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Nov 06, 2024

Ignorieren zwecklos: Die drei Migrationseffekte der US-Wahl auf Deutschland

US-Memo Migration

Viele Transatlantiker glauben, dass die Migrationspolitik der USA Deutschland und Europa kaum betrifft. Doch das ist falsch. Sie hat drei direkte Effekte auf uns: Sie wirkt nicht nur auf unsere Debatte zum Thema und auf deutsche Staatsbürger, sondern auch auf den Migrationsdruck in Europa und in unserer direkten Nachbarschaft. Deutsche Transatlantiker sollen diesen neuen Trend nicht länger ignorieren und endlich aus ihrem Migrationsschlaf aufwachen.

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Ausgangslage

Für viele Transatlantiker ist Migration noch immer ein Nebenschauplatz der US-Präsidentschaftswahl. Sie mögen zwar wissen, dass jeder fünfte Amerikaner Migration als das wichtigste Thema der Wahl nennt und dass es neben der Wirtschaft das entscheidende Thema ist. Aber sie glauben noch immer, dass die Migrationspolitik der USA Deutschland und Europa kaum betrifft.

Doch das ist falsch. Die Migrationspolitik der USA hat drei direkte Effekte auf Deutschland und Europa, die wir als die „3 Ds“ bezeichnen können: 

  • auf die Debatte zu Migration und Asyl, die wir bei uns führen, 
  • auf Deutsche, die in den USA leben oder als Touristen dorthin reisen, 
  • und auf den Druck der Migrationsbewegungen aus Europas direkter Nachbarschaft. 

Die drei Migrationseffekte: Debatte, Deutsche und Druck

Das erste D, die Debatte, ist der offensichtlichste Effekt. Spricht Donald Trump über Massenabschiebungen und Mauerbau, befeuert das ähnliche Gedanken bei einigen deutschen Politikern, die sich fragen, wieso das nicht auch in Deutschland möglich sein sollte. Auch die Auswirkungen der US-Migrationspolitik auf deutsche Staatsbürger, das zweite D, sind nicht überraschend. Deutsche, die in den USA arbeiten oder studieren, sind direkt von den dortigen Migrationspolitiken betroffen, insbesondere von erhöhten Gebühren und Mehraufwand für ihre Visaanträge. Dass diese aktuell stark ansteigen, liegt auch daran, dass die USA die Kosten ihrer Grenzmaschinerie gegen irreguläre Migration durch Gebührensteigerungen auf legale Migranten umlegen. Das merken auch die ein bis zwei Millionen deutschen Touristen, die die USA jedes Jahr besuchen und dabei die US-Migrationspolitiken am eigenen Leib und Geldbeutel zu spüren kriegen. So weit, so bekannt. 

Doch das dritte D, also die unmittelbare Wirkung von Grenzmaßnahmen der USA auf den Migrationsdruck in und um Europa, ist bei vielen Politikern und Experten in Deutschland noch nicht angekommen. 

Dabei sind die Zahlen klar:  Mehr als 10 Prozent der irregulären Ankünfte, die Grenzbeamte in den USA verzeichnen, sind mittlerweile transkontinental, kommen also nicht aus Lateinamerika, sondern aus Afrika, Asien, dem Nahen Osten, dem Pazifik und Europa. Das ist ein sprunghafter Anstieg, der zeitgleich mit Joe Bidens Präsidentschaft einherging. Wie die Grafik 1 zeigt, waren vor 2022 nur 1 bis 2 Prozent der Ankünfte transkontinental. 

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Neueste Forschung zeigt, dass viele dieser Menschen aus Europas direkter Nachbarschaft stammen. Die fünf Hauptherkunftsländer von irregulär ankommenden Migranten an der US-Südgrenze, die nicht aus der westlichen Hemisphäre stammen, sind seit 2021 Indien, Russland, China, die Türkei und die Ukraine. Ungewöhnlich viele Ankünfte gibt es auch aus Westafrika, etwa aus dem Senegal, Mauretanien und Guinea.

Zwei Faktoren erklären diesen neuen Trend: Zum einen haben Krisen und politische Verfolgung in und um Europa in den letzten Jahren jäh zugenommen. Der Krieg gegen die Ukraine, der die Zahl ukrainischer und russischer Schutzsuchender nicht nur in Europa, sondern weltweit nach oben getrieben hat, zeigt hier genauso seine Folgen wie die wachsende politische Unterdrückung in der Türkei. Die andere langfristig noch wichtigere Entwicklung ist aber, dass die Migrationsroute durch den sogenannten Darién Gap, also den Dschungelpfad, der Süd- und Mittelamerika verbindet, sich seit Kurzem jährlich verdoppelt. Jahrzehntelang galt diese Route von Kolumbien nach Panama als zu gefährlich für massenhafte Migration. Doch Not schafft neue Wege. Wagten sich vor der Corona-Pandemie nur ein paar Tausend Menschen auf diese Route, so waren es 2021 mehr als 100.000, im Jahr darauf 250.000 und 2023 mehr als eine halbe Million. Nicht nur venezolanische Flüchtlinge, auch chinesische, indische, afghanische und Menschen anderer Nationalitäten nutzen diese Route über den Darién Gap zunehmend, indem sie visumsfrei nach Südamerika einreisen und von dort zu Fuß nach Norden wandern.

Die Reaktion der USA auf die massiv steigenden irregulären Ankünfte wird immer harscher: Biden hat das Recht auf Asylantragstellung an der Grenze stark eingeschränkt. Zudem investieren die USA in Migrationsdiplomatie, um visafreie Einreisen irregulärer Migranten nach Lateinamerika zu unterbinden. Zeitgleich haben die USA neue legale Wege geöffnet, insbesondere durch sogenannte „Parole Sponsorship“-Programme und die Sichere Mobilitätsinitiative. Mexiko unterstützt zusätzlich, indem die dortige Migrationsbehörde Migranten nahe der US-Grenze in Busse setzt und tausende Kilometer nach Südmexiko transportiert – von wo aus sie erneut starten können. Diese als Karussell-Politik bekannte Maßnahme zeigt zusammen mit den anderen Instrumenten ihre Wirkung: Seit Januar 2024 sind die irregulären Ankünfte um zwei Drittel gesunken, von mehr als 300.000 im Dezember 2023 auf gerade einmal 100.000 im September 2024. 

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Ignorieren zwecklos: Das Ende des Migrationsschlafs

In Deutschland schauen wir diesen Entwicklungen und der US-Migrationspolitik erstaunlicherweise noch immer zu, als gingen sie uns nichts an. Aber Migrationsdruck ist wie ein Ballon: Drücken wir auf einer Seite, verdrängen wir zumindest zeitweise die Luft auf die andere Seite. Härtere Asyl- und Grenzpolitiken der USA verlagern den Migrationsdruck längst nicht nur zurück nach Lateinamerika, sondern auch in den Rest der Welt – und damit auch zu uns. 

Diese Tatsache gehört endlich aus dem Augenwinkel in den Fokus gerückt. Umso mehr, weil der Wahlausgang sie im Kern nicht ändert. Trump und Harris haben zwar auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Visionen von Migrationspolitik. Trumps Pläne zu Massenabschiebungen kontrastieren mit Harris Bekenntnis dazu, dass Migranten das Land stärken. Doch in einem Punkt sind beide sich einig: Die irreguläre Migration und das Asyl an der Grenze wollen beide weiter einschränken. 

Deutsche Transatlantiker sollten deshalb aus ihrem Migrationsschlaf aufwachen und anfangen, diesen neuen Trend mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu verfolgen. Wer das Verhältnis mit den USA stärken will, muss aufhören, Migration als Nebenschauplatz oder unbequemes innenpolitisches Klein-Klein abzutun und es stattdessen als neues gemeinsames transatlantisches Politikfeld betrachten, das wir aktiv gestalten müssen. Denn Deutschland läuft derzeit Gefahr, dass Migration (wie zuvor Handel und Sicherheit) zu einem weiteren Thema mutiert, das Politiker auf beiden Seiten des Atlantik zunehmend als Nullsummenspiel sehen, und das damit das deutsch-amerikanische Verhältnis be- statt entlastet. 

Um dies zu verhindern, brauchen wir mehr strukturierten Austausch zwischen den USA und Deutschland zu Migration und Asyl. Falls Trump gewinnt, lohnt dieser natürlich eher auf regionaler und vor allem lokaler Ebene. Einzelne Ansätze hierzu gibt es immer wieder, die als Gedankenanstoß dienen können. Falls Harris gewinnt, bieten sich noch mehr Ansatzpunkte. Besonders akut zu empfehlen ist Deutschlands Beteiligung an der Sicheren Mobilitätsinitiative. Spanien, Kanada und Neuseeland sind bereits an Bord. Deutschland darf nicht länger nur auf den Rängen dabei zuschauen, wie neue internationale Migrationskooperationen entstehen, sondern sollte endlich in die Arena steigen, um sie selbst mitzuformen. 

Natürlich werden die Brot-und-Butter-Themen Sicherheit und Handel, die seit Jahrzehnten transatlantisches Denken bestimmen, auch weiterhin zentral bleiben. Aber die Macht des Faktischen zeigt: Migration ist längst Hauptschauplatz. 

Bibliographic data

Rietig, Victoria. “Ignorieren zwecklos: Die drei Migrationseffekte der US-Wahl auf Deutschland .” DGAP Memo 24 (2024). German Council on Foreign Relations. November 2024. https://doi.org/10.60823/DGAP-24-41353-de.
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