Hier finden Sie aktuelle Einschätzungen zur Lage in der Ukraine aus einem Gastbeitrag von Dr. Christian Mölling und Dr. András Rácz bei ZDF heute:
Vor dem russischen Angriffskrieg umfassten die ukrainischen Streitkräfte etwa 250.000 Soldaten. Davon gehörten 160.000 zur regulären Armee, während etwa 80.000 Mitglieder der Nationalgarde waren. Etwa die Hälfte der regulären ukrainischen Streitkräfte war im Osten des Landes stationiert, entlang der Kontaktlinie mit den russischen beziehungsweise separatistischen Kräften. Der größte Teil der Landkämpfe wird von den regulären Streitkräften der Ukraine geführt.
Die Verluste sind bereits beträchtlich, sowohl an Personal (mindestens 10.000 Tote und Verwundete) als auch an militärischem Gerät.
Erfolge - aber zu einem hohen Preis
Den ukrainischen Landstreitkräften ist es gelungen, den russischen Vormarsch zu verlangsamen und in jüngster Zeit sogar eine Reihe von Gegenangriffen zu starten. Es gelang, den Mangel an schwerem Gerät durch eine flexible, nur schwer ausrechenbare Taktik und eine sehr hohe Moral weitgehend auszugleichen und den vorrückenden russischen Streitkräften schwere Verluste zuzufügen.
In der Zwischenzeit hat Russland systematisch die Treibstoff- und Munitionslager der Ukraine sowie ihre Militärindustrie zerstört. Sehr bald werden die ukrainischen Streitkräfte zunächst unter Treibstoff- und dann unter Munitionsmangel leiden. Zudem haben sie bereits einen Großteil ihrer Kapazitäten zur Reparatur gepanzerter Fahrzeuge verloren.
Dies wird die Kampffähigkeit der gesamten Streitkräfte und insbesondere der Panzer- und anderen motorisierten Einheiten deutlich verringern.
Über 100.000 freiwillige Verteidigungskräfte
Seit dem 1. Januar 2022 verfügt die Ukraine über separate territoriale Verteidigungskräfte, die im Ukrainischen umgangssprachlich Teroborona genannt werden und sich aus Freiwilligen rekrutieren. Bislang haben sich mehr als 100.000 ukrainische Männer und Frauen für den Dienst in diesen Einheiten beworben.
Die Teroborona erfüllt nicht nur logistische und unterstützende Aufgaben, sondern auch originäre Aufgaben - von Patrouillengängen, Verwaltung von Kontrollpunkten bis hin zum eigentlichen Kampf. Die Kiewer Teroborona ist gut ausgerüstet, aber andere Einheiten haben mit einem ernsthaften Mangel an fast allen Ausrüstungsgegenständen zu kämpfen, mit Ausnahme von Waffen.
Ukrainische Luftwaffe ist geschwächt
Obwohl ein Großteil der ukrainischen Luftstreitkräfte die ersten Tage des Krieges überlebt hat, waren sie ihrem russischen Pendant von Anfang an zahlenmäßig weit unterlegen. So sind sie zwar immer noch in der Lage, situativ Widerstand zu leisten und gelegentlich Angriffe zu fliegen, aber sie sind nicht in der Lage, Russlands massive Luftüberlegenheit herauszufordern.
Die effektivste Komponente der ukrainischen Luftstreitkräfte sind derzeit zweifellos die unbemannten Luftfahrzeuge (UAVs), vor allem die in der Türkei hergestellten Bayraktar TB-2-Drohnen. Vor dem Krieg kaufte die Ukraine mehrere Bayraktar von der Türkei und plante auch eine eigene Produktion des türkischen Systems. Seit dem 24. Februar erhält die Ukraine zusätzliche Lieferungen dieser Drohnen aus der Türkei.
Ukrainische Marine: Früh kampfunfähig gemacht
Die ukrainischen Seestreitkräfte wurden schon am ersten Tag des Krieges praktisch vernichtet. Die ukrainische Marine wurde bereits einmal im Jahr 2014 dezimiert, als Russland die Halbinsel Krim besetzt und illegal annektiert hatte. Dabei enterten russische Streitkräfte den größten Teil der ukrainischen Flotte.
Zu Beginn der aktuellen Eskalation blockierte Russlands Flotte alle ukrainischen Seehäfen. Das Flaggschiff, die Fregatte Hetman Sahaydachny (das einzige große Kriegsschiff, das nach 2014 in ukrainischer Hand blieb), wurde im Hafen von Mykolaiv von der eigenen Besatzung versenkt, um zu verhindern, dass es von Russland als Kriegstrophäe erbeutet wird.
Mehrere kleine Patrouillenboote der Ukraine wurden von Russland aufgebracht, andere versenkt. Nach dem Krieg wird die Ukraine ihre Marine völlig neu aufbauen müssen.
Westliche Unterstützung dringend gebraucht
Westliche Lieferungen von Offensivwaffen, insbesondere von Panzerabwehrraketen und tragbaren Luftabwehrsystemen (MANPADS), verschaffen der Ukraine die dringend benötigten Fähigkeiten, um den überlegenen russischen Panzerverbänden sowie der russischen Luftwaffe wirksam zu begegnen.
Dabei sind MANPADS zwar effektiv gegen niedrig fliegende Angriffsflugzeuge und Hubschrauber, bieten jedoch keinen Schutz gegen Ziele in größerer Höhe. Daher braucht die Ukraine dringend schwere Waffensysteme mit größerer Reichweite.