Zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Bürger inmitten eines Epochenbruchs einen neuen Bundestag gewählt. Auch die „Einheitswahl“ 1990 stand im Zeichen eines weltpolitischen Umbruchs. Der Zerfall des Sowjetimperiums hatte begonnen, war aber bei weitem nicht abgeschlossen. Ob er gewaltfrei gelingen würde, war nicht absehbar.
Und doch waren Stimmung und Lage damals ganz anders als heute. Eine Art „Zuversicht in Unsicherheit“ hatte die deutsche Bevölkerung damals erfasst. Man wusste nicht, wohin die Reise gehen würde, aber sie würde schon gut enden. Die Deutschen hatten das Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Die Dinge liefen in „unsere Richtung“. Es war der Beginn des Denkens vom „Ende der Geschichte“, des Eintritts in eine Welt, in der man das Vorbestimmte nur noch geschickt administrieren musste, gestützt auf die weltdominierende westliche Allianz. Deshalb war beim Epochenwechsel von 1989/90 die Verunsicherung im Gefühlshaushalt der Deutschen eine sekundäre Größe. Es dominierten Optimismus und Zukunftsgewissheit, zumindest in allen außenpolitischen Fragen.
Im Februar 2025 waren hingegen Irritation, Unglaube und Desorientierung über die außenpolitische Richtung des Landes das unsichtbare Unterfutter der Wahl. Dass eine neue Zeit begonnen hat, dass die Dinge nicht (wie 1989/90) in „unsere Richtung“ laufen; dass keine weltdominierende Allianz hinter uns steht, nicht mal ein einiges Europa, all das wussten die Wähler – und wurden doch damit weitgehend allein gelassen.
Im Februar 2025 waren Irritation, Unglaube und Desorientierung über die außenpolitische Richtung des Landes das unsichtbare Unterfutter der Wahl.
Selten hat sich ein Wahlkampf derart gefährlich abgelöst von den unabweisbaren Realitäten und den drängenden sicherheits- und außenpolitischen Fragen, die es zu lösen gilt. Der Plakatwettbewerb, welche Partei dem Bürger mehr netto auf den Gehaltszettel zaubern würde, mutete angesichts der äußeren Herausforderungen nachgerade grotesk an. Als Entschuldigung darf man den Partei-Eliten nicht durchgehen lassen, die Dimension des Epochenbruchs sei erst in den beiden Wochen vor der Wahl deutlich geworden. Das stimmt bestenfalls oberflächlich. Denn der außen- und sicherheitspolitische Aufgabenzettel der Bundesrepublik ist seit langem geschrieben. Die Dringlichkeit der Umsetzung ist durch die von Donald Trump offenbar betriebene Allianzumkehr nur dramatisch erhöht worden.
So ist die Republik in die bizarre Lage geraten, noch am Wahlabend den zuvor vermiedenen Themen- und Prioritätenwechsel vorzunehmen. Diese Kehrtwende erlebten, quasi in der ersten Reihe, die TV-Zuschauer der klassischen „Berliner Runde“ der Spitzenkandidaten gut zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale. Plötzlich wurde deutlich, dass ab sofort die Zukunftssicherung der Bundesrepublik den Primat der Außen- und Sicherheitspolitik erfordert. Doch die Unausweichlichkeit dieser Erkenntnis geht einher mit dem Unbehagen darüber, dass der Salto vom Wahlabend das Vertrauen in die zentristische Politik nicht gestärkt haben dürfte.
1989 markierte der Fall der Mauer symbolisch den Epochenbruch. 2025 könnte Donald Trumps als „Friedensinitiative“ getarnter Allianzwechsel hin zu Russland einige symbolische Kraft gewinnen, auch wenn dem schon die kraftvolle Ausrufung eines neuen Imperialismus samt diverser vorgestellter territorialer Akquisitionen vorausging.
Solche Symbole sind historisch notwendig, weil sie erlauben, politisches Handeln zu konzentrieren. 1989 benötigte Bundeskanzler Helmut Kohl nach dem Mauerfall ganze 19 Tage, um seinen 10-Punkte-Plan zur Deutschen Einheit im Bundestag zu präsentieren. Er war ein Meisterwerk der Prioritätensetzung, der es vermochte, ein nationales Ziel so zu formulieren, dass eine internationale Einigung darüber möglich wurde, besonders mit den vier Mächten, die noch Mitverantwortung für Deutschland trugen.
Eines ähnlichen Planes bedarf es heute. Inmitten all der Desillusionierung der Deutschen über Donald Trumps Amerika ist nun eine nationale Zielbestimmung des neuen, noch designierten Kanzlers Friedrich Merz notwendig. Sie sollte mindestens die folgenden Elemente enthalten:
- Die Formulierung der deutschen Ziele bei der Unterstützung der Ukraine sowie ihrer Mittel und deren Finanzierung. Das schließt die Frage nach der eventuellen Stationierung deutscher (Friedens)-Truppen ein.
- Die Umrisse eines Programms zur militärischen Selbststärkung der Bundesrepublik, das Ziele, Mittel und vor allem einen Zeitplan enthält. Es muss sich hier um die drastische Beschleunigung bisheriger Modernisierungs- und Ausrüstungspläne zur Herstellung von Verteidigungsbereitschaft handeln. Man mag es im Sprachgebrauch der Ampel „Deutschland-Tempo“ nennen – Hauptsache, es geht schnell.
- Das Bekenntnis, dass sich deutsche Selbststärkung im Geiste von europäischer Partnerschaft und liberalem Internationalismus vollzieht und sich damit fundamental von national inspirierten Plänen von Rechtspopulisten unterscheidet. Europa muss der Zielpunkt der Merz’schen Pläne sein; der künftige Kanzler sollte deshalb deutlich machen, wie deutsche und europäische Selbststärkung ineinandergreifen und was Deutschland für letztere zu tun bereit ist.
- Eine Richtungsweisung zur nuklearen Abschreckung Europas.
- Grundzüge und Ziele von Deutschlands neuer transatlantischer Politik als Folge der amerikanischen Schubumkehr.
Helmut Kohl hatte 1990 nicht einmal seinen Koalitionspartner über den 10-Punkte-Plan ins Bild gesetzt. Das kann Friedrich Merz nicht wiederholen, denn er hat ja noch gar keinen Regierungspartner und ist noch nicht Kanzler. Wartet er bis zur Kanzlerwahl, kann er ein Exzerpt des Koalitionsvertrages zu seinem Plan veredeln; das historische Zeitfenster für eine autoritative Äußerung hätte er aber verpasst.
Deshalb erfordern besondere Zeiten besondere Methoden. Um der Nation und der Welt Orientierung über die Ausrichtung der deutschen Außenpolitik im Epochenbruch geben zu können, wäre eine Art vorgezogene Abstimmung mit dem künftigen Regierungspartner unerlässlich.
Ohnehin muss Olaf Scholz als noch amtierender Kanzler nach Methoden suchen, Merz ab sofort in die wichtigen Dossiers des Epochenbruchs einzubeziehen. Wie das geschehen kann, ist erprobt. Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer hatten 1998 die wichtigste außenpolitische Frage schon vor Aufnahme ihrer Amtsgeschäfte zu klären: Deutschlands Beteiligung am Jugoslawien-Krieg. Beide wurden rechtzeitig und umfassend durch die noch amtierende Regierung informiert. Ein ähnlicher Informations- und Konsultationsmechanismus wird nun notwendig sein, besonders für die Fragen einer Waffenpause in Russlands Ukraine-Krieg.
Nur ein klarer außenpolitischer Kompass – samt sichtbarer Erfolge – kann die Gefahr bannen, dass die Außenpolitik das neue Mobilisierungsfeld der Populisten von links und rechts wird.
Ferner werden die Parteien der Mitte die Innenpolitik der Außenpolitik im Auge halten müssen. Außenpolitik droht, zunehmend zu polarisieren – wie zuvor die Migrationspolitik. Grob gesagt, stehen sich die Parteien der Zeitenwende und die Parteien der Anti-Zeitenwende gegenüber. Letztere dürfen sich durch die Wahl und die Zeitläufte aufgewertet fühlen. Sie glauben sich von Donald Trump verstanden, und der wiederum versteht Russland so wie es sich selbst versteht. Nur ein klarer außenpolitischer Kompass – samt sichtbarer Erfolge – kann die Gefahr bannen, dass die Außenpolitik das neue Mobilisierungsfeld der Populisten von links und rechts wird.