Folgende drei Beobachtungen zum Ende eines Krisenjahres können Anregungen für notwendige Debatten und politische Prioritäten in den kommenden Jahren geben, die ebenso krisengetrieben werden dürften.
Abschottung und Selbstkorrektur in der EU
Zu Beginn der Pandemie reagierten die EU-Staaten mit Abschottung: Grenzen wurden hochgezogen, Exportstopps für medizinisches Material wurden verhängt. Ende März 2020 bestanden akute Sorgen, dass die Pandemie zu Desintegration auf europäischer Ebene führen könnte und der Binnenmarkt dauerhaft Schaden nimmt.
Doch das System der EU bewies die Fähigkeit zur Selbstkorrektur: Exportregeln wurden vergleichsweise rasch europäisiert und nicht mehr auf EU-Staaten untereinander angewandt. In der Beschaffung und Bevorratung medizinischer Güter und bei der Entwicklung und Bereitstellung von Impfstoffen wird nun europäisch kooperiert.
Wieder einmal hat sich gezeigt, was Europa schon in früheren Krisen gelernt hat: Wird im Innern entgrenzt, ohne auf der europäischen Ebene für den nötigen Schutz zu sorgen, dann müssen die Regierungen nationale Krisenmanagementmaßnahmen in den Vordergrund stellen, was auf Kosten der europäischen Zusammenarbeit und Vernetzung gehen kann. Durch die Krise ist klar geworden, dass der Schutz der Gesundheit vor Pandemien und anderen grenzüberschreitenden Gefahren als europäisches öffentliches Gut gesehen werden muss, wenn die Mobilität der Bevölkerung im Binnenmarkt als erstrebenswertes Ziel aufrechterhalten werden soll.
Ein wichtiger Stresstest im neuen Jahr wird, ob – sobald der Impfstoff vorhanden ist – die Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten und in ihrem Innern konfliktfrei abläuft. Von politischer Brisanz bleibt die Frage, inwiefern europäische Staaten an der globalen Verteilung des Impfstoffs mitwirken und dafür sorgen, dass sich die Pandemie in fragilen Regionen nicht weiter zur humanitären Katastrophe ausdehnt.
Europas wichtigste und mutigste Entscheidung war die Einrichtung des Europäischen Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro und weiterer Säulen zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Auch aus diesem Krisenmanagementschritt ergeben sich Fragen für die Zukunft:
- Zu beobachten bleibt, wie erfolgreich die Mitgliedstaaten die bereitgestellten Gelder für die beiden großen Transformationsvorhaben einsetzen, für den technologischen Wandel und die Ökologisierung der Wirtschaft und mit den außerordentlichen Ausgaben transeuropäische Vernetzung und Zusammenarbeit voranbringen.
- Weit nach oben auf die Agenda gehört 2021 die Implementierung der Rechtstaatskonditionalität, die Ungarn und Polen in den letzten Verhandlungsrunden aushebeln wollten.
- Die Entscheidung, Geld für den Wiederaufbaufonds mithilfe europäischer Anleihen in den Märkten aufzunehmen, war richtig. Diese Schulden werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durch Beiträge der EU-Mitgliedstaaten beglichen werden. Die Diskussion über EU-Eigenmittel und europäische Steuern sowie die demokratische Legitimation derselben wird sich daher beschleunigen.
Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik
Die Gesundheitskrise entwickelte sich in wenigen Wochen zu einer umfassenden Wirtschaftskrise, zunächst in China, mit den Lockdowns und Grenzschließungen wenige Monate später auch in Europa. Die zweite Covid-19-Welle betrifft Europa und die USA – trotz der weitreichenden staatlichen Stützungspakete – möglicherweise noch intensiver als China.
Mittlerweile zeichnen sich Entwicklungen ab, die für die deutsche Außen- und Europapolitik und die Gestaltung des europäischen Wirtschaftsmodells in den kommenden Jahren relevant sein werden.
- Die Intervention der Staaten in der europäischen Wirtschaft ist massiv und wird es bleiben. Neben den Konjunkturstützungspaketen wird immer mehr zu Maßnahmen gegriffen, um die eigene Wirtschaft in einem zunehmend konfliktreicheren geoökonomischen Umfeld zu schützen. Die weltweiten Wertschöpfungsketten dürften nach der Krise weniger vulnerabel sein. Aktivere industrie- und technologiepolitische Ansätze sind auf dem Vormarsch. Die Überprüfung der europäischen Wettbewerbspolitik, die auch ohne Corona-Krise in der Diskussion war, dürfte weiter nach oben auf der politischen Agenda rutschen.
- In einem makroökonomischen Umfeld, das von niedrigen Zinsen, einer aktiven Geldpolitik und einer tiefen Rezession geprägt ist, werden weltweit schuldenfinanzierte Stützungspakete aufgelegt, die die Rolle des Staats in der Wirtschaft zumindest auf mittlere Sicht verändern. Probleme mit der Nachhaltigkeit von Staatsfinanzen können zu Liquiditäts- und Solvenzproblemen führen. Das kann auch Eurozonenmitglieder wie Italien betreffen.
Der Umgang mit der Covid-19-Krise und die unter anderem durch die Lockdowns verursachten Veränderungen im Konsumentenverhalten führen derweil zu wachsenden Asymmetrien.
- China kommt deutlich früher und schneller aus der Krise als die EU und die USA und ist derzeit die Lokomotive der Weltwirtschaft.
- Die Erholung variiert zwischen unterschiedlichen Sektoren stark. Die Gewinner werden in der Welt nach der Pandemie eine starke Rolle spielen.
- Auch innerhalb der EU verursacht die Covid-19-Krise Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Staaten, wozu auch die unterschiedliche Kraft der jeweiligen nationalen Stützungsprogramme beiträgt. Die fortschreitende Digitalisierung dürfte die Unterschiede verstärken.
- Die wachsende wirtschaftliche Divergenz innerhalb der EU dürfte nicht eine Herausforderung für die Herstellung der notwendigen Konvergenz in der Eurozone sein. Sie wird auch Folgen für die soziale und politische Stabilität in den Mitgliedstaaten haben und kann sich auf die jeweilige Positionierung der mitgliedstaatlichen Regierungen in wichtigen Politikfeldern auswirken. Erste Beispiele dafür gibt es, etwa Polens Forderungen nach mehr finanzieller Unterstützung im Gegenzug für Anstrengungen zum Erreichen der Klimaziele beim Europäischen Rat im Dezember. Zunehmende soziale Spannungen könnten restriktivere Haltungen etwa in der Migrationspolitik verursachen.
- Bislang blieb in der EU die noch zu Beginn der Covid-Krise befürchtete populistische Welle aus. Damit besteht zu Beginn des Jahres 2021 die Chance, mit einem „Build-back-better“-Ansatz die EU und ihre Mitgliedstaaten zu stärken und die notwendige gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Transformation voranzubringen. Die Zukunft des Wohlfahrtstaats, der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Frage nach unseren Wachstumsmodellen als Grundlage liberaler Demokratien sollten in der europäischen und transatlantischen Diskussion einen hohen Stellenwert einnehmen.
Globale Machtverschiebungen und strategische Positionierungen
Die Pandemie hat die Gewichtsverschiebung weg vom Westen beschleunigt und den Konflikt zwischen der absteigenden Weltmacht USA und der aufstrebenden Macht China befeuert. China hat nur eine Covid-19-Welle erlebt, ist ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie zur Lokomotive der Weltwirtschaft geworden und hat die Gesundheitskrise gezielt für die Projektion seiner Soft Power genutzt. Die geopolitische Dimension der Impfstoffverteilung ist offensichtlich: China hat von seiner anfänglichen Maskendiplomatie nun auf Impfstoffdiplomatie umgestellt und wird auch dieses Instrument nutzen, um seinen Einfluss und sein Image zu stärken. Offen ist zu diesem Zeitpunkt noch, wie China, die USA und Europa sowie andere Staaten die Krise jenseits der Deklaration von ambitionierteren Klimaschutzzielen als Motor für eine weitreichende Transformation nutzen werden.
Die Krise wird mittelfristig Auswirkungen auf den Multilateralismus und die internationale Kooperation haben. Zwar gibt es, wenn Joe Biden im Januar 2021 das Amt des US-Präsidenten übernimmt, eine realistische Chance, die Zusammenarbeit in multilateralen Organisationen, wie z.B. der Welthandelsorganisation (WHO), wieder zu stärken. Wie kooperationswillig aber China, das seinen Einfluss in internationalen Organisationen im Jahr 2020 schrittweise weiter ausgebaut hat, wirklich sein wird und unter welchen Vorzeichen dies geschieht, muss sich zeigen. Je stärker Chinas Macht wächst und es sich als Gegenmodell zur westlich liberalen Demokratie und Marktwirtschaft etabliert, desto schwieriger wird es für europäische Staaten und die EU, ihr eigenes Modell zu schützen, das beim Gesundheitskrisenmanagement und der wirtschaftlichen Erholung China nachsteht. Dabei muss in den Blick genommen werden, dass China seinen technologischen Überwachsungsstaat im Schatten der Covid-Krise weiter ausgebaut hat – und weiter exportiert. Im Technologiebereich besteht aus europäischer Sicht größtes Interesse an einer globalen Regelsetzung, die nicht nur liberale Demokratien vor digitalem Autoritarismus schützt, sondern auch vor der Macht privater digitaler Monopolisten.
Deutschland und die EU müssen ihren Handlungsspielraum ausbauen, um vorausschauend und nachhaltig international mitzugestalten
Die multilaterale Zusammenarbeit kann sich zwar 2021 intensivieren – getrieben durch die Pandemie, die globale Rezession und die Klimakrise. Doch gleichzeitig könnten sich die Beziehungen zu Staaten wie insbesondere China stärker ausdifferenzieren: Kooperation im Klimabereich, Systemkonflikt in Bereichen wie Menschenrechte und Regulierung von Technologie. Deutschland und die EU werden sich im ersten Halbjahr 2021 positionieren müssen, wie nah und wie verbindlich sie sich an die Seite der USA stellen. Denn der Machtkampf der beiden Großmächte dürfte sich auch unter Präsident Biden verschärfen.
Aufgaben für 2021
Im Frühjahr 2020 schrieben wir gemeinsam mit drei anderen europäischen Think-Tanks an die Chefs der Planungsstäbe in den Außenministerien unserer jeweiligen Länder: „Die Covid-19-Krise birgt dramatische neue Risiken für europäische Länder, Institutionen und Gesellschaften. Der internationale Kontext könnte noch feindseliger werden. Der innenpolitische und wirtschaftliche Druck, der auf den Regierungen lastet, könnte sie zu kurzfristigen Reaktionen treiben, die langfristig erhebliche negative Auswirkungen haben werden. Wir müssen darüber nachdenken, wie sich die unmittelbare Politik im Laufe der Zeit auswirken könnte, während wir uns die Zukunft vorstellen, die wir wollen, und wie wir dorthin gelangen.“
Im Frühjahr 2021 wird sich die Lage aus europäischer Sicht nur bedingt besser darstellen. Die zwei wichtigsten Verbesserungen sind eine resilientere EU, die erneut in einer Krise bewiesen hat, dass sie Fehler korrigieren kann und ein verlässlicherer US-Präsident Biden, der bereit ist, in multilateralen Zusammenhängen und einem engen transatlantischen Verhältnis konstruktiv zusammen zu arbeiten.
Das eröffnet die Chance, die großen durch Covid-19 aufgerissenen Fragen gemeinsam zu diskutieren: etwa die zur Resilienz unserer Demokratien, unser Verständnis öffentlicher Güter, unser künftiges Wirtschaftsmodell und die Frage, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten von Pandemien sowie technologische und ökologische Transformation garantiert werden können. Für Deutschland und Europa stellt sich parallel dazu die Frage, wie es seinen eigenen Handlungsspielraum in der Perspektive künftiger oder anhaltender Krisensituationen ausbauen und wie es vorausschauend und nachhaltig international mitgestalten kann. Prioritär bleiben eine Verringerung der Abhängigkeiten, der Schutz und die Entwicklung eigener Machtressourcen und die Stärkung des inneren Zusammenhalts und der Wettbewerbsfähigkeit.