Die Programme der Präsidentschaftskandidaten, die außenpolitischen Themen nur sehr wenige Seiten widmen, bestätigen diesen Trend. Dies gilt umso mehr für das außenpolitische Dauerthema der letzten Jahre, die französische Beteiligung am NATO-Einsatz in Afghanistan. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass in der französischen Öffentlichkeit der Lage in Afghanistan in den letzten Monaten kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Medien berichten seit geraumer Zeit nur noch über Afghanistan, wenn es zu größeren Anschlägen und Zwischenfällen kommt – zuletzt war dies im Kontext der Demonstrationen gegen die Koranverbrennung durch Mitglieder der US-Armee im Februar 2012 und dem Amoklauf eines US-Soldaten Anfang März der Fall.
Gründe für die Zurückhaltung
Auch die Politik hat früh erkannt, dass die Stabilität Afghanistans und das Schicksal der dortigen Bevölkerung einen Großteil der Wählerschaft, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit dem Einsatz französischer Soldaten am Hindukusch beschäftigt. Wie auch in Deutschland und den anderen am Afghanistan-Einsatz beteiligten Ländern der EU steht daher vor allem die Frage nach dem Zeitpunkt des Truppenabzuges im Zentrum der Debatten. Seitdem dieser Mitte letzten Jahres auf den Sommer 2014 festgelegt wurde, wird in der Öffentlichkeit auch dieser Frage weniger Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn vor allem die Sozialistische Partei (PS) in unregelmäßigen Abständen versucht, mit Hilfe von Forderungen nach einem früheren Rückzug politisches Kapital zu schlagen. Auch im offiziellen Programm des Kandidaten des PS, François Hollande, ist von einem Rückzug aus Afghanistan bereits Ende 2012 die Rede.
Nicht zuletzt deshalb wurde das Thema Afghanistan von den Wahlstrategen der Regierungspartei UMP vor allem als potentieller Störfaktor und politische Munition für die Opposition gesehen und bei Wahlkampfreden Nicolas Sarkozys und anderer UMP-Politiker äußerst zurückhaltend behandelt. Diese Strategie konnte über einen langen Zeitraum Erfolge aufweisen, so dass die Afghanistan-Politik des Präsidenten in Umfragen Ende des Jahres 2011 relativ positiv bewertet wurde. Eine wahre Debatte um einen Militäreinsatz, dessen Sinn von großen Teilen der Wählerschaft bereits seit Längerem in Frage gestellt wird, konnte mit Hilfe dieser Strategie geschickt umgangen werden. Da die Präsidentschaftskandidatin des rechtsextremen Front national (FN), Marine Le Pen, innenpolitische Themen in den Vordergrund ihrer Kampagne gestellt und zum wichtigsten Gegenstand ihrer Kritik an Amtsinhaber Sarkozy erklärt hat, und François Bayrou, der Kandidat der Zentrumspartei (MoDem), außenpolitische Themen bisher nur wenig Beachtung schenkte, schien es, als sei es dem Wahlkampfteam des aktuellen Präsidenten gelungen, die zaghaften Versuche des PS, den Termin für den Rückzug aus Afghanistan zu einem zumindest peripheren Wahlkampfthema zu machen, abzuwehren.
Kurzfristige Rückkehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
Am 20. Januar 2012 kam es jedoch zu einem tragischen Ereignis, das den Afghanistaneinsatz für kurze Zeit doch noch in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt hat. Vier französische Soldaten wurden in der von Frankreich verwalteten Provinz Kapisa von einem Rekruten der afghanischen Armee getötet und zahlreiche weitere verletzt. Unmittelbar nachdem diese traurige Nachricht dem Präsidenten Sarkozy überbracht wurde, reagierte dieser – im Nachhinein als etwas vorschnell beurteilt – mit der Ankündigung, dass „sich die Frage eines vorzeitigen Abzugs der französischen Soldaten [vor 2014] stellen würde, sollte sich herausstellen, dass die notwendigen Sicherheitsbedingungen nicht garantiert werden können“. Angesichts der bis dato gewählten und in Antwort auf die Kritik des PS zumindest reaktiv auch offen vorgetragenen Haltung der UMP, einen Truppenabzug vor 2014 strikt abzulehnen, kam diese Äußerung sehr überraschend. Der PS reagierte prompt und warf dem Präsidenten in den Worten des mehrfachen Ministers Paul Quilès vor, „die Außenpolitik Frankreichs vom eigenen Wahlkampf abhängig zu machen“. Ausgerechnet die Tatsache, dass Sarkozys spontane Äußerung bei den NATO-Partnern, darunter vor allem den USA, ebenfalls für große Irritationen sorgte und die französische Regierung unter anderem durch Hillary Clinton umgehend an ihre Verpflichtungen erinnert wurde, hat die UMP letztendlich vor allzu großem innenpolitischen Schaden bewahrt. Bereits einen Tag nach Sarkozys umstrittener Äußerung relativierten erst Außenminister Alain Juppé und anschließend auch Sarkozy selbst diese Aussage und stellten sowohl gegenüber den NATO-Partnern als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung klar, dass Frankreich sich nicht unkontrolliert aus Afghanistan zurückziehen würde. Der Staatsbesuch des afghanischen Präsidenten Karzai am 27. Januar kam Sarkozy dann auch äußerst gelegen, da er in der gemeinsamen Pressekonferenz nochmals mit Nachdruck versichern konnte, dass Frankreich sein Engagement erfüllen und Afghanistan auch über das Ende des Militäreinsatzes im Sommer 2014 hinaus weiter unterstützen werde. Bereits nach wenigen Tagen wurde das Thema Afghanistan erneut von innenpolitischen Themen verdrängt.
Außenpolitischer Konsens und Dominanz innenpolitischer Themen
Zwei voneinander völlig unabhängige Phänomene bieten für die fast schon an Apathie grenzende Einstellung eines Großteils der französischen Bevölkerung gegenüber Afghanistan und außenpolitischen Fragen im Allgemeinen einen Erklärungsansatz: Zum einen ist festzustellen, dass ähnlich wie auch in Deutschland spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer, vermutlich insgeheim aber schon weitaus länger, nur noch wenig Unterschiede in der außenpolitischen Positionierung der Parteien festzustellen ist. Auch wenn es zwischen der UMP und dem PS hier und da noch Unterschiede in der thematischen und geographischen Prioritätensetzung geben mag, ist man sich – auch wenn dies nur selten von den Parteien selbst so dargestellt wird – bei zentralen Themen der bilateralen und multilateralen Außenpolitik zumeist einig. Unterschiede im Diskurs sind häufig darauf zurückzuführen, dass es leichter ist, sich von realpolitischen Imperativen zu lösen, wenn man sich in der Opposition befindet und keine außenpolitischen Entscheidungen treffen muss.
Dies gilt vor allem auch für die Kritik am Festhalten Sarkozys am Abzugstermin 2014 durch wichtige Parteigrößen des PS, u.a. auch François Hollande, der auf Wahlkampf-Äußerungen wie „unsere Mission in Afghanistan ist bereits jetzt erfüllt“, als gewählter Präsident vermutlich verzichten müsste. Auf der anderen Seite hat der diesjährige französische Wahlkampf aber vor allem die Dominanz innenpolitischer Themen untermauert – aktuell insbesondere des alles in den Schatten stellenden Umgangs der Politik mit der Wirtschafts- und Finanzkrise im Euroraum. Zunehmende Zweifel ob der eigenen finanziellen Sicherheit und abstrakte Zukunftsängste scheinen bei der Wählerschaft zu dominieren, so dass kaum Raum für Empathie gegenüber der Lage der Bevölkerung Afghanistans oder anderer ferner Länder bleibt. Selbst vormals viel diskutierte Fragen wie die Gefährdung durch den internationalen Terrorismus, der nicht selten mit Afghanistan in Verbindung gebracht wurde, scheinen heutzutage kaum noch eine Rolle zu spielen. Finden sie Erwähnung, dann eher in Form von Ängsten, die gegenüber der muslimischen Bevölkerung in Frankreich geschürt werden.
Samy Saadi ist Leiter des Wirtschaftsreferats und Referent für Politik an der deutschen Botschaft in Pakistan und Teilnehmer des Jahrgangs 2009 des „Deutsch-französischen Zukunftsdialogs“.