Die NATO-Raketenabwehr ist unverzichtbar

Der Fall Syrien zeigt, wie schnell Situationen eskalieren können. Syrien verfügt bereits über Kurzstreckenraketen, die die Türkei erreichen können. Die Nato-Raketenabwehr ist dringend notwendig - notfalls auch gegen russischen Widerstand.

Braucht die Nato tatsächlich ein Raketenabwehrsystem zur Verteidigung des Bündnisgebiets? Sollen sich die Europäer an diesem Projekt maßgeblich beteiligen? Und sollte ein solches Projekt gegen russische Widerstände durchgesetzt werde? Die Antworten sind drei Mal Ja. Warum werden diese Fragen also erneut gestellt? Weil immer noch der breite Konsens fehlt, der dem Nato-Projekt seine langfristige Zukunft sichert. Kritiker stellen den Nutzen eines Raketenabwehrsystems in Frage und bemängeln, dass auch eine Raketenabwehr keine hundertprozentige Sicherheit bieten kann. Sie weisen darauf hin, dass Massenvernichtungswaffen auch auf anderem Wege als mit Raketen ausgebracht werden können und dass die Technologie mit Problemen behaftet sei. Das ist alles richtig – und geht dennoch am Kern der Diskussion vorbei, die wir heute führen müssten.

Es ist richtig, dass Raketenabwehr keine hundertprozentige Sicherheit bietet – aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Wenn der Einschlag einer einzigen Rakete auf Nato-Territorium verhindert werden kann, hat Raketenabwehr ihren Nutzen bewiesen. Genauso stimmt, dass Massenvernichtungswaffen auch über andere Wege als mit Raketen ausgebracht werden können – aber lässt man die Tür offen, nur weil der Dieb auch durch das Fenster einsteigen könnte? Und ja, wie bei jeder komplexen technologischen Entwicklung gibt es auch bei der Raketenabwehr Probleme. Solange diese aber den Gesetzmäßigkeiten der Physik folgen, können sie gelöst werden.

Was spricht also für eine Raketenabwehr? Der erste Grund ist die fortwährende Bedrohung durch ballistische Raketen und Massenvernichtungswaffen. Der Fall Syrien zeigt, wie schnell Situationen eskalieren können. Syrien verfügt bereits über Kurzstreckenraketen, die die Türkei erreichen können. Bereits seit Jahren definiert die Nato die Weiterverbreitung ballistischer Raketen und Massenvernichtungswaffen neben dem Terrorismus als größte Gefahr für die Sicherheit ihrer Mitglieder. Eine Gefahr, die immer komplexer wird. Mittlerweile besitzen oder entwickeln 20 bis 30 Staaten Raketen, deren einziger militärischer Nutzen im Transport von Massenvernichtungswaffen liegt. Sie sind nicht nur mobiler, zielgenauer und überlebensfähiger geworden, sondern haben auch höhere Reichweiten.

Gefährlich werden diese Fähigkeiten, wenn sie sich mit feindlichen Absichten paaren. Der Iran ist derzeit das prominenteste Beispiel. Das Land arbeitet seit Jahren an Langstreckenraketen und kann mit seinen Mittelstreckenraketen bereits heute die Südwestflanke des Nato-Gebiets erreichen (etwa Athen). Ein Fortschreiten seiner militärischen Fähigkeiten ist momentan wohl nicht aufzuhalten. Iranische Langstreckenraketen, die mit atomaren Gefechtsköpfen bestückt die USA erreichen könnten, sind mittelfristig realistisch. Die bedrohliche Rhetorik der iranischen Führung gegenüber Israel und einigen NATO-Mitgliedern ist nicht zu überhören.

Ist Raketenabwehr überflüssig, wenn sich die iranische Bedrohung auflösen sollte? Nein, das ist sie keineswegs. Jede Diktatur, die über Raketen und Massenvernichtungswaffen verfügt, gefährdet die Interessen der Nato-Mitglieder. Ob sich diese Gefahr tatsächlich materialisiert, ist ungewiss - das ist nicht der Punkt. Entscheidend ist, dass dieser Fall eintreten könnte. Die Politik hat sich auf diese Situation vorzubereiten. Sie muss die Sicherheit der Bürger bestmöglich schützen und dabei ihre politische Handlungsfähigkeit in Krisensituationen aufrechterhalten. Bisherige Ansätze zur Bekämpfung der Bedrohung durch ballistische Raketen und Massenvernichtungswaffen sind lückenhaft. Staaten wir Nordkorea und der Iran zeigen, dass diplomatische Bemühungen ins Leere laufen können. Aber auch die militärischen Vorbereitungen sind unvollständig. Eine Raketenabwehr kann helfen, diese Lücken zu schließen.

Die Nato-Mitglieder versuchen stets eine militärische Auseinandersetzung abzuschrecken. Raketenabwehr signalisiert, dass ein Raketenangriff nicht zum gewünschten Erfolg führen könnte. Diese Aussicht ist umso abschreckender, wenn etwa der Iran nach einem Raketenabschuss auf die USA ebenfalls mit einem Vergeltungsschlag rechnen müsste. Verteidigung und Vergeltung sind eng miteinander verbunden – und Abschreckung kann erst durch diese Verbindung effektiv sein. Trotzdem können natürlich auch Abschreckungsbemühungen scheitern. So entscheidet etwa die iranische Führung selbst, ob sie abgeschreckt ist oder nicht. Raketenabwehr bietet dann eine Rückversicherung, wenn die Abschreckung versagt. Sollte sich der Iran entscheiden, einen Raketenangriff durchzuführen, kann der Schaden durch ein Abwehrsystem erheblich reduziert, wenn nicht gar vermieden werden.

Bleibt die häufig geäußerte Kritik, die Nato dürfe ihre Raketenabwehrpläne nicht gegen russische Widerstände durchsetzen. Warum eigentlich nicht? Russland ist kein Mitglied der Nato und kann daher kein Veto über die Entscheidungen des Bündnisses beanspruchen – auch kein informelles. Auch die russische Führung scheint die Bedeutung der Raketenabwehr erkannt zu haben und in Anbetracht ihrer eigenen technologischen Rückständigkeit die Umsetzung verhindern zu wollen. Anders können die russischen Forderungen nach gleichberechtigter Teilhabe an der Nato-Raketenabwehr und nach einem völkerrechtlich bindenden Vertrag zur Absicherung der russischen Zweitschlagskapazität kaum erklärt werden.

Es gibt also genug Argumente, mit denen die Nato um Unterstützung für die Raketenabwehr werben kann. Denn nur ein partei- und staatenübergreifender Konsens sichert dem Nato-Projekt auch in Zeiten knapper Kassen eine langfristige Zukunft. Bisher überlagert die Debatte allerdings die Fragen, die wir heute eigentlich debattieren müssten: Wie können Amerikaner und Europäer unter Budgetzwängen gemeinsam eine effektive Raketenabwehr aufbauen? Das amerikanische Engagement für die europäische Sicherheit ist keineswegs in Stein gemeißelt. Bereits jetzt fragen amerikanische Politiker, warum die USA unverhältnismäßig viel in ein Projekt investieren sollten, das sie mit den Europäern gemeinsam umsetzen wollen. Sie haben Recht. Denn gerade die Logik einer Allianz impliziert, dass sich die Europäer maßgeblich an diesem Projekt beteiligen müssen. Die Europäer, allen voran Deutschland, müssen sich überlegen, wie sie die NATO-Raketenabwehr mit eigenen substanziellen Beiträgen ergänzen, um die europäischen Interessen zu schützen. Das ist die eigentliche Debatte, die geführt werden muss.

Svenja Sinjen ist Expertin für Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärpolitik. Sie leitet das Programm „Berliner Forum Zukunft“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Ihr Beitrag erschien auch auf tagesspiegel.de sowie in der Zeitschrift INTERNATIONALE POLITIK (IP).

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