischen Erfolgen konnte Macron zwar auch in Frankreich punkten. Dass die deutsche Kanzlerin sich 2020 im Rahmen des EU-Programms „Next Generation“ auf gemeinsame Schulden einließ, wurde parteiübergreifend als Erfolg gewertet. Und dass der damalige Finanzminister und heutige Bundeskanzler Olaf Scholz von einem „Hamilton-Moment“ sprach, weckte auch für die Zukunft Hoffnungen in Paris. Doch bisher sieht es nicht so aus, als ob die Bundesregierung sich auf eine Wiederholung oder gar ein dauerhaftes Instrument einlassen würde.
Während die EU-Souveränität also kaum Fortschritte macht, haben sich andere den Begriff zu eigen gemacht. Das Europa-Programm der Rechtsaußen-Partei Rassemblement National ist gespickt mit Bekenntnissen zur Souveränität. Statt sie jedoch europäisch auszubauen, will der 28-jährige Spitzenkandidat der Partei, Jordan Bardella, Souveränität von der EU zurückholen. Bardella, der in aktuellen Umfragen fast doppelt so viele Stimmen auf sich vereinigt, wie die Kandidatin der Macron-Partei Renaissance, kämpft für die Rückkehr zu einem „Europa der Nationen“. Er stellt sich damit bewusst in eine lange Tradition französischer Europapolitik, wie sie auch der erste Präsident der Fünften Republik, Charles de Gaulle, in den 1950er Jahren verteidigte.
Der Zauberlehrling Macron
Macron hat mit dieser Tradition gebrochen, ohne das innenpolitisch je offen auszusprechen. Die EU hat seit 2017 von der Einführung des Souveränitäts-Begriffs in die Debatten profitiert. Immer häufiger verweist auch die Kommission auf die Notwendigkeit, die EU-Souveränität zu stärken – sei es in der Gesundheitspolitik, gegen ein Virus, in der Handelspolitik, gegen die amerikanischen und chinesischen Subventionen der eigenen Industrie, oder in der Außen- und Sicherheitspolitik, bei Waffenlieferungen in die Ukraine zum Beispiel. 2016 entschieden sich zudem die britischen Wähler für den Brexit und gegen die EU, ein historischer Gegner einer stärkeren EU-Integration verschwand.
Unter Macron wurde auch Frankreich wieder zu einem Antreiber für mehr Integration. Fraglich ist jedoch, ob der französische Richtungswechsel Macron überdauern wird. Kurz nach seiner großen Europa-Rede im April veröffentlichte die Tageszeitung Le Monde eine Umfrage zum Verhältnis der Franzosen zum Souveränitäts-Begriff. Die ersten Begriffe, die die Befragten mit „Souveränität“ assoziierten, waren „Nationalismus“ (22%), „Unabhängigkeit“ (20%) und „Macht“ (auch 20%).
Alle drei Begriffe sind kaum mit der EU verknüpft, verweisen im Gegenteil auf die Republik und einen starken Nationalstaat, der für viele Franzosen nach wie vor überragende Bedeutung hat. 54% der Befragten stimmten zudem der Aussage zu, eine Kombination der beiden Begriffe „europäisch“ und „Souveränität“ sei „widersprüchlich“. Le Monde sprach im Titel des Artikels von einem „großen Missverständnis“ zwischen den Ideen Macrons und den französischen Wählern.
So hat der Preisträger des Friedenspreises mit seinen Ideen zur Vertiefung der Union am Ende vielleicht einen Begriff in die europäische Debatte eingeführt, den er nicht mehr kontrolliert. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der 2018 ein vielbeachtetes Standardwerk zum 30-jährigen Krieg veröffentlichte, warnte bereits 2021, die EU funktioniere, solange niemand die Souveränitätsfrage stelle. Macron hat es doch getan und droht nun, zum Zauberlehrling der europäischen Politik zu werden.