Der Startschuss für die Konferenz zur Zukunft Europas sollte ursprünglich am Europatag am 9. Mai 2020 erfolgen. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte als Erster die Idee einer Konferenz zur Vorbereitung einer EU-Reform in Umlauf gebracht. Ursula von der Leyen griff seine Idee auf, um das Europäische Parlament zu besänftigen, das ihrer Ernennung zur Kommissionspräsidentin kritisch gegenüberstand. In ihrer Vorstellungsrede vor dem Parlament forderte sie einen „neuen Schwung für die Demokratie“ und bestätigte, dass die EU-Institutionen eine solche Konferenz organisieren werden.
Unlängst jedoch kündigte die für die Organisation der Konferenz zuständige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Dubravka Šuica, in einem Interview mit der Financial Times an, dass man den offiziellen Start wegen der COVID-19-Pandemie mindestens auf den September verschieben wolle. Eine nachvollziehbare Entscheidung, denn aus rein praktischen Gründen ist es nur schwer vorstellbar, wie ein solcher zweijähriger Reflexionsprozess mit einer umfassenden Bürgerbeteiligung in Zeiten von „Social Distancing“-Maßnahmen und Ausgangsbeschränkungen funktionieren soll. Zudem konzentrieren die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre volle politische Aufmerksamkeit im Moment zurecht auf das unmittelbare Krisenmanagement.
EIN OFFENER PROZESS
Ganz unabhängig vom Starttermin und dem grundsätzlichen Bekenntnis aller drei Institutionen zur Konferenz, bleiben die Einzelheiten bisher ohnehin ungeklärt. Bevor die EU im März in den Krisen-Modus wechselte, waren das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten nicht in der Lage, sich auf die Zusammensetzung, Verfahrensstrukturen und das Mandat der Konferenz zu verständigen. Das Europäische Parlament entwickelte als erste Institution eigene Konzepte für die Konferenz und verabschiedete einen recht ambitionierten Entschließungsantrag, in dem es sich dazu verpflichtete, die Ergebnisse der Konferenz ernsthaft mit Gesetzesinitiativen und möglicherweise Vertragsänderungen weiterzuverfolgen.
Der Entschließungsantrag sieht die Einrichtung einer Plenarversammlung vor. Diese soll sich aus Vertreterinnen und Vertretern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, dem Ministerrat, der Vizepräsidentinnen und -präsidenten der Kommission sowie Vertreterinnen und Vertretern anderer EU-Organe, Gremien und der Sozialpartner zusammensetzen und sich regelmäßig treffen. Parallel dazu sollen Bürgerinnen und Bürger aller Mitgliedstaaten in Bürgerforen in verschiedenen Städten in ganz Europa zusammenkommen. Außerdem sind mindestens zwei Jugendforen geplant. Die Ergebnisse dieser partizipativen Treffen sollen in der Plenarversammlung der Konferenz vorgestellt werden. Ein Lenkungsausschuss und ein geschäftsführender Ausschuss sollen zudem einen reibungslosen Ablauf der Konferenz gewährleisten.
Die Reaktion der Kommission fiel recht verhalten aus. Sie äußerte sich weniger ausführlich zu den Entscheidungsstrukturen der Konferenz und ließ das Thema einer möglichen institutionellen Reform völlig außer Acht. Seitdem sind alle Augen auf den Europäischen Rat gerichtet. Dort zeigten sich die Mitgliedstaaten bisher wenig engagiert, die Idee der Konferenz voranzubringen, und konnten noch nicht einmal einen gemeinsamen Standpunkt formulieren.
Es gibt also mehr Fragen als Antworten. In welchem Umfang werden Unionsbürgerinnen und -bürger den Prozess während der gesamten Laufzeit der Konferenz tatsächlich mitgestalten können? Wie oft wird sich die Konferenz an Interessenträger auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene wenden, um eine möglichst breite Beteiligung und Einbeziehung von Standpunkten zu gewährleisten? Wie kann das Ergebnis der Konferenz in konkrete politische Vorschläge, einschließlich legislativer Initiativen münden? Ist eine mögliche Änderung der EU-Verträge eine gangbare Option?
Angesichts der Tatsache, dass es noch nicht einmal interinstitutionelle Verhandlungen zur Festlegung des Konzepts und des Umfangs der Konferenz gegeben hat, sind die Erwartungen in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen. Und das trotz der anfänglichen Begeisterung und Bemühungen des Europäischen Parlaments, den Stein ins Rollen zu bringen. Noch bevor das Krisenmanagement der Corona-Pandemie alle anderen Themen von der Tagesordnung verdrängt hat, verlagerte sich die Aufmerksamkeit weg von der Konferenz auf andere drängende Themen wie den European Green Deal und die Krise an der griechisch-türkischen Grenze. Sogar in Brüssel, wo das Interesse an derartigen Formaten in der Regel größer als in den Mitgliedstaaten ist, stand das Thema nicht länger ganz oben auf der politischen Agenda.
NEUE IMPULSE GESUCHT
Grundsätzlich verfügt die Konferenz zur Zukunft Europas über großes Potenzial. Sie kann als wichtiger neuer Impuls für die europäische Demokratie dienen, mehr Bürgernähe zur EU schaffen und gleichzeitig auch für Fortschritte bei der Umsetzung der politischen Prioritäten der Union sorgen. Allerdings benötigt sie dafür ein klares Mandat und eine eindeutige Zielsetzung. Ansonsten sind alle guten Absichten zum Scheitern verurteilt und die Gefahr besteht, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in derartige Vorhaben sowie grundsätzlich in die EU sinkt. Schon zu oft gab es fruchtlose ad-hoc aufgesetzte und einmalige Beteiligungsprozesse, die nur vorgegeben haben, den Unionsbürgerinnen und -bürger ein vermeintliches Mitspracherecht in der Debatte über die Zukunft Europas zu geben. Nun haben die EU-Institutionen Gelegenheit, es besser zu machen. Dafür ist eine gründliche Vorbereitung unerlässlich.
Die durch die Verschiebung des offiziellen Auftakts gewonnene Zeit sollte dafür genutzt werden, den Weg für ein Verfahren zu ebnen, das anderenfalls wohl überhastet, unüberlegt und ambitionslos aufs Gleis gesetzt worden wäre. Angesichts der weit reichenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der COVID-19-Krise in der EU wird die Konferenz noch viel dringender als bisher benötigt.
Bereits jetzt haben die Lockdown-Maßnahmen zu einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen in ganz Europa geführt. Eine schwere Rezession zeichnet sich ab. Einmal mehr wird die grenzüberschreitende Solidarität auf die Probe gestellt: die am stärksten von der Krise im Gesundheitssektor betroffenen Länder konnten zunächst nicht auf die Unterstützung ihrer europäischen Partner zählen. Ganz im Gegenteil: diese zogen sich auf ihren Nationalstaat zurück und schlossen ihre Grenzen. Zu viele Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass die EU eine zu geringe Rolle spielte, insbesondere als es um die Koordinierung der notwendigen Einschränkungen und die Verteilung der medizinischen Ausrüstung ging. Alte Konflikte zwischen Nord und Süd sind erneut und in diesem Fall sogar noch ausgeprägter und leidenschaftlicher als bisher aufgebrochen. Und in Ungarn hat sich Premierminister Viktor Orbán die COVID-19-Krise zunutze gemacht, um die Demokratie zu untergraben und seine autokratische Herrschaft noch weiter auszubauen.
MITGLIEDSTAATEN IN DIE PFLICHT NEHMEN
Die Gesundheitskrise hat die Grenzen der europäischen Handlungsfähigkeit aufgezeigt und das Konzept der europäischen Solidarität auf eine harte Probe gestellt. Gleichzeitig treten die bereits vorhandenen institutionellen Defizite noch deutlicher ans Licht. Die Konferenz zur Zukunft Europas wird nicht nur Gelegenheit bieten, das EU-Krisenmanagement einer gemeinsamen Bewertung zu unterziehen und die anfängliche Untätigkeit Europas sowie den reflexartigen Rückzug auf nationale Lösungen gemeinsam zu verarbeiten. Sie kann darüber hinaus auch zu einem Nachdenken darüber anregen, was den eigentlichen Kern der EU ausmachen sollte und wie sie zum Gemeinwohl der Unionsbürgerinnen und -bürgern beitragen kann. Gleichzeitig kann die Konferenz als wichtiges Instrument dienen, um direktes Feedback der Bürgerinnen und Bürger weiterzugeben und daraus die Notwendigkeit bestimmter Reformen herauszufiltern. Das würde – sowohl mit Blick auf institutionelle Reformen, als auch auf politische Inhalte – den Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit in der EU stärken.
Die erste Aufgabe besteht darin, sicherzustellen, dass die Konferenz überhaupt stattfindet. Angesichts der Verzögerung könnten einige Mitgliedstaaten versucht sein, sie vollständig von der politischen Agenda zu streichen. Zumal sich eine Mehrzahl von ihnen ohnehin von Beginn an skeptisch dazu geäußert hatte. Einige Länder zweifeln an der Wirksamkeit eines solchen Vorhabens und fürchten, dass es eine Debatte über die Änderung der EU-Verträge lostreten könnte. Angesichts der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten in den kommenden Monaten voll und ganz damit beschäftigt sein werden, die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu bewältigen, könnten sie vollständig das Interesse daran verlieren, sich in einer solchen Initiative zu engagieren.
Aus diesem Grund sind nun das Europäische Parlament und die europäische Zivilgesellschaft Europa gefragt, die Mitgliedstaaten in die Pflicht zu nehmen und an ihre Zusage zur Konferenz zu erinnern, sodass diese beginnen kann, sobald die Ausgangsbeschränkungen und „Social Distancing“-Maßnahmen aufgehoben werden. Das Europäische Parlament hat mit seiner jüngsten Covid-19 Entschließung bereits eingefordert, die Konferenz schnellstmöglich zu starten. Und auch unter den Mitgliedsstaaten gibt es positive Signale: Eine Gruppe von fünf Ministern für EU-Angelegenheiten aus Österreich, Irland, Griechenland, Bulgarien und Belgien appellierte an ihre Amtskolleginnen und -kollegen, sich zur Konferenz zu bekennen.
Darüber hinaus sollten sich Parlament und Kommission bereits jetzt auf einen gemeinsamen, ambitionierten Ansatz mit Blick auf Mandat und Konferenzprozess verständigen, den es mit den Mitgliedstaaten abzustimmen gilt, sodass die Vorbereitungen für die Konferenz schnellstmöglich abgeschlossen werden können. Die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft könnte zudem einen wichtigen Impuls geben, um eine Einigung zwischen den Mitgliedstaaten zu erzielen und anschließend den Weg für ein interinstitutionelles Abkommen zu ebnen. Ein Kompromiss sollte die beiden folgenden Gesichtspunkte berücksichtigen:
STRATEGISCHE PRIORITÄTEN
Erstens sollte sich der partizipative Aspekt der Konferenz auf vergleichbare Erfahrungen aus der Vergangenheit stützen, wie beispielsweise die im vergangenen Jahr durchgeführten Europäischen Bürgerkonsultationen. Die europäischen Institutionen haben in der Vergangenheit bereits mehrere Anläufe unternommen, um mehr Bürgernähe in der EU herzustellen. Die daraus resultierenden wertvollen Lektionen sollten in die Überlegungen einfließen. Eingebracht werden sollten auch Erfahrungen mit innovativen demokratischen Verfahren auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in ganz Europa, wie beispielsweise der Verfassungskonvent der Bürgerinnen und Bürger in Irland oder der Bürgerrat der deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien. Erfolg erfordert klare Vorgaben und eine eindeutige Kommunikation mit Blick auf das finale Ziel der Konferenz. Nur so kann man auf Erwartungen eingehen, eine Bürgerbeteiligung auf nationaler wie auch auf transnationaler Ebene ermöglichen und im Idealfall einen langfristigen Beteiligungsprozess in Gang setzen, der einen regelmäßigen und dauerhaften Informationsaustausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern, der Zivilgesellschaft und den Abgeordneten jenseits von zeitlich begrenzten, einmaligen Beteiligungsformaten etabliert.
Gleichzeitig sollten sich alle Interessenträger auch der Risiken bewusst sein, die mit der Organisation eines solchen Vorhabens verbunden sind: Euroskeptiker werden eine solche Gelegenheit nur allzu gern dazu nutzen, ihre eigenen Themen in den Vordergrund zu rücken und Kompetenzen auf die nationale Ebene zurückführen zu wollen. Entsprechend sollten sich die pro-europäischen Kräfte auf eine überzeugende Kommunikationsstrategie in allen Phasen der Konferenz vorbereiten, um Falschinformationen widerlegen und Kritik mit glaubwürdigen Antworten begegnen zu können.
Zweitens sollte eine Bewertung der wichtigsten Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die EU und ihre Mitgliedstaaten als Ausgangspunkt für die Konferenz dienen. Allerdings wäre es kurzsichtig, die Konferenz auf eine Debatte über die Gesundheitskrise und eine Reform der europäischen Gesundheitspolitik zu reduzieren. Sie muss sich vor allem auch auf die strategischen Prioritäten der EU konzentrieren, wie den ökologischen Wandel, die digitale Agenda, die Rolle der EU in der Welt sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die sich in der vom Europäischen Rat verabschiedeten Strategischen Agenda der EU 2019-2024 und den Prioritäten der Von der Leyen-Kommission wiederfinden. Darüber hinaus könnte die Konferenz auch eine Möglichkeit darstellen, die EU-Reformdebatte am Leben zu halten. Schließlich wird der politische Fokus vor allem auf der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen liegen während einige Politikbereiche aufgrund langanhaltender Konflikte weiterhin blockiert bleiben.
Mit der Debatte über die strategischen Prioritäten der EU wird auch die Notwendigkeit institutioneller Reformen in den Vordergrund rücken, beispielweise mit Blick auf die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auf weitere Politikbereiche. Außerdem müssen weitere Hürden wie die Reform des Wahlrechts oder das Verfahren zur Ernennung von Spitzenkandidaten angegangen werden. Entsprechend sollten sich alle Institutionen ausdrücklich dazu verpflichten, konkrete finanzielle, rechtliche, institutionelle und politische Reformen sowie – falls notwendig – sogar Vertragsänderungen anzustreben.
Jede Krise birgt auch eine Chance. Der verschobene Start der Konferenz verschafft zusätzliche Zeit. Die Planungen können in die Verlängerung gehen. Nach COVID-19 wird die Notwendigkeit, die EU auf den Prüfstand zu stellen, so groß wie nie zuvor sein. Eine solche Chance sollten die europäischen Institutionen nicht verspielen.