DGAP-Analyse zu Rückkehr und Abschiebungen von Migranten aus Deutschland

Trotz wiederholter Gesetzesverschärfungen lebt heute eine Viertelmillion Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland, doppelt so viele wie 2013. Nur wenige verlassen tatsächlich das Land: Im Jahr 2019 reisten rund 13.000 Personen freiwillig aus; etwa 22.000 Menschen wurden abgeschoben. Jede zweite Abschiebung scheitert.

In einer jetzt neu erschienenen Studie erläutert die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), warum so wenige ausreisepflichtige Menschen Deutschland verlassen und gibt zehn Handlungsempfehlungen für eine effizientere und menschlichere Rückkehrpolitik.

„Politiker lasten die Schuld an dieser Situation oft vorschnell und einseitig den nicht ausreisenden Migranten oder ihren Herkunftsländern an, doch viele Probleme sind in Deutschland hausgemacht,“ resümiert Victoria Rietig, Leiterin des Migrationsprogramms der DGAP. Rietig hat gemeinsam mit ihrer Kollegin Mona Lou Günnewig die Analyse „Deutsche Rückkehrpolitik und Abschiebungen: Zehn Wege aus der Dauerkrise“ verfasst.

Rietig und Günnewig zeigen die zentralen Probleme bei Rückkehr und Abschiebungen auf:

  1. Scheitern von Abschiebungen: Laut Politikern und Medienberichten scheitern Abschiebungen oft daran, dass Menschen sich entweder wehren oder gar selbst verletzen oder daran, dass die Herkunftsländer nicht kooperieren. Die Zahlen aber sprechen eine andere Sprache: Nur etwa 5 Prozent der Abschiebungen scheitern am Widerstand der Abzuschiebenden und jeweils weniger als 0,1 Prozent an Selbstverletzungen oder der Weigerung des Zielstaats die Person aufzunehmen. Mehr als 9 von 10 Abschiebungen scheitern hingegen laut Regierungsstatistik an „Stornierung“ und „nicht erfolgter Zuführung“. Doch dies sind Gummikategorien, die wenig aussagekräftig sind und kein Urteil zulassen, ob die Verantwortung für das Scheitern bei deutschen oder ausländischen Stellen liegen. Auch wie oft Menschen untertauchen, um sich der Abschiebung zu entziehen, ist statistisch nicht belegbar.
  2. Überhöhte Erwartungen an die freiwillige Rückkehr: Die freiwillige Rückkehr ist politisch und gesellschaftlich beliebter als Abschiebungen, weil sie menschlicher und dazu noch kostengünstiger ist. Aber trotz hoher Investitionen bleiben die Zahlen freiwilliger Rückkehrer relativ niedrig. Das liegt zum einen daran, dass gute und erreichbarer Beratung für Rückkehrwillige nicht immer gegeben ist. Zum anderen sinkt die Zahl williger Rückkehrer umso mehr, je unsicherer, ärmer und unfreier ihr Heimatland ist. Irak und Afghanistan sind mittlerweile die Hauptherkunftsländer der Ausreisepflichtigen in Deutschland. Das Potential für die freiwillige Rückkehr in diese Länder ist begrenzt.
  3. Überkomplexe Strukturen: Die Rückkehrpolitik ist ein föderaler Flickenteppich, in dem Hunderte von staatlichen Akteuren uneinheitlich vorgehen, was den Eindruck befördert, Entscheidungen seien unfair und es würden „immer die Falschen abgeschoben“. Dazu kommt, dass vier von fünf Ausreisepflichtigen im Besitz einer Duldung sind, die ihnen bescheinigt, dass Deutschland sie zumindest zeitweise nicht abschieben kann - die Ausreisepflicht ist also eher theoretische Pflicht als praktische Verpflichtung.

Die Autorinnen des DGAP-Berichts schlagen zur Lösung dieser Probleme zehn Maßnahmen vor. Das Ziel: die Rückkehrpolitik in Deutschland einheitlicher und menschlicher, aber vor allem ehrlicher zu machen. 

  1. Bund und Länder sollten die Verantwortlichkeiten der Rückkehrpolitik strukturell reformieren. Erstens sollten die Bundesländer Rückkehrzuständigkeiten stärker bündeln und entsprechende Stellen finanziell und personell adäquat ausstatten, um einheitlichere Entscheidungen und Prozesse zu ermöglichen. Zweitens sollte das Training von Vollzugsbeamten, die Abzuschiebende transportieren, zentralisiert auf Bundesebene angesiedelt werden, um sicherzustellen, dass alle Beamten eine vergleichbare und qualitativ hochwertige Ausbildung erhalten, bevor sie im menschenrechtlich sensiblen Bereich der Abschiebung tätig werden.
  2. Bundes- und Landesakteure (wie das BMI, das BAMF, die Bundespolizei, das ZUR und die Landesregierungen) sollten aktuelle und vergleichbare Daten zu Rückkehr erheben und sie der Öffentlichkeit nutzerfreundlicher zugänglich machen. Alle Akteure sollten darauf hinarbeiten, vergleichbare Zahlen zur geförderten Rückkehr vorzulegen, und die Frage klären, woran Abschiebungen tatsächlich im Einzelnen scheitern. Insbesondere sollten sie die unklaren Kategorien „Stornierung“ und „nicht erfolgte Rückführung“ aufschlüsseln, an denen mehr als neun von zehn Abschiebungen scheitern.
  3. Bund und Länder sollten die Zahl und Dauer der Duldungen reduzieren. Der Staat sollte einerseits in Fällen, in denen er die Ausreisepflicht über lange Zeit nicht vollziehen kann, stärker die Möglichkeiten nutzen, Betroffene in einen regulären Status zu überführen (Wege aus der Duldung). Andererseits sollte er die Durchsetzung der Ausreisepflicht bestimmter Gruppen priorisieren. Eine ausgewogene Strategie sollte also auf den zwei Pfeilern von Regularisierung und Rückkehr aufbauen.
  4. Bund und Länder sollten einheitliche und verbindliche Qualitätsstandards der Rückkehrberatung etablieren, um das Potenzial freiwilliger Rückkehr zu stärken. Dazu gehört eine verpflichtende Ausbildung für Berater und eine langfristigere finanzielle Ausstattung von staatlichen und freien Beratungsstellen.
  5. Der Bund sollte ein effektiveres System zur Beobachtung von Abschiebungen etablieren. Das derzeit nur punktuelle Monitoring und die internen Beschwerdemechanismen sind unzureichend. Der Bund sollte eine unabhängige staatliche Stelle schaffen, um Abschiebungen flächendeckend zu beobachten. Eine neutrale Ombudsperson sollte darüber hinaus individuelle Hinweise auf Rechtsbrüche bei Abschiebungen sammeln und überprüfen.
  6. Deutschland sollte in der Zusammenarbeit mit Herkunftsländern strategischer vorgehen. Die Entscheidung, mit welchen Ländern Deutschland die Rückkehrkooperation priorisiert, sollte auf fundierten Analysen fußen statt darauf, wo „die Tür offensteht“. Positive Anreize für Kooperation sind wichtig, aber Deutschland sollte auch rote Linien definieren, deren Überschreiten negative Folgen nach sich zieht.
  7. Bund und Länder sollten Rückkehr- und Reintegrationsprogramme nachhaltiger gestalten. Der Fokus sollte auf Sach- statt Geldleistungen liegen und auf Jobbeschaffung statt nur Ausbildung. Monitoring von Rückkehrern sollte Standard sein, ebenso wie die Zusammenarbeit mit schon früher ausgereisten Rückkehrern, die oft glaubwürdiger sind als offizielle Stellen.
  8. Politiker und andere Multiplikatoren sollten Kosten und Nutzen neuer Abschiebehaftplätze belegen können, bevor sie den weiteren Ausbau fordern. Statt die geringe Anzahl von Haftplätzen zu beklagen, sollten sie das relevantere Kriterium, nämlich die wesentlich höheren jährlichen Haftkapazitäten, zu Rate ziehen und prüfen, wie weit diese tatsächlich ausgelastet sind. Im Wissen um die hohen finanziellen und menschlichen Kosten von Abschiebehaft sollten zudem pragmatische Alternativen zur Haft verstärkt diskutiert und genutzt werden.
  9. Die Bundesregierung sollte das Konzept der Anker-Einrichtungen kritisch überprüfen. Bisher fällt der Nutzen bescheiden aus (geringfügige Verkürzung des Asylverfahrens), die finanziellen und menschlichen Kosten jedoch hoch (Gewalt, Isolation).
  10. Die deutsche Gesellschaft, also Medien, Politiker und andere Multiplikatoren, sollten rhetorisch abrüsten. Die Debatte um Rückkehr und Abschiebungen ist geprägt von Emotionen, Moral, Angst und Vorwürfen. Wir brauchen eine größere gesellschaftliche Wertschätzung der Menschen, die im Bereich Rückkehr arbeiten – sei es auf Seiten der Behörden oder der Zivilgesellschaft. Denn das Thema Rückkehr wird auf Jahrzehnte hinaus in der politischen Debatte Deutschlands relevant bleiben.

Rietig und Günnewig fordern eine Versachlichung der Diskussion von Rückkehr und Abschiebungen: “Rückkehr darf nicht länger Schmuddelthema sein, sondern muss als das anerkannt werden, was es ist – ein essenzieller und legitimer Teil funktionierender Migrationspolitik.” 

Die von der Stiftung Mercator geförderte Studie basiert auf knapp 30 Interviews, die Rietig und Günnewig zwischen Juli 2019 und Mai 2020 führten. Einblicke in die Praxis erhielten die Autorinnen bei Vor-Ort-Recherchen in zwei Abschiebehafteinrichtungen und einem Anker-Zentrum in Bayern. Außerdem nahmen sie als Beobachterinnen an einer Ausbildung der Bundespolizei teil, die Beamte auf Abschiebeflüge vorbereitet.

Anmerkungen für die Redaktionen

Die DGAP-Analyse „Deutsche Rückkehrpolitik und Abschiebungen: Zehn Wege aus der Dauerkrise“ ist am 26.05.2020 hier erschienen

Die Autorinnen

Victoria Rietig ist Leiterin des Programm Migration der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik



Mona Lou Günnewig ist Programmmitarbeiterin der DGAP

 

Grafiken

In der Anlage finden Sie Grafiken folgende Grafiken:

  • Gründe für das Scheitern von Abschiebungen
  • Ausreisepflichtige nach Herkunftsländern

Gerne stellen wir Ihnen diese und weitere Grafiken auch in offenen Formaten zur Verfügung.

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Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) forscht und berät zu den aktuellen Themen und Trends der deutschen Außenpolitik. Als unabhängige, überparteiliche und gemeinnützige Experten- und Mitgliederorganisation prägt sie seit 65 Jahren die außenpolitische Debatte in Deutschland und trägt zur internationalen Vermittlung deutscher Politik bei. Sie bietet ihre Expertise in Publikationen, Berliner und regionalen Veranstaltungen sowie im direkten Dialog mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft an. www.dgap.org