In einer Zeit, in der die EU von innen wie von außen unter hohem Druck steht, gilt: Das komplexere politische Umfeld macht die bilaterale Zusammenarbeit zur Stärkung Europas einerseits schwieriger und umstrittener, andererseits notwendiger, um die EU gerade in den Bereichen weiterzuentwickeln, an denen sie zu zerbrechen droht. Seit nunmehr einem Jahrzehnt kämpft die EU mit aufeinanderfolgenden Krisen. Nachdem die Finanz-, Banken- und Staatsverschuldungskrisen ab 2008 für wachsende soziale und politische Spannungen innerhalb und zwischen einigen Staaten gesorgt hatten, verursachte die sogenannte Migrationskrise ab 2015 starke neue Verwerfungen zwischen West- und Osteuropa. So ist die Diskussion um die Zukunft Europas kontroverser und politisierter geworden. Wenige Monate vor der Europawahl im Mai 2019 ist die Sorge groß, dass europaskeptische Parteien über stärkere Präsenz im Parlament und über die Entsendung EU-kritischer Vertreter in die Kommission, zusätzlich zu den Regierungsvertretern im Rat und in den Ministerräten, Kooperation und Integrationsfortschritte bremsen. Dabei sind – etwa im Bereich der Migrationspolitik, der inneren und äußeren Sicherheit oder auch der Eurozone – Maßnahmen nötig, um den unvollständigen Integrationsstand der vergangenen Jahrzehnte zu komplettieren, damit die EU weiterhin Stabilität, Prosperität und Schutz bieten kann.
Unterschiedliche Auffassung zur Eurozone
Seit der Regierungsbildung in Berlin im März 2018 hat die deutsch-französische Zusammenarbeit an Fahrt gewonnen, auch wenn Präsident Macron über ein halbes Jahr auf eine Antwort auf seine europapolitische Rede an der Sorbonne im September 2017 warten musste. Der deutsch-französische Gipfel in Meseberg am 18. Juni 2018 war eine wichtige Etappe der bilateralen Kompromissfindung, etwa im Bereich der Eurozone. Berlin und Paris wollen nun dafür arbeiten, dass die Bankenunion vollendet wird und bis 2021 ein Eurozonenhaushalt eingeführt wird, der aus nationalen Beiträgen, Steuereinnahmen und europäischen Mitteln auf mehrjähriger Basis zusammengesetzt werden soll. Darüber hinaus soll der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) weiterentwickelt werden.
Die Vorschläge balancieren sichtlich deutsche und französische Interessen aus, etwa indem neben die Stärkung fiskalischer Instrumente und des Rettungsmechanismus Maßnahmen treten, die nationale Eigenverantwortung und Kontrollmechanismen stärken. Doch hinter dem Kompromiss zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, Marktlogik und politischer Handlungsnotwendigkeit bestehen Auffassungsunterschiede über die Funktionsweise der Eurozone fort.
Weil sich die französische, nachfrageorientierte deutlich von der deutschen, angebotsorientierten Perspektive unterscheidet, schätzt Macron die Bedeutung eines Eurozonenbudgets als relevanter ein, die deutsche Regierung lehnt derweil Transfermechanismen ab. Eine breitere Verständigung über die für einen gemeinsamen Währungsraum notwendigen Instrumente muss weiter erarbeitet werden.
Verbessert hat sich die Chance auf eine deutsch-französische Verständigung indes dadurch, dass Macron einen umfassenden Reformanspruch hat und die Steigerung der Innovationskraft, Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft priorisiert. Andere EU-Staaten blicken kritisch auf den deutsch-französischen Kompromiss, etwa die acht nord- und osteuropäischen Staaten, die sich in einem offenen Brief im Sommer 2018 unter anderem gegen ein Eurozonenbudget ausgesprochen haben.
Für eine Stärkung von Frontex
In der EU-Migrationspolitik treten Berlin und Paris für eine Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ein. Sie befürworten die Schaffung einer europäischen Agentur zur Koordinierung der Asylpolitik und wollen die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern ausbauen. Gleichzeitig soll ein faires System der Lastenteilung und Flüchtlingsaufnahme implementiert werden, ein Vorstoß, der in Mittel-Ost-Europa auf Skepsis stößt.
Auch die Außen- und Sicherheitspolitik der Union wollen Berlin und Paris stärken, etwa durch die Einführung eines Europäischen Sicherheitsrats und Mehrheitsentscheidungen in der GASP. Darüber hinaus wollen sie die europäische Koordinierung in UN-Angelegenheiten vorantreiben, was sich 2019/20 anbietet, wenn Deutschland einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehat.
Prioritär ist überdies die Entwicklung der Verteidigungspolitik, doch Auffassungsunterschiede bremsen Fortschritte, etwa beim Aufbau militärischer Fähigkeiten. Trotz der gegenseitigen Unterstützung in Mali, Nordafrika oder Syrien unterscheiden sich die strategischen Kulturen beider Staaten. Am sichtbarsten wird dies in der Bedeutung, die Militäreinsätzen im Vergleich zu zivilen Ansätzen zugeschrieben wird.
Im Bereich der Rüstungskooperation sind Fortschritte am wirkungsvollsten, wenn sich beide Staaten gemeinsam einbringen: Derzeit sind allerdings Hürden zu überwinden, etwa bezüglich der tatsächlichen Bereitschaft zur langfristigen, bilateralen Kooperation in Schlüsselsektoren, der industriepolitischen Herangehensweise und der verschiedenen Haltungen zu Rüstungsexportkontrollen. Darüber hinaus unterscheiden sich beide Staaten in der Frage, in welcher Form und welchen Gruppen am besten zusammengearbeitet werden soll. Für Frankreich steht die pragmatische Zusammenarbeit in kleinen, flexiblen und vor allem reaktionsfähigen Gruppen im Vordergrund, mit dem Ziel, Operationen wirksam durchführen zu können. Derweil verfolgt Deutschland einen inklusiven Ansatz und eine Einbettung in den EU-Rahmen, um Spaltungen zu verhindern.
Zeichen setzen vor der Europawahl
Auch bei der Vertiefung der Eurozone ist Frankreich gewillter als Deutschland, mit nur dieser Gruppe aus 19 Staaten voranzugehen. Auf deutscher Seite überwiegt das Interesse, eine Spaltung im Binnenmarkt zwischen Eurozone und Nichtmitgliedern zu vermeiden. Wenn die EU angesichts ihrer internen und externen Herausforderungen weiterentwickelt werden soll, dann am besten mit einem starken Führungsduo zwischen Berlin und Paris. Der Europäische Rat im Dezember 2018 ist der richtige Moment, um vor den Europawahlen ein Zeichen zu setzen, dass die EU die Sorgen der Bevölkerung und Kritik an der EU ernst nimmt, ohne die Idee populistischer Rhetorik zu opfern.
Ein deutsch-französischer Kompromisskatalog, der in den Gipfel eingebracht werden soll, ist ein richtiges Signal. Allerdings ist die Aufgabe sehr groß, andere EU-Regierungen und Öffentlichkeiten an Bord zu holen, ebenso wie Kritiker im eigenen Land zu überzeugen. Berlin misst der Aufgabe, gerade auch EU-skeptische Regierungen wie in Mittel- und Osteuropa einzubeziehen, eine größere Bedeutung zu, als Paris dies tut. Beide Regierungen müssen diese Aufgabe annehmen.