Als Jean-Claude Juncker vor fünf Jahren Präsident der Europäischen Kommission wurde, stand er vor großen politischen Herausforderungen. Deutlich komplexer sind die Aufgaben, vor der seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen jetzt steht.
Wie von der Leyen in ihrer „Agenda für Europa” hervorgehoben hat, ist es eine ihrer Top-Prioritäten, „neuen Schwung für die Demokratie in Europa” zu bringen. Die demokratische Legitimität der Europäischen Union (EU) kann sie über zwei Wege erhöhen. Auf der Output-Seite sollte sie sicherstellen, dass die EU die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger erfüllt – gerade in Zeiten schnellen Wandels und eskalierender externer Konflikte. Auf der Input-Seite sollte sie das Europäische Parlament (EP) durch eine konstruktive Zusammenarbeit stärken und die von ihr angekündigte, breite Debatte über Europa erfolgreich umsetzen.
Das EP, dem die neue Kommission gegenübersteht, ist stärker fragmentiert und polarisierter als in früheren Legislaturperioden. Dies erschwert die Bildung stabiler, proeuropäischer Koalitionen. Um künftig Gesetzesvorhaben verabschieden zu können, ist von der Leyen deshalb auf die Unterstützung der konservativen Europäischen Volkspartei sowie der Sozialdemokraten angewiesen und braucht darüber hinaus auch belastbare und produktive Arbeitsbeziehungen zu Grünen und Linken. Sehr wahrscheinlich wird sie hierfür je nach Themenfeld flexible Kooperationen eingehen müssen. Das ist nicht nur sehr zeitaufwendig, sondern erhöht auch das Risiko, bei besonders umstrittenen Fragen politisch zu scheitern.
Zum ersten Mal in der Geschichte des EPs haben sich nach der vergangenen Europawahl die proeuropäischen Fraktionen – Europäischen Volkspartei, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale – zusammengetan, um ein parteiübergreifendes Programm zu entwerfen. Dieser Prozess geriet zwar ins Stocken, als sie sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten oder Kandidatin für die Kommissionspräsidentschaft einigen konnten und inzwischen ist ein gemeinsamer „Koalitionsvertrag“ der vier Fraktionen wieder vom Tisch. Doch gerade wegen der dadurch zutage getretenen Spannungen sollte von der Leyen das Parlament jetzt möglichst eng in den politischen Prozess einbinden. Ein erster Anknüpfungspunkt hierfür sind etwa die so genannten „Mission Letters“, die sie ihren Kommissionsmitgliedern vor Beginn der Amtszeit zukommen lassen wird. Die darin enthaltenen politischen Prioritäten sollte sie zuvor mit den neu gewählten Vorsitzenden der parlamentarischen Gruppen besprechen.
Um das Parlament zu stärken, sollte die Kommissionspräsidentin ihre Zusage glaubwürdig umsetzen und dem Parlament ein de facto Gesetzesinitiativrecht einräumen. Sie und die weiteren Mitglieder der Kommission sollten sich überdies einem regelmäßigen Dialog mit dem Parlament und seinen Ausschüssen stellen.
Von der Leyen muss sich auf ihr Team verlassen können, um innerhalb des komplexen politischen Gefüges – aus Parlament, Europäischen Rat und weiteren Institutionen – erfolgreich navigieren zu können. Auch für ihre Bemühungen, eine breite europäische Öffentlichkeit in die Debatte über die Zukunft der EU miteinzubeziehen, wird dies ein wesentlicher Faktor sein.
Deshalb muss die Kommissionspräsidentin den interinstitutionellen Beziehungen in ihrem Team genügend Kapazität einräumen, wenn sie die Portfolios der Kommissarinnen und Kommissare zuschneidet.
In der vorherigen EU-Kommission war Vizepräsident Frans Timmermans für die Beziehungen zum EP als Teilbereich seiner vielfältigen Zuständigkeiten verantwortlich. In der neuen Kommission sollte es ein eigenes Portfolio nur für institutionelle Beziehungen und Entwicklungen sowie den Bereich Demokratisierung geben.
Diese Aufgaben sind für den Erfolg der Kommissionspräsidentschaft von Ursula von der Leyen entscheidend. Nur eine erfahrene Politikerin oder ein erfahrener Politiker sollte diese Position übernehmen; idealerweise eine Person, die auf nationaler und europäischer Ebene gearbeitet hat, im Parlament oder im Rat. Wegen von der Leyens Parteizugehörigkeit wäre ein Sozialdemokrat oder eine Sozialdemokratin hier eine gute Wahl. In jedem Fall kommt es darauf an, dass die Person über Parteigrenzen hinweg arbeiten und vermitteln kann.
In enger Zusammenarbeit mit von der Leyen und den Vizepräsidenten wäre diese Kommissarin oder dieser Kommissar für die Beziehungen zum EP und zum Rat für Allgemeine Angelegenheiten verantwortlich und würde gleichzeitig die Zusammenarbeit jedes einzelnen Kommissars mit dem Parlament unterstützen. Ein weiterer Bestandteil dieses Portfolios wäre die Vorbereitung der jährlichen und mehrjährigen Kommissionsprogramme sowie insbesondere der Erklärung zu den jährlichen Gesetzesprioritäten, die die Kommission gemeinsam mit dem Parlament beschließt.
Durch den breiten, politikfeldübergreifenden Fokus dieses Portfolios könnte die Kommissarin oder der Kommissar die Präsidentin bei besonders dringlichen, umstrittenen oder brisanten Themen unterstützen, die große politische Anstrengungen erfordern. Darunter fallen etwa Vorhaben in der Migrationspolitik oder bei der Reform der Eurozone. Genauso könnte die Person sicherstellen, dass neue Initiativen der Innen- und Außenpolitik – von der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur europäischen Nachbarschaftspolitik – kohärent erfolgen.
Schließlich würde der Kommissar oder die Kommissarin eine entscheidende Rolle dabei spielen, eine der Prioritäten umzusetzen, die von der Leyen in ihrer „Agenda für Europa“ skizziert hat: die Konferenz zur Zukunft Europas, die bereits im kommenden Jahr erste Ergebnisse zeitigen soll. Dieses ambitionierte Vorhaben, bei dem öffentliche, zivilgesellschaftliche und EU-Institutionen gleichermaßen beteiligt werden sollen, bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung und Begleitung. Nicht zuletzt, weil von der Leyen hier von Parlament, Rat und Kommission ein gemeinsames Verständnis von Ziel und Umfang des Vorhabens einfordert.
In diesem und anderen Bereichen sind die Herausforderungen für die Kommission und das Parlament höher, als sie es in der vergangenen Legislaturperiode waren. Um für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbare Ergebnisse zu liefern, müssen die politischen Entscheider mit sich sehr rasch wandelnden Rahmenbedingungen umgehen und dem wachsenden externen Druck und internem Euroskeptizismus begegnen. Der rasante technologische Wandel, die Klimakrise oder externe Einflussnahme in der EU machen dies zu einer noch größeren Herausforderung.
Vor diesem Hintergrund ist eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Kommission und Parlament sehr wichtig – und im jeweils eigenen institutionellen Interesse. Gemeinsam sollten beide jährlich die politischen Prioritäten bewerten, um Fortschritte und weiteren Handlungsbedarf festzustellen. Die konstruktive Zusammenarbeit ist umso wichtiger, als die Regierungen mancher EU-Mitgliedstaaten der supranationalen Entscheidungsfindung zunehmend kritisch gegenüberstehen und wachsendes Interesse an Zusammenarbeit in Kleingruppen und intergouvernementalen Formaten haben.
Es wird für die Kommission keine leichte Aufgabe, die Zusammenarbeit mit dem EP reibungslos und produktiv zu gestalten. Möglich ist es aber, wenn sie dieser Aufgabe sehr hohe Priorität beimisst. Genauso wichtig wird es sein, entschieden daran mitzuarbeiten, die breite, öffentliche Debatte, die die neue Kommissionspräsidentin ab Sommer 2020 führen möchte, zum Erfolg zu führen. Darauf muss die neue Kommission ausgerichtet werden, wenn sie ihre eigene Legitimität und die der EU steigern möchte.
Dieser Artikel ist am 9. September zuerst auf Project Syndicate erschienen.