Past Publications

Feb 12, 2014

Das gemeinsame Potenzial nutzen

Die deutsch-russischen Beziehungen brauchen einen Neustart

Am 14. Februar war Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf Antrittsbesuch bei seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow. Das deutsch-russische Verhältnis wurde in den vergangenen Jahren von vielen Streitthemen und Misstönen belastet. Aber beide Länder brauchen einander in wichtigen internationalen Fragen – und verfügen über genügend Gemeinsamkeiten für eine gute Kooperation. Ewald Böhlke wirft einen Blick auf den Zustand der deutsch-russischen Beziehungen und fordert einen Neustart.

PDF

Share

Woran krankt das deutsch-russische Verhältnis zurzeit?

Die Beziehungen leiden unter einer eigentümlichen Schieflage. Auf der einen Seite hat sich die zivilgesellschaftliche, außenpolitische und wirtschaftliche Vernetzung zwischen beiden Ländern in einem Maße entwickelt, wie sie kaum jemand beim Zusammenbruch der Sowjetunion erwartet hätte. Hunderttausende Menschen aus Russland leben und arbeiten in Deutschland. Umgekehrt sind tausende Deutsche in Russland. Zahlreiche Unternehmen tauschen nicht nur Waren aus, sondern erweitern ihre Beziehungen über viele Ebenen der Wertschöpfungskette. Man diskutiert über Werte und Interessen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede – gelebte Globalisierung im besten Sinne des Wortes.

In scharfem Kontrast dazu stehen die plakativen medialen Debatten in beiden Ländern. Abstrakt kritisieren oder verteidigen Medienbeiträge die Reorganisation staatlicher Kontroll- und Machtbefugnisse in Russland gegenüber Minderheiten und Oppositionsgruppen als Renaissance des Autoritären oder Wiederherstellung des zaristischen Reichsgedankens. Viele dieser neuen Gesetze sind mehr als zweifelhaft.

Aber man sollte auch auf den Zustand der westlich orientierten Opposition einen differenzierten Blick werfen. Deren Wandlungsprozess ließe sich sehr schön unter der Überschrift „Von Andrei Sacharow zu Pussy Riot“ zusammenfassen, also von einer politischen Bewegung mit Veränderungswillen, die tief in die russische Gesellschaft eingebettet war, hin zu einer medialen Aufmerksamkeitsgruppe.

Diese Art der medialen Verarbeitung einzelner Fragen ist eine echte Belastung für die deutsch-russischen Beziehungen. Beide Seiten müssen sich nun dringend wieder der Sacharbeit zuwenden und sich dazu aufraffen, sinnvolle Veränderungen gemeinsam voranzubringen – angefangen auf der politischen Ebene.

Dazu sollte der Besuch Frank-Walter Steinmeiers ein erster Schritt sein. Es braucht nichts weniger als einen veritablen Reset. Politisches Vertrauen muss wieder an die Stelle des Austauschs abstrakter Gegensätze à la Ost versus West oder: dort Autokratie, hier Demokratie treten. Solche Dichotomien werden den heutigen vielfältigen Austauschbeziehungen nicht mehr gerecht.

Stattdessen gilt es, eine neue Dynamik des gegenseitigen Zuhörens, Lernens und der Kritik zu entfachen und gemeinsame internationale Handlungsfelder abzustecken.

Könnte die Ukraine ein Testfall für diese neuen Gemeinsamkeiten werden?

Es liegt im deutschen und russischen Interesse gleichermaßen, die Stabilität des ukrainischen Staates zu gewährleisten, auch wenn man über das Prinzip der „Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten“ unterschiedlicher Meinung ist. Dieses Interesse beruht auf den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der mörderischen Konflikte dieser Zeit, als mit dem Zusammenbruch des Habsburger und des zaristischen Reiches von staatlicher Ordnung kaum noch die Rede sein konnte, sondern die Region sich in einem Zustand von „Bloodland“ befand , wie es Timothy Snyder beschreibt.

Jetzt müssen daher rechtzeitig Wege aus der Eskalationsdynamik gefunden werden. Um die Krise in der Ukraine und um die Ukraine, mit all ihren Schwierigkeiten und wechselseitigen Verurteilungen, zu überwinden, braucht es des Kompromisses. Russland und Deutschland engagieren sich auf vielfältige Weise. Mehr Abstimmung würde gut tun. Ein erster praktischer Schritt wäre eine Abstimmung bei den internationalen Finanzhilfen für den völlig maroden ukrainischen Staat. 

Russland hat sich mit Milliardenprogrammen engagiert und wird ein Interesse daran haben, seine Kredite zurückzubekommen. Gleichzeitig bereiten die Vereinigten Staaten, der IWF und die EU entsprechende Finanzhilfen vor. Alle Seiten sollten sich dabei auf gemeinsame Finanz- und Rechtsstandards verständigen und so Reformen in der Ukraine fördern. Ein Gegeneinander oder gar ein Bieterwettbewerb aber würde dieses Land ins Chaos stürzen und die Ideen von Europa diskreditieren.

Wie lässt sich im syrischen Bürgerkrieg zusammenarbeiten?

Russland hat mit seinen Initiativen zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen und zum politischen Dialog zwischen den verfeindeten Gruppierungen im Jahr 2013 beachtliche außenpolitische Erfolge erzielt. Um solchen ersten Schritten zur Konfliktbeilegung eine entsprechende Nachhaltigkeit zu verleihen, braucht Russland die internationale Gemeinschaft.

Auch hier können deutsche und russische Interessen eng miteinander verzahnt werden. Im Bereich der Abrüstung besteht bereits ein breites Spektrum gemeinsamer Erfahrungen – eine wichtige Voraussetzung, um auch in Syrien erfolgreich wirken zu können. Deutschland hat mit seinem Angebot, bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen mitzuwirken, einen großen Schritt getan. Russland weiß um die die Leistungsfähigkeit entsprechender deutscher Technologien und Produktionsstätten.

Beide Seiten sind zudem daran interessiert, Saudi-Arabien, den Iran und die Türkei stärker in den Prozess der Deeskalation und in die Herbeiführung eines Waffenstillstands einzubinden. Diese Regionalmächte sollten mehr Verantwortung für einen Friedensprozess in Syrien übernehmen, zumal sie durch die Unterstützung von militärischen nichtstaatlichen Gruppierungen bereits involviert sind.

Was können Berlin und Moskau in der Iran-Frage ausrichten?

Breiten Raum wird in den nächsten Monaten der Umgang mit den Sanktionen gegenüber Teheran einnehmen. Noch besteht nur ein erster Ansatzpunkt für eine friedliche Integration Irans in die Weltgemeinschaft. Die Charmeoffensive der jetzigen iranischen Regierung ist sicher hilfreich, um weitere Schritte folgen zu lassen. Doch sollte der tiefe politische Graben nicht übersehen werden, der in den vergangenen Jahren entstanden ist.

Auch wenn das iranische Atomprogramm nachweisbar nur friedliche Absichten verfolgen sollte, erfordern die vielfältigen Machtverschiebungen im Mittleren Osten, die ungeheure militärische Aufrüstung im konventionellen Bereich oder der feindselige Umgang mit Israel die volle Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft. Die gesamte Region gleicht zurzeit mehr denn je einem Pulverfass, das durch seine unterschiedlichen Konfliktherde unter ständiger Explosionsgefahr steht.

Russland ist an seiner Südgrenze direkt in verschiedene Konflikte involviert. Zugleich sorgt es sich darum, den Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan auszugleichen und sucht gemeinsam mit anderen, regionalen Partnern nach Möglichkeiten, die sicherheitspolitische Stabilität dort wenigstens einigermaßen aufrechtzuerhalten. Deutschland und der Europäischen Union ist sehr am Erfolg dieser Bemühungen gelegen, zumal Zentralasien eine Schlüsselrolle bei den Bemühungen der Europäer spielt, ihre Energieversorgung weiter zu diversifizieren.

Wo kann Deutschland im eurasischen, ehemals sowjetischen Raum über die Ukraine hinaus noch hilfreich sein?

Das Beispiel der Ukraine zeigt, wie schnell eine Krise eskalieren kann. Dieses Potenzial haben auch einige der sogenannten „eingefrorenen Konflikte“, die scheinbar wie Blindgänger unter dem eurasischen Eis liegen und dringend entschärft werden müssen. Transnistrien, Bergkarabach, der Nordkaukasus und Georgien heißen die wichtigsten von ihnen – die Liste ist lang, aber die Bemühungen der letzten Jahre, ob durch die Minsker Gruppe oder die Gespräche in Genf haben bislang zu keinem Durchbruch geführt.

Sowohl Russland als auch die Europäische Union können sich die fast schon als lethargisch zu bezeichnende Befassung mit diesen Krisen nicht länger leisten. Neue Initiativen, die kraftvoll politisch vorangetrieben werden, sind erforderlich. Entsprechende europäisch-russische Konsultationen sind überfällig.

Die Entschärfung dieser Konflikte könnte auch die Perspektive einer Wirtschaftsregion von Lissabon bis Wladiwostok mit Leben erfüllen, wie sie die OZSE-Vereinbarung vom Ende der Neunzigerjahre und die spätere Initiative des russischen Präsidenten Dimitrij Medwedjew vorsah.

Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, differenzierter auf die von Russland geführte „Eurasische Wirtschaftsunion“ und die „Zollunion“ zu blicken. Deren Kern besteht bekanntlich darin, nach dem Modell der EU eine gemeinsame Gerichtsbarkeit und die entsprechenden Normen für Produktgestaltung und -haftung zu entwickeln. Zwar ist das Handelsvolumen zwischen den drei Kernländern der Wirtschaftsunion – Russland, Belarus und Kasachstan – noch vergleichsweise gering. Aber gleichzeitig sollten die enormen Vorteile nicht übersehen werden, die dieser eurasische Markt für Unternehmen aus der EU bietet.

Der Idee einer Integrationsgemeinschaft völlig zuwider läuft allerdings der Missbrauch der Wirtschaftsunion durch Moskau als regionales Herrschaftsinstrument. Den Nachbarländern Handelskonflikte aufzudrängen, ist eher Ausdruck traditioneller Nullsummenstrategien. Sie mögen kurzfristig erfolgreich wirken, doch mittel- und langfristig sind solche Strategien  kontraproduktiv. Es sind diese Umgangsformen, die alte Ängste über das Wiedererstehen früherer Reichsmodelle und imperialer Verhaltensweisen erzeugen.

Auf der Suche nach langfristigen erfolgreichen Strategien können Deutschland und die EU Unterstützung bieten, da sie beide Erfahrung im Dialog zwischen großen und kleinen, starken und schwachen Ländern haben, der auch für die Staaten Osteuropas und Zentralasiens immer bedeutsamer wird. Eine Kultur des offenen Dialogs und der Suche nach Kompromissen zwischen Staaten könnte gerade im Rahmen der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ wahrhaft innovativ wirken.

Bibliographic data

Böhlke, Ewald. “Das gemeinsame Potenzial nutzen.” February 2014.

Fünf Fragen, 12. Februar 2014