Commentary

Mar 16, 2011

Estland und der Euro

Nicht Blender, sondern Vorbild

Im Januar 2011 führte Estland als 17. EU-Mitglied den Euro ein. Insgesamt war das kleine Land disziplinierter und erfolgreicher bei der Einhaltung der Konvergenzkriterien als andere Mitglieder des Euroraums. Kritiker sagen, dass die estnische Regierung ihrer Bevölkerung im Namen der Euro-Einführung zu viele Opfer abverlangt hat. Langfristig aber wird dieses konsequente Vorgehen belohnt werden. Das glauben offenbar auch die Bürger und haben in der Parlamentswahl im März die Regierung bestätigt.

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Die noch nicht abgeschlossene Wirtschafts-und Finanzkrise passt auf den ersten Blick nicht mit der Einführung des Euro in Estland am 1. Januar 2011 zusammen. Tatsächlich ist das kleine Land mit 1,3 Millionen Einwohnern insgesamt disziplinierter und erfolgreicher in der Einhaltung der Konvergenzkriterien als andere Mitglieder des Euroraums wie Griechenland, Portugal oder auch Deutschland. Kritiker glauben, dass die seit 2007 amtierende Mitte-Rechts-Regierung ihrer Bevölkerung im Namen der Euro-Einführung zu viele Opfer zugemutet hat – angesichts ihres harten Reformkurses ist die Arbeitslosigkeit gestiegen und die Binnennachfrage gesunken. Langfristig aber wird Estlands konsequentes und berechenbares Vorgehen belohnt werden. Das glauben auch die estnischen Bürger und haben in der Parlamentswahl am 6. März die Regierung von Premierminister Andrus Ansip bestätigt.

Estlands Aufstieg – Vorbild für Europa

Gerade im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten in Mittel-und Osteuropa kann Estland eine stabile wirtschaftliche Lage vorweisen. Von einem Haushaltsdefizit von 1,7 Prozent und einer Staatsschuld von 7,2 Prozent können andere Länder des Euroraums nur träumen.

Diese Leistungen sind beachtlich, weil die jüngste Wirtschafts-und Finanzkrise das Land sehr hart getroffen hat, so dass es ein sattes Wachstumsminus gab – 2008 von 5,1 Prozent und 2009 von 13,9 Prozent. Erst seit 2010 verzeichnet Estland wieder positive Wachstumsraten. Umso erstaunlicher ist die gute Haushaltsbilanz – möglich durch die liberale Wirtschaftspolitik und den radikalen Sparkurs der letzten Jahre. Estland verfolgt diesen berechenbaren Weg konsequent seit etwa einem Jahrzehnt – auch über Regierungswechsel hinweg – und nicht erst seit der Wirtschafts-und Finanzkrise. Dabei setzte Estland anstelle einer Abwertung der estnischen Krone gegenüber dem Euro, auf eine »innere Abwertung«: Der Reformkurs  schlug sich in der Kürzung von Beamtengehältern und der Arbeitslosenhilfe, sowie einer Lockerung des Kündigungsschutzes und einer Anhebung des Rentenalters nieder. Außerdem ist die Einkommenssteuer mit einem Satz von 21 Prozent als allgemeine »flat tax« angelegt. Auch wenn die estnische Regierung gleichzeitig einige Steuern wie die Umsatzsteuer und die Verbrauchssteuer für Benzin und Tabak erhöhte, sind die Steuersätze in dem baltischen Land vergleichsweise gering. Die konservative Geldpolitik der estnischen Zentralbank flankierte diesen politischen Weg. Schon seit 1992 stand die estnische Krone in einem festen Wechselkurs zur Deutschen Mark und später zum Euro. Technisch hat sich also durch die Euro-Einführung nicht viel geändert. Estland erhofft sich dadurch vielmehr, ausländischen Investoren eine solidere Vertrauensbasis anbieten zu können.

Als Erfolgsgaranten gelten außerdem der vergleichsweise stabile Bankensektor und die Exportorientierung sowie die durch die Vorreiterrolle im Bereich E-Governance begünstigte effektive Verwaltungsstruktur. So hatten bei der Parlamentswahl am 6. März 2011 rund 15 Prozent der Wahlberechtigten von der Möglichkeit des sogenannten E-Votings – der Stimmabgabe über das Internet – Gebrauch gemacht.

Estlands duldsame Bürger

Mit leichten Schwankungen teilen sich die Esten in Befürworter und Gegner der Euro-Einführung in zwei gleich große Lager. Die Kritiker haben vor allem Angst vor weiter steigender Inflation und einem Identitätsverlust, begründet durch den Abschied von der estnischen Krone. Sie gilt als Symbol für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

Trotz der Kritik aus dem eigenen Land haben die radikalen Kürzungen in den sozialen Sicherungssystemen und die höhere Arbeitslosenrate jedoch nicht zu aktiver Gegenwehr aus der Bevölkerung geführt. Wirksame Gegenkampagnen sowie Massendemonstrationen oder -streiks bleiben bis heute aus. Die extremen Einschnitte lassen die Bürger die Ausmaße der Krise verstehen, so dass sie eher bereit sind, starke Einschränkungen auf sich zu nehmen.

Die seit 2007 regierende Mitte-Rechts-Koalition – bestehend aus der liberalen Reformpartei (Eesti Reformierakond – RE) von Premierminister Andrus Ansip und der nationalkonservativen Pro-Patria-und Res-Publica-Union (Isamaa ja Res Publica Liit – IRL) –, die den eingeschlagenen Sparkurs auch nach der Euro-Einführung fortführt und zukünftig von hoch verschuldeten Euro-Ländern eine stärkere Haushaltsdisziplin einfordern will, wurde in den Parlamentswahlen am 6. März 2011 folgerichtig bestätigt. Sie errang 56 der 101 Sitze. Dennoch zeigt sich die gespaltene Haltung der estnischen Bevölkerung auch darin, dass die bis 2009 mitregierende Sozialdemokratische Partei (Sotsiaaldemokraatlik Erakond – SDE), die die im Namen des Haushaltsziels durchgeführten Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme nicht mittragen wollte und aus der Regierung ausschied, für ihre Haltung ebenfalls belohnt wurde: Sie konnte mit 19 Sitzen (2007: 10 Sitze) ihren Anteil im Parlament beinahe verdoppeln.

Trügt der Schein?

Der Anstieg der Inflationsrate scheint zwar weiter eine potenzielle Gefahr: Schon 2007 scheiterten die Esten wegen dieser am Euro-Beitritt und die Europäische Zentralbank (EZB) warnte 2010 im Rahmen der Besiegelung des Beitritts erneut vor einer erhöhten Teuerungsrate – diese liegt momentan bei 5,5 Prozent. Jedoch sieht selbst die EZB die aktuell allgemein hohe Inflation im Euroraum als kurzfristig an und führt diese auf den zwischenzeitlich hohen Stand der Energie-und Lebensmittelpreise zurück.

Auch die von Kritikern des Reformkurses immer wieder ins Feld geführten Arbeitslosenzahlen, die im Rahmen der Krise von 5 auf bis zu 18 Prozent angestiegen waren, befinden sich mittlerweile bereits wieder in fallender Tendenz. Gemessen an den Erfolgen der estnischen Politik muss die seit 2007 fallende Binnennachfrage, auf die die Gegner ebenfalls hinweisen, als notwendiges zeitweiliges Opfer angesehen werden. Sie ist eine Konsequenz der fallenden Löhne, der gestiegenen Inflationsrate, der erhöhten Arbeitslosenzahlen und der hohen Privatverschuldung, verursacht durch billige Kredite.

Die Einführung war richtig!

Trotz aller Kritikerstimmen: Die Einführung des Euros in Estland zum jetzigen Zeitpunkt war richtig. Wenn der Euroraum Regeln aufstellt und ein Partner die Anforderungen erfüllt, muss diese Leistung anerkannt und die versprochene Belohnung zeitnah gewährt werden. Mit der Anwendung dieses erprobten Konditionalitätsinstruments wird der Euroraum seinem Ziel der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit gerecht. Gerade für Staaten wie Polen oder Tschechien ist ein zuverlässig und erfolgreich verlaufender Beitritt Estlands ein ermutigendes Zeichen. Wie der baltische Staat verfügen sie beim Euro qua Beitrittsvertrag nicht über eine Opt-Out-Möglichkeit, sehen aber angesichts der jüngsten Wirtschafts-und Finanzkrise eine Euro-Einführung eher skeptisch.

Die viel beschworene Krise des Euro ist nicht eine des gesamten Euroraums, sondern eine bestimmter Mitgliedstaaten, die bei der Einhaltung der Konvergenzkriterien die Kontrolle verloren haben. Deshalb lohnt es sich, auf Länder wie Estland zu schauen. Dieses kleine Land im Nordosten Europas hat Werte umgesetzt, die für alle Euro-Länder gelten sollten: Eine langfristige Kontinuität und Berechenbarkeit in der Wirtschafts-und Finanzpolitik, auch über Parteigrenzen und Regierungswechsel hinweg, Entschlusskraft bezüglich der Richtung der europäischen Integration sowie daraus resultierende Opferbereitschaft auf Seiten der Bevölkerung.

Bis Estland wieder ein »baltischer Tiger« werden kann, wird es sicher noch einige Zeit dauern. Dabei sollte das Land den eingeschlagenen Weg der Haushaltsdisziplin beibehalten, in innovative Entwicklungen investieren – gerade im Bereich Informationstechnologie – und außerdem die Exporte weiter stärken und diversifizieren. Wichtig ist gleichzeitig, dass die Regierung das Frustrationspotential in der Bevölkerung nicht unterschätzt. In einer Phase starker Einschnitte muss die Perspektive auf langfristige Belohnungen erkennbar bleiben. Der Euro-Beitritt ist dabei ein zentraler Schritt, um die Binnennachfrage zukünftig wieder stärker zu fördern. Unkenrufe wie, dass Estland »das letzte Ticket für die Titanic« löse oder »die kranke Braut« heirate, sollten verstummen, denn am Fortbestand des Euro darf, wenn man die Zukunft der EU im Sinn hat, kein Zweifel sein. 

Bibliographic data

Stern, Ulrike. “Estland und der Euro.” March 2011.

DGAPstandpunkt 2, 16. März 2011, 3 S.

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