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Sep 01, 2013

Zwischen Führung und Frust: Frankreichs Europapolitik

Die Skepsis der Franzosen gegenüber der EU wächst, die Handlungsmöglichkeiten der Pariser Regierung schwinden

Ideengeber, Impulsgeber, Führungsmacht – so sieht Frankreich seine Rolle in der EU gern. In der französischen Bevölkerung allerdings wächst seit den Neunzigerjahren das Misstrauen gegenüber Brüssel. Viele Franzosen sind heute der Meinung, dass die EU-Integration ihren Sozialstaat gefährdet. Claire Demesmay über die Bedeutung der EU für den zweitgrößten Mitgliedstaat, über die französische Europapolitik und die europakritische Debatte in unserem Nachbarland.

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Zur Europäischen Union (EU) hat Frankreich ein paradoxes Verhältnis. Einerseits haben französische Regierungen immer schon den Anspruch auf eine politische Führungsrolle in Europa gehabt: Paris präsentiert sich nicht nur als Vermittler zwischen den oft entgegengesetzten Interessen der Nord- und Südländer, sondern sieht sich auch gern als Ideen- und Impulsgeber für die europäische Integration. In diesem Zusammenhang messen französische Entscheidungsträger der deutsch-französischen Kooperation große Bedeutung bei. Bisher ist es Frankreich nur mit Deutschland zusammen gelungen, diese Rolle wahrzunehmen und europäische Großprojekte, wie die Währungsunion und die Freizügigkeit im Schengen-Raum, in die Wege zu leiten.

Andererseits wächst die Europaskepsis in der französischen Bevölkerung seit den 1990er-Jahren, und stärker noch seit der großen EU-Erweiterung im Jahr 2004: Immer mehr Franzosen fällt es schwer, sich mit dem europäischen Kurs zu identifizieren. Dass dieses Misstrauen gegenüber der EU in einem Gegensatz zum europapolitischen Führungsanspruch der französischen Elite steht, hat spätestens das Referendum vom Mai 2005 gezeigt. Die Ablehnung der Verfassung für Europa durch eine Mehrheit der Franzosen – und wenig später der Niederländer – hat die Union damals in eine politische Krise geführt und nicht zuletzt auch Frankreichs Handlungsspielraum innerhalb der EU bis zur Einigung über den Verfassungsvertrag zwei Jahre später stark verringert.

Die europäische Integration als "Machtmultiplikator"

Das europäische Projekt galt in Frankreich von Anfang an als Chance, sich wieder mit einer gewissen Größe auf internationalem Parkett bewegen und den nationalen Einfluss ausweiten zu können: Nach dem Zweiten Weltkrieg war Frankreich, wie auch seine europäischen Nachbarn, ein angeschlagenes Land, das im Schatten der beiden Supermächte des Kalten Krieges stand. Außerdem hatte es durch den Verlust seiner Kolonien viel an internationalem Einfluss und Macht verloren. Auch, dass der deutsch-französische Freundschaftsvertag von 1963 einige Monate nach der Unabhängigkeit Algeriens, Kernstück des französischen Kolonialreichs, unterschrieben wurde, ist kein Zufall: Angesichts des drohenden Bedeutungsverlusts wurde die europäische Integration als potenzieller "Machtmultiplikator" wahrgenommen. "Frankreich erhofft sich durch Europa seine Wiedergeburt, Deutschland seine Erlösung", formulierte 1992 der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski zugespitzt, aber treffend. Seit der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 gehört dieser Gedanke zum politischen Tenor und ist für alle französischen Regierenden die wichtigste Begründung für die eingeschlagene europapolitische Richtung.

Auch wenn man sich inzwischen in Paris von Großmachtvorstellungen distanziert hat, sehnt man sich noch immer nach einem "Europe puissance", das "in der Lage ist, seine Rolle in der internationalen Politik zu spielen", wie Präsident Chirac (1995–2007) das französische Wunscheuropa einst beschrieben hat. Aus Pariser Perspektive setzt der Aufbau eines Europas, das Weltpolitik betreiben kann, unter anderem voraus, dass die EU eine eigene, von den NATO-Strukturen unabhängige Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt – unter der Bedingung damit nicht die außen- und verteidigungspolitische Autonomie Frankreichs infrage zu stellen. Doch darüber streiten Deutsche und Franzosen schon seit Jahrzehnten, ohne sich im Geringsten anzunähern: Während die einen aus historischen Gründen für Zurückhaltung und Zivilaktionen plädieren, setzen die anderen, die eine lange Tradition des Interventionismus pflegen, auf ein selbstbewusstes Auftreten in der Sicherheitspolitik. So wirft Frankreich seinem deutschen Partner zum Beispiel regelmäßig vor, zu wenig Mittel für den Verteidigungsetat aufzuwenden und in Krisensituationen nicht reaktionsfähig genug zu sein, insbesondere wenn es um Auslandseinsätze geht. In naher Zukunft ist keine Annäherung in Sicht.

Ein intergouvernementaler Ansatz

Nicht nur in Bezug auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik projiziert Frankreich seine eigenen nationalen Traditionen und Leitbilder auf die Europapolitik. Bei den Themen Organisation und internes Entscheidungssystem der Europäischen Union greift dieser Mechanismus ebenfalls. Entsprechend dem Wunsch, den eigenen Einfluss zu erhöhen, beziehungsweise zu bewahren, hat sich unser Nachbar stets für ein intergouvernementales Modell ausgesprochen, denn es ermöglicht ihm, seine Autonomie zu bewahren. Zugleich steht es im Gegensatz zu Deutschland, das herkömmlicherweise eine supranationale Regierungsform mit starken EU-Institutionen bevorzugt. Ohne die Legitimität der Kommission und des EU-Parlaments infrage zu stellen, versuchen die französischen Entscheidungsträger immer wieder, die Macht dieser Institutionen zugunsten der Mitgliedstaaten zu begrenzen. In dieser Konstellation übernehmen die großen Länder, darunter Frankreich, eine bestimmte Verantwortung. Dementsprechend betonen die Franzosen auch die Rolle des Rates der EU, insofern als er die nationalstaatlichen Kräfteverhältnisse innerhalb der Union widerspiegelt und daher den Einfluss der großen Mitgliedstaaten steigert.

Dagegen wird die Europäische Kommission gern in den Hintergrund gedrängt. Grundsätzlich gilt: Die EU-Mitgliedstaaten sollen ihre Souveränität zwar untereinander teilen, sie jedoch nur begrenzt an supranationale Institutionen abgeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich das französische Beharren auf eine "Wirtschaftsregierung" erklären, das alle Regierungen jenseits des Rheins seit der Einführung der Währungsunion parteiübergreifend aufrechterhalten; dabei sind sie immer wieder auf den Widerstand anderer Mitgliedstaaten, in erster Linie Deutschlands, gestoßen. Mit der Institutionalisierung regelmäßiger Treffen der Finanzminister der Eurozone will Paris ein Gegengewicht zur mächtigen Europäischen Zentralbank (EZB) schaffen. Dabei will es erreichen, dass die Entscheidungsmacht zum großen Teil in den Händen der Regierungen der Eurozone bleibt. Zugleich geht es aber auch darum, das Primat der Politik vor der Wirtschaftsexpertise der EZB zu bewahren. Dass die politischen Entscheidungsträger die Zügel der Wirtschaftspolitik in der Hand halten, ist ein Grundprinzip der politischen Kultur Frankreichs, das ebenfalls durch die Forderung nach einer europäischen Industriepolitik und der Schaffung von so genannten "europäischen Champions", d.h. von bedeutenden europäischen Unternehmen nach dem Vorbild von EADS, zum Ausdruck kommt.

Besorgnis um den Sozialabbau

Seit den 1990er-Jahren bröckelt auf der anderen Seite des Rheins der "permissive Konsens" um die europäische Integration: Nach jahrzehntelanger wohlwollender Gleichgültigkeit erheben sich aus der Gesellschaft immer mehr Stimmen gegen den Kurs der EU. Seit dem Ende des Kalten Krieges und der Beschleunigung der Globalisierung, die in Frankreich immer wieder Argwohn hervorruft, wird die Union mit wirtschaftlicher Liberalisierung und unfairer Handelskonkurrenz in Verbindung gebracht. Infolgedessen steht sie in Teilen der Bevölkerung für die Gefährdung des sozialen Systems, eines der Eckpfeiler der nationalen Identität Frankreichs. Schon 1992 haben die Gegner des Maastrichter Vertrags die Wahrnehmung Europas als reinen Markt angeprangert: Sie befürchteten, dass der neue Vertrag den wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungsspielraum der Mitgliedsländer verringern und somit deren Sozialstandards aufweichen würde. Diese Sorgen und Unsicherheiten spielten auch 2005 eine zentrale Rolle in der Debatte um die EU-Verfassung und trugen maßgeblich zum Scheitern des Referendums bei. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand damals die Figur des "polnischen Klempners", ein Symbol für das Sozialdumping, das man befürchtete und mit den neuen EU-Mitgliedern aus Ost- und Mitteleuropa in Verbindung brachte.

Als Reaktion auf diese Kritik bemühen sich die Befürworter der europäischen Integration, die EU als geeignetes Schutzschild – sei es real oder gewünscht – in Zeiten der Globalisierung darzustellen und sprechen sich demnach für den Aufbau eines "sozialen Europas" aus. Dass Themen der Sozialpolitik auf der europäischen Agenda stehen, ist nicht selten französischen Regierenden zu verdanken. Ein Beispiel hierfür ist die Forderung Hollandes nach einer schnellen Freigabe von europäischen Geldern, um Stellen für junge Europäer zu schaffen, die er im Rahmen einer deutsch-französischen Initiative gegen Jugendarbeitslosigkeit im Frühjahr 2013 vorgebracht hat.

Derzeit ist zwar nach wie vor ein Großteil der französischen Bevölkerung davon überzeugt, dass ihr Nationalstaat den besseren Rahmen zur Verteidigung des Sozialstaates bietet. Dennoch bleibt der Anspruch, durch die EU mehr Sicherung zu erlangen, ein Leitmotiv des französischen Europadiskurses. So traten während des Europa-Wahlkampfs im Sommer 2009 alle politischen Parteien, im linken wie im konservativen Lager, für ein "Europe protection" ein – in erster Linie im Bereich der Sozialpolitik, aber auch auf der Ebene der Umweltpolitik, der Energiesicherung und der Terrorbekämpfung. Aufgrund der Schulden- und Wirtschaftskrise wird das Thema wahrscheinlich auch bei der Europawahl 2014 eine große Rolle spielen.

Den Schock des Referendums um die EU-Verfassung überwinden

Dass ein Großteil der französischen Entscheidungsträger und Intellektuellen einen solchen Diskurs führt, zeugt nicht zuletzt vom kollektiven Schock, den die Ablehnung der EU-Verfassung 2005 in der politischen Klasse Frankreichs ausgelöst hat. Alle bürgerlichen Parteien waren damals in zwei Lager geteilt, aber die Sozialistische Partei (PS) war mit Abstand am stärksten betroffen. Der Streit zwischen Gegnern und Befürwortern der Verfassung ging bis in die Spitze der PS und führte sogar zur Gründung einer Linkspartei nach dem Vorbild der deutschen DIE LINKE. Nach dem Referendum ist bei den Sozialisten das ohnehin schwierige Europathema zum Tabu geworden: Damit Ruhe in die gespaltene Partei einkehrt, wurden in Bezug auf Europapolitik nur noch vage Formulierungen verwendet, die die unterschiedlichen Flügel zufrieden stellen sollten. Auch Hollande hatte als Kandidat im Präsidentschaftswahlkampf 2012 versucht, widersprüchliche Forderungen unter einen Hut zu bringen. So hatte er die Verankerung der Schuldenbremse, der sogenannten "goldenen Regel", in der Verfassung abgelehnt, gleichzeitig aber stets an Haushaltsdisziplin appelliert. Unter anderem mit dieser Strategie des Ausbalancierens ist es ihm zwar gelungen, die Wahl zu gewinnen. In seiner Partei sind dennoch Meinungsverschiedenheiten bestehen geblieben – wie übrigens auch bei den Konservativen, die in Bezug auf Europathemen längst nicht einer Meinung sind.

Kann es dem Präsidenten unter diesen Bedingungen gelingen, einen endgültigen Schlussstrich unter den Referendums-Schock zu ziehen und ein neues Kapitel der Europapolitik aufzuschlagen? Hollande ist bisher vorsichtig geblieben und tritt für die "solidarische Integration" ein, die mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten als Gegenleistung für weitere Souveränitätsabgaben an die EU vorsieht. Auf einer Pressekonferenz am 16. Mai 2013 ging der überzeugte Europäer jedoch einen Schritt weiter und plädierte für die Schaffung einer politischen Union in den kommenden zwei Jahren. Im Mittelpunkt steht dabei die Etablierung einer Wirtschaftsregierung für die Eurozone um unter der Führung eines hauptamtlichen Präsidenten die Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten zu koordinieren. Nach Hollandes Vorstellungen soll die Eurozone mittelfristig über ein eigenes Budget verfügen und Anleihen ausgeben können – eine Forderung, die Deutschland bis jetzt immer abgelehnt hat. Ob dieser Kurs ausreichen wird, um die Widersprüche der französischen Europa-Visionen aufzuheben und die Bevölkerung mit der europäischen Integration zu versöhnen, wird sich spätestens bei der Europawahl im Mai 2014 zeigen.

Literatur

Chaigneau, Clémentine / Seidendorf, Stefan (2012), Frankreich in der Europäischen Union, in: Adolf Kimmel / Henrik Uterwedde (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, S. 336–353.

Demesmay, Claire / Marchetti, Andreas (2010), Frankreich ist Frankreich ist Europa: Französische Europa-Politik zwischen Pragmatismus und Tradition, DGAPanalyse Frankreich.

Heumann, Hans-Dieter (2005), Multipolarität und "Europe puissance". Auch die Europäer reden des Öfteren aneinander vorbei, Internationale Politik 4, April 2005, S. 116–123.

Schild, Joachim (2008), Französische Europapolitik in einer verunsicherten Gesellschaft. Soziale Identitäten, europapolitische Präferenzen und Europadiskurse seit den 1980er Jahren, Arbeitspapiere zur Europäischen Integration.

Bibliographic data

Demesmay, Claire. “Zwischen Führung und Frust: Frankreichs Europapolitik.” September 2013.

Bundeszentrale für Politische Bildung, Dossier Frankreich, 26. August 2013

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