Wohin steuert Viktor Orbán Ungarn?
In Deutschland, wo man eine politische Kultur des Konsenses gewohnt sei, falle es schwer zu akzeptieren, dass die ungarische Partei Fidesz eine verfassungsgebende Zweidrittelmehrheit erlangen konnte, sagte Mráz. In Ungarn sei eine Konsenspolitik zwischen mehreren politischen Kräften, wie sie in Deutschland praktiziert werde, nicht möglich. Hierzulande herrsche zudem Unwissenheit über Ungarn und seine Geschichte. Man müsse aber die Umstände der Wende von 1989/90 kennen, um Orbáns Politik zu verstehen. Der ungarischen Führung wiederum warf Mráz Ignoranz Deutschland gegenüber vor. Man habe sich an die jahrelange, quasi natürliche Allianz gewöhnt und nun keinen Dialog gesucht. Dies habe zu Missverständnissen geführt. Derzeit nehme die Regierung aber eine Kurskorrektur vor.
Daniel Hegedűs widersprach vehement: „Konsensdemokratie funktioniert auch in Ungarn.“ Es habe sie bereits früher gegeben. Und selbst eine mit Zweidrittelmehrheit regierende Partei könne den Ausgleich mit anderen Akteuren suchen. Fidesz sei aber schichtweg nicht an einem Dialog mit der Opposition interessiert, lasse ihr kaum Handlungsraum und habe den Weg der Konsenssuche bewusst verlassen. Allerdings müsse sich auch die Opposition ein stärkeres Profil geben, um die Menschen zu erreichen. Wahrnehmbare Gegenkräfte formierten sich bislang hauptsächlich als Protestkultur auf der Straße und in der Zivilgesellschaft.
Negative Zwischenbilanz
Viktor Orbáns derzeitige Politik bezeichnete Hegedűs als ein Chaos-Szenario, das sowohl von Pragmatismus (Umbau zur Konsolidierung der Wirtschaft) als auch von Ideologie (konservativer Wandel der Gesellschaft) geprägt sei. Orbán habe dabei als Pragmatiker angefangen, sei nun aber Gefangener seiner eigenen Ideologie. Hegedűs beurteilte insbesondere die unberechenbare Wirtschaftspolitik und die rechtliche Unsicherheit in Ungarn als schwere Belastung für das Land. Das schrecke die so dringend benötigten Investoren ab.
Spannungen zwischen Budapest und Brüssel
Das Verhältnis Ungarns zur Europäischen Union, in dem es in den vergangenen zwei Jahren so viel Reibung gegeben habe, sei eigentlich frei von grundsätzlichen Differenzen, so Mráz. Orbán sei nicht EU-feindlich, er vertrete lediglich ein intergouvernementales Verständnis der EU und kein supranationales. Allerdings dürfe man nicht ignorieren, dass 2011 56 Prozent der Ungarn unzufrieden mit der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU waren, ein deutlicher Zuwachs gegenüber den Vorjahren.
Daniel Hegedűs begründete diese Ablehnung vor allem mit der Unfähigkeit Ungarns, von der EU-Mitgliedschaft wirtschaftlich zu profitieren. Die nationale Wirtschaft sei nicht wettbewerbsfähig und Fidesz habe die antieuropäischen Stimmungen bewusst aufgegriffen, um sie innenpolitisch zu instrumentalisieren.
Eingeschränkte Demokratie
Sámuel Mráz erwiderte auf kritische Fragen aus dem Publikum, dass Ungarn nach wie vor eine Demokratie sei. Fidesz erhielt 67,9 Prozent der Mandate und damit den Auftrag der Bevölkerung zur Veränderung. Die Wahl von Fidesz sei eine ganz bewusste Entscheidung des Volkes gewesen. Auch die Verfassungsänderungen hätten sich in einem demokratischen Rahmen bewegt und es gebe eine Dialogkultur im Parlament. Es sei möglich, kritische Fragen zu stellen und sogar das ganze System in Frage zu stellen. In zwei Jahren müssten die Ungarn entscheiden, ob Orbán das Land auf den richtigen Weg gebracht habe. Mráz zeigte sich überzeugt, dass die Parlamentswahlen 2014 frei und fair verlaufen würden.
Dagegen zeichnete Daniel Hegedűs ein düsteres Bild: Viktor Orbán habe sich selbst in eine dominante Machtposition manövriert, die Opposition habe keine Freiräume. Der Wirtschaft gehe es miserabel, die Qualität der Gesetzesinitiativen nehme immer weiter ab und die Verfassungsänderungen entsprächen nicht demokratischen europäischen Standards.
Das Gespräch wurde moderiert von Gereon Schuch, Leiter des Zentrums für Mittel- und Osteuropa der Robert Bosch Stiftung. Die Diskussion war der zweite Teil einer Reihe von Veranstaltungen der DGAP mit Ungarnschwerpunkt. In den nächsten Monaten sind weitere Diskussionen zu den Themen Wirtschaftspolitik und Medienpolitik geplant.