Die Antwort auf die aktuelle finanzpolitische Krise in der Europäischen Union ist: mehr Europa, mehr Integration, mehr EU, mehr europäische Führung, starke EU-Institutionen und größere Solidarität: In diesem pro-europäischen Geist hat der polnische Premierminister Donald Tusk das Programm der polnischen EU-Ratspräsidentschaft dem Europäischen Parlament vorgestellt. Polen, ein Land, das seit nunmehr sieben Jahren der EU angehört, will jetzt mit seiner stark pro-europäischen Haltung und viel Enthusiasmus seine europäischen Kollegen anstecken. Am 1. Juli 2011 hat das Land turnusgemäß für sechs Monate die Ratspräsidentschaft übernommen. Der Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am 21. Juli ist die erste große Bewährungsprobe.
Widrige Umstände
Das polnische Projekt ist allerdings hohem innen- wie außenpolitischem Druck ausgesetzt. Innenpolitisch durch die Parlamentswahlen, die am 9. Oktober 2011, also in der Mitte der Präsidentschaft, stattfinden. Ein harter Wahlkampf zeichnet sich bereits jetzt ab. Vor den Wahlen, in der ersten Phase der Präsidentschaft, lässt der erhöhte Rechtfertigungsdruck gegenüber der eigenen Bevölkerung negative Effekte auf das EU-Engagement der Regierung befürchten. Nach den Wahlen, in der zweiten Phase, könnten Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung hemmend wirken.
Die außenpolitischen Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, sind umfassend: die Probleme der Eurozone, Verschuldung der Mitgliedstaaten, Erosion des Schengenraums und die politischen Umwälzungen in der Nachbarschaft. Von der polnischen Präsidentschaft ist nun in all diesen Fragen ein effektives und nachhaltiges Krisenmanagement gefordert. Dabei kann diese Präsidentschaft als Lackmustest für die Handlungsfähigkeit rotierender Ratspräsidentschaften nach den neuen Regeln des Vertrag von Lissabon gelten. Rolle und Spielräume der mitgliedstaatlichen Präsidentschaft – neben dem ständigen Ratsvorsitz und der europäischen Diplomatie in Form des Europäischen Auswärtigen Dienstes – haben sich noch nicht etabliert.
Doch Polen hat sich gut vorbereitet und will zudem eigene Akzente setzen: 100 Beamte und Experten sind zusätzlich in die Ständige Vertretung des Landes in Brüssel entsandt worden, um einen anspruchsvollen Katalog an Vorhaben umzusetzen.
Ambitionierte Agenda
Das Warschauer Programm hat drei Schwerpunkte:
- Wirtschaftliches Europa: Es geht darum, einen Ausweg aus der Verschuldungskrise zu finden und Wachstum zu generieren. Dazu soll vor allem der einheitliche europäische Binnenmarkt weiterentwickelt und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gestärkt werden. Voraussetzung für die Realisierung aller Ziele ist die Verabschiedung eines neuen, langfristigen EU-Haushalts für die Finanzperiode ab 2013, für den während der polnischen Ratspräsidentschaft die Verhandlungen beginnen sollen.
- Sicheres Europa: Damit ist sowohl die militärische Dimension von Sicherheit gemeint – vor allem in Anbetracht der kriegerischen Auseinandersetzungen in Libyen – als auch Sicherheit in ihrer ganz umfassenden Dimension, die Nahrungsmittel- und Ressourcensicherheit einschließt. Polen setzt auf den Ausbau ziviler und militärischer Krisenbewältigungsmechanismen, auf die Entwicklung der EU-NATO-Kooperation und vor allem auf die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft. In der Energiepolitik konzentriert sich Polen auf die Weiterentwicklung eines EU-Binnenmarkts als Grundvoraussetzung für eine gemeinsame, effiziente Energieaußenpolitik.
- Offenes Europa: Polen will sich schließlich für die Stärkung der Rolle Europas in den Nachbarregionen und in der Welt einsetzen. Dazu will Warschau die Östliche Partnerschaft vertiefen, Hilfe für die demokratischen Entwicklungen in Nordafrika gewähren, die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abschließen sowie die Verhandlungen mit der Türkei, Island und den Ländern Südosteuropas vorantreiben.
Hohe Hürden
In allen drei Bereichen betritt die Präsidentschaft allerdings kein leichtes Terrain.
- Wirtschaftliches Europa: Bei der Lösung der Probleme in der Eurozone besteht für Polen die Schwierigkeit, dass es selbst noch nicht Euroland angehört. Dies vermag auch seine Zugehörigkeit zum „Euro-Plus-Pakt“ nicht auszugleichen. Die Krise wirft zudem deutliche Schatten auf den neu zu verhandelnden EU-Finanzrahmen 2014-2020. Vermutlich kommt es zu langwierigen und zähen Auseinandersetzungen, bei denen die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten im Vordergrund stehen.
- Sicheres Europa: Der Fall Libyen hat erneut vor Augen geführt, wie unterschiedlich die Vorstellungen von einer gemeinsamen Sicherheitspolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten sind. Der neue Europäische Auswärtige Dienst kann noch nicht als eingespielte Institution bezeichnet werden, die Übertragung seiner theoretischen Potentiale in die Praxis ist noch nicht abzusehen. So werden die Möglichkeiten der mitgliedstaatlichen Ratspräsidentschaft wohl in vielen Bereichen auf symbolische Gesten beschränkt bleiben.
- Offenes Europa: Der Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien steht kurz bevor, ist doch die politische Entscheidung bereits gefallen. Eine verstärkte Kooperation im Rahmen der Östlichen Partnerschaft steht wiederum vor der doppelten Herausforderung, einerseits die Motivation unter den EU-Mitgliedern zu stärken sowie andererseits das Interesse der ÖP-Länder wach zu halten, die sich aufgrund begrenzter Angebote seitens der EU von der Gemeinschaft weg orientieren. Das Ziel eines prinzipiell offenen Europas ist in Zeiten wieder wachsender Migrationsströme aus Drittländern und angesichts von Renationalisierungstendenzen in den EU-Mitgliedstaaten eine besonders anspruchsvolle Aufgabe.