Mit einer so deutlichen Mehrheit für die AKP hatte kaum jemand gerechnet. Wie erklären Sie diesen deutlichen Wahlausgang?
Laura Lale Kabis: Zunächst ist wichtig zu sagen, dass selbst die AKP über diesen klaren Wahlsieg – aktuelle Hochrechnungen kommen auf über 49 Prozent – überrascht ist. Die Partei hat sich im Wahlkampf getreu dem Motto präsentiert „Wer Stabilität und Sicherheit will, muss AKP wählen“. Diese Strategie ist aufgegangen. Besonders die harte Linie gegenüber der PKK hat viele Wähler der rechtsnationalistischen MHP abgeworben. Viele MHP-Anhänger waren nach der Wahl im Juni enttäuscht über die fehlende Koalitionsbereitschaft der MHP-Führung. Der Wechsel prominenter Parteifiguren wie Tuğrul Türkeş, Sohn des MHP-Mitbegründers Alparslan Türkeş, zur AKP hat die Entscheidung vieler MHP-Wähler, nun für die AKP zu stimmen, noch verstärkt.
Aber auch viele konservative Kurden, die noch im Juni für die HDP gestimmt hatten, sind zur AKP zurückgekehrt. Sie waren enttäuscht darüber, dass die HDP sich nicht noch deutlicher von der Gewalt der PKK distanziert hat. Und schlussendlich hatten viele Wähler den Wunsch nach klaren Verhältnissen und Stabilität. Ein ähnliches Wahlergebnis wie bei den Wahlen im Juni hätte zunächst einmal weitere Unsicherheit bedeutet. Es war also insgesamt vor allen Dingen ein Votum für Stabilität.
Kontinuität oder Kurswandel – was bedeuten diese „klaren Verhältnisse“ nun für die Türkei?
Laura Lale Kabis: Das hängt zum großen Teil davon ab, wie die AKP mit ihrem Wahlsieg umgehen wird. Klar ist, dass Erdoğan seine Macht mit dem deutlichen Sieg dieser Wahl weiter gefestigt sieht. Für die von ihm angestrebte Verfassungsänderung reicht der Erfolg aber noch nicht unmittelbar: Die AKP liegt aktuellen Hochrechnungen zufolge bei 316 Sitzen im Parlament. Für eine Verfassungsänderung sind mindestens 367 Sitze erforderlich. Um ein Referendum anstoßen zu können, fehlen noch mindestens 14 Stimmen (330 Sitze im Parlament).
Insbesondere Ministerpräsident Davutoğlu unterstrich nach der Wahl das Bestreben der AKP, eine Regierung für alle sein zu wollen, die essenzielle Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit schützt. Dies sind momentan nur Lippenbekenntnisse, die einen signifikanten Kurswandel besonders in Bezug auf den zunehmend autokratischen Führungsstil Erdoğans voraussetzen würden. Das dies geschehen wird, scheint mir wenig realistisch. Ich halte es daher für wahrscheinlicher, dass Erdoğan seinen autokratischen Stil fortsetzt und es demokratische Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit weiterhin schwer haben werden.
Die Opposition beklagt einen unfairen Wahlkampf. Stimmt der Vorwurf?
Laura Lale Kabis: Ein fairer Wahlkampf nach westlichem Verständnis war dies mit Sicherheit nicht. Das liegt zunächst an der starken Einschränkung der Pressefreiheit, die sich in den Wochen vor der Wahl zugespitzt hat und die in Razzien und der Schließung mehrerer kritischer Sender gipfelte. Auch die Sendezeiten im staatlichen Fernsehen TRT waren sehr ungleich verteilt.
Parallel dazu hat es immer wieder Angriffe auf oppositionelle Parteibüros, auf regierungskritische Demonstranten und kritische Journalisten gegeben. Die Verunsicherung in der Bevölkerung über öffentliche Meinungsäußerungen ist dadurch sicherlich gewachsen. Dennoch ist die Wahl selbst nach jetzigem Kenntnisstand friedlich verlaufen.
Was bedeutet der Wahlsieg der AKP für den Kurdenkonflikt?
Laura Lale Kabis: Das ist eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Frage. Wünschenswert wäre in jedem Fall eine Deeskalation des Konflikts. Viele Beobachter haben in der Eskalation der letzten Monate vor allem eine Wahlkampfstrategie der AKP und Präsident Erdoğans gesehen, um besonders die Stimmen aus nationalistischen Lagern für sich gewinnen zu können. Nach dem nun klaren Wahlergebnis und dem starken Bedürfnis vieler Wähler nach Sicherheit und Stabilität wäre eine erneute Annäherung an die Kurden denkbar. Es kann aber genauso gut sein, dass die AKP das Wahlergebnis als Bestätigung ihrer harten Linie interpretiert und diesen Kurs fortsetzen wird.
Welchen Einfluss hat das Wahlergebnis auf die Verhandlungen in Brüssel?
Laura Lale Kabis: Erdoğan wird durch das Wahlergebnis gestärkt in die kommenden Gespräche mit der EU gehen. Er wird versuchen, diese neugewonnene Kraft zu seinem Vorteil zu nutzen. Für Deutschland und die EU bedeutet dies einen schwierigen Balanceakt. Auf der einen Seite ist die Türkei ein wichtiger Partner – besonders in der Flüchtlingsfrage, aber auch mit Blick auf den anhaltenden Konflikt in Syrien und in Bezug auf wirtschaftliche Kooperation. Gespräche mit der Türkei sind dadurch sehr wichtig. Auch wenn klar ist, dass ein EU-Beitritt der Türkei auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, sind die Wiederaufnahme der Gespräche und ein bedachtes Vorantreiben der Beitrittsverhandlungen wichtig. Nur mit diesen Schritten kann die EU Einfluss auf die Türkei zurückgewinnen und damit eine demokratische Entwicklung des Landes bestärken. Die EU ist auf eine Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage angewiesen. Die EU-Partner müssen jedoch aufpassen, dass diesem pragmatischen Ziel zuliebe nicht ihre Ansprüche an die Einhaltung grundlegender Normen und Werte wie die Einhaltung der Menschenrechte und Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit geopfert werden.