Commentary

May 02, 2019

Runter von der Reservebank

Spanien kann ein starker Spieler in der EU werden – und Deutschland sollte dazu beitragen

Seit der Parlamentswahl ist das Zweiparteiensystem in Spanien endgültig vorüber. Trotz fehlender Mehrheit und des Einzugs der Rechtspopulisten ist eine Regierungsbildung aber durchaus möglich. In Europa sollte Madrid danach eine stärkere Rolle spielen: Wirtschaftliche Stabilisierung, pro-europäischer Konsens und das nachlassende Engagement anderer Mitgliedsstaaten verleihen Madrid mehr Gewicht und neue Chancen. Berlin sollte mit Spanien das Potenzial für die Weiterentwicklung der EU ausschöpfen.

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Konsensfähige Minderheitsregierung: Szenarien für die Regierungsbildung 

Die sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) hat die Wahlen zum spanischen Parlament und Senat klar für sich entschieden, eine eigene Mehrheit jedoch verfehlt, selbst in einer möglichen Allianz mit der linken Unidos Podemos (UP). Weil die Stimmen auch nicht für ein Bündnis aus konservativer Volkspartei (PP), rechtsliberaler Ciudadanos und rechtspopulistischer Vox-Partei reichten, warnten Beobachter schnell vor einer langwierigen Regierungsbildung. Die damit einhergehende Instabilität und Handlungsunfähigkeit wären wenige Wochen vor der Wahl des Europäischen Parlaments vom 23. bis 26. Mai auch aus Sicht Deutschlands und der anderen EU-Mitgliedstaaten ein Risiko. Schließlich müssen spätestens ab dem Herbst in Brüssel entscheidende personelle und programmatische Weichen für die Zukunft der Europäischen Union gestellt werden.

Dennoch bietet der Wahlausgang auch Anlass für vorsichtigen Optimismus. Zwar werden die spanischen Parteien bis zur Europawahl und den zeitgleich stattfindenden Regional- und Kommunalwahlen in Spanien noch vorrangig mit sich selbst beschäftigt sein. Danach könnte es mit der Regierungsbildung jedoch schnell voran gehen. Die PSOE strebt inzwischen offen eine Minderheitsregierung mit wechselnden, themenspezifischen Mehrheiten an. Ein solches Ad-hoc-Bündnis könnte etwa mit der UP und der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) zustande kommen, welche die Partei „Zusammen für Katalonien“ (JxCat) als stärkste Kraft Kataloniens abgelöst hat und in der Sezessionsfrage einen moderateren Kurs vertritt. Um nach den vielen Neuwahlen der letzten Zeit – insgesamt drei in dreieinhalb Jahren – nun für eine Phase der Stabilität zu sorgen, könnte die Opposition eine Minderheitsregierung unterstützen, indem sie sich bei den Abstimmungen bewusst enthält. Dazu hat der spanische Unternehmerverband CEOE die PP und die Ciudadanos Partei bereits aufgerufen. Weiterhin wird es der PSOE helfen, dass sie im Senat jetzt eine absolute Mehrheit besitzt und die Opposition sie bei Gesetzesvorhaben somit nicht mehr blockieren kann. 

Angesichts dieser Konstellationen ist eine Regierungsbildung in Spanien somit trotz der fehlenden Mehrheit für die PSOE durchaus realistisch. In Deutschland sollten Bundestag und Bundesregierung deshalb schon jetzt Initiativen entwickeln, wie sie mit Spanien nach dem Führungswechsel in Brüssel politisch zusammenarbeiten können.

Pro Europa: Einigkeit bei Parteien und Bevölkerung

Wie auch immer sich die spanische Regierung künftig zusammensetzt: Eine starke und handlungsfähige EU wird für sie ein Kerninteresse sein und sie kann sich dabei auf einen breiten pro-europäischen Konsens in Parteien und Bevölkerung stützen. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise vor zehn Jahren haben die Mitgliedschaft in der Eurozone, die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Transferleistungen der europäischen Struktur- und Investitionsfonds für die Spanierinnen und Spanier besondere Bedeutung. Gleichzeitig zeichnet sich in Madrid eine zunehmende Bereitschaft ab, nach dem möglichen Brexit im künftigen EU-Haushalt vom Nehmer zum Geber zu werden – auch, weil dies eine größere Gestaltungskraft mit sich bringen würde.

In der spanischen Bevölkerung genießt die EU nach wie vor breite Unterstützung: Nur 14 Prozent geben in Umfragen an, die EU kritisch zu sehen, jeweils 43 Prozent stehen ihr positiv oder neutral gegenüber. Allerdings hat die Europafrage im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt hat. Hier war der Streit um den Umgang mit der Katalonien-Frage das alles beherrschende Thema. Dieser hat nicht nur zu einem Wiedererstarken des spanischen Nationalismus geführt. Er hat auch die ideologischen Gräben zwischen Links und Rechts noch vertieft, weil die drei oppositionellen Parteien des rechten Lagers kaum ein politisches Thema ausließen, um Premierminister Pedro Sánchez vorzuwerfen, er habe das Land an die katalonischen Separatisten „verraten“. 

Dagegen besteht unter den Parteien in der Unterstützung der EU übergreifend Konsens. Nicht einmal die rechtspopulistische Vox, die insbesondere durch eine geschickte Instrumentalisierung des Themenkomplexes Migration gewachsen ist, trat im Wahlkampf europaskeptisch auf oder forderte gar einen EU-Austritt.

Spanien in der EU: Neue Chancen für ungenutzte Potenziale 

Kurz vor der Europawahl kann sich die neue spanische Regierung somit auf eine überwiegend pro-europäische Einstellung der Bevölkerung und der Parteien berufen. Doch nicht nur deshalb besitzt Spanien ein wichtiges Potenzial für die Weiterentwicklung und Stärkung der EU. Nach einem möglichen Brexit wäre Spanien wirtschaftlich wie demographisch der viertgrößte Mitgliedstaat in der EU – der allerdings bei der Mitgestaltung der EU bislang deutlich unter seinen Möglichkeiten geblieben ist. 

Die neue spanische Regierung hat nun die Gelegenheit, dies zu ändern und als Bindeglied zwischen Süd und Nord stärker gestaltend zu wirken. Grund dafür sind auch die innenpolitischen Entwicklungen einiger anderer großer Mitgliedstaaten: Es ist gut möglich, dass Großbritannien die EU bis zum Oktober verlässt. Zudem fallen Italien und auch Polen mit ihren europaskeptischen Regierungen bis auf weiteres als Integrationstreiber in der Union aus. Auch dem zuletzt etwas ins Stottern geratenen deutsch-französischen Motor der EU könnte ein verstärktes spanisches Engagement für die Integration neuen Antrieb geben.

Auch wirtschaftlich befindet sich Spanien inzwischen auf einem Erholungskurs, obwohl es weiterhin eine hohe Staatsverschuldung (97,1 Prozent des BIP in Q4/2018) und Jugendarbeitslosigkeit aufweist (34,3 Prozent in 2018). Es verzeichnete 2018 ein stärkeres Wirtschaftswachstum als Frankreich und Deutschland (3 Prozent) und konnte seine Gesamtarbeitslosigkeit in den letzten fünf Jahren knapp halbieren (auf 14,1 Prozent in Q1/2019). Mit dieser wirtschaftlichen Konsolidierung trägt Spanien zumindest in Ansätzen auch zur Stabilisierung der Eurozone bei, in welcher es offen für eine Vertiefung des Binnenmarktes und der Bankenunion sowie für eine europäische Arbeitslosenversicherung eintritt.

In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist Spanien einer der Treiber für eine stärkere Zusammenarbeit, etwa in der Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Es unterstützt die Initiative, Beschlüsse künftig schneller mit qualifizierten Mehrheiten zu treffen. Als entschiedener Verfechter des Multilateralismus ist Spanien ein zentraler Partner für mehr europäische Handlungsfähigkeit nach außen. Deutlich wird dies beispielsweise bei Handelsfragen, in der Klimapolitik sowie in Spaniens Rolle als Brückenbauer zu lateinamerikanischen Staaten, etwa als Mittler im Venezuela-Konflikt. Seine traditionell engen Beziehungen nicht nur zu Lateinamerika, sondern auch den Maghreb-Staaten sind ein wesentlicher Beitrag für die EU in ihrer angestrebten Rolle als globaler Akteur.

Auf Madrid zugehen: Optionen für die deutsche Spanien-Politik 

Wirtschaftliche Stabilisierung, Interesse an europäischer Kooperation und ein von der Bevölkerung getragener, parteiübergreifender Konsens für die EU – auch jenseits des Rück- bzw. Ausfalls anderer EU-Mitgliedsländer gibt es somit viele Gründe für eine stärkere Rolle Spaniens in der EU. Berlin sollte daher jetzt aktiv auf Madrid zugehen. Deutschland und Spanien wollen beide die EU stärken, auch wenn die jeweiligen europapolitischen Zielsetzungen, etwa in Bezug auf die Eurozone, zwischen beiden Ländern nicht deckungsgleich sind. Berlin sollte sein Kooperationsinteresse gerade gegenüber einer möglichen Minderheitsregierung zügig deutlich machen – ganz im Sinne von Außenminister Heiko Maas, der im November 2018 „mehr Spanien in Europa“ forderte. 

Im Gegensatz zu Frankreich und auch zu mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten stand Spanien bislang nicht im Fokus deutscher bilateraler Beziehungen. Mittelfristig sollten deutsche Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, Think Tanks und Leitmedien Madrid in Fragen zur Zukunft der EU von Anfang an strategisch mitdenken. Dazu gehört eine Stärkung und Verstetigung bilateraler Kontakte, etwa durch regelmäßige Konsultationen von Parlamentariern und Regierungsvertretern, genauso wie eine grundsätzlich größere gegenseitige Aufmerksamkeit auch abseits politischer Großereignisse wie Parlamentswahlen. 33 Jahre nach dem Beitritt ist die Zeit reif und die Gelegenheit günstig für eine aktivere Rolle Spaniens in der EU. Deutschland sollte dies im eigenen Interesse tatkräftig unterstützen.

Bibliographic data

Richter, Jonas. “Runter von der Reservebank.” May 2019.

DGAPstandpunkt 13, 2. Mai 2019, 3 S.