Chinas Erfolgsformel umfasst „fünf Tugenden“: 1.) Porösen Protektionismus, 2.) Import von Wissen, 3.) Kooperation mit westlichen Akteuren, 4.) parteistaatliche Rahmensetzung statt Kontrolle und 5.) innerstaatliche Wettbewerbscharakteristika. |
Diesen „fünf Tugenden“ stehen „fünf Hürden“ im Weg – innenpolitische wie internationale. China wird innovativ bleiben, aber das Ausmaß der Innovationsfähigkeit steht in Frage. |
Der Westen muss unterschiedliche Risikoprofile, die sich aus Chinas Innovationsmacht ergeben, in verschiedenen Zukunftstechnologien unterscheiden. Außer geopolitischen müssen auch Markt- und Technologiecharakteristika berücksichtigt werden. |
Deutschland und die EU sollten nicht nur strategische Abhängigkeiten von China reduzieren, sondern auch in eigene Stärken investieren, um technologisch unverzichtbar für China zu bleiben. |
Die Webversion dieses Policy Briefs enthält keine Fußnoten. Bitte laden Sie dafür das PDF herunter. Dieser Policy Brief basiert auf der ausführlichen englischsprachigen DGAP-Analyse „The Sources of China’s Innovativeness: Why China’s “Unstoppable” Innovation Powerhouse Might Falter“.
Dass China zu einer Innovationsmacht geworden ist, hat viele Europäer überrascht. Weithin war angenommen worden, dass Innovation von fünf Vorbedingungen abhänge, die China allesamt nicht erfülle: 1.) offene Märkte, die freien Zugang zu Informationen, Wissen und Technologie erleichtern, 2.) ein demokratisches Gemeinwesen, das Freiheit und Kreativität fördert, 3.) ein funktionierender Rechtsstaat zum Schutz geistigen Eigentums, 4.) ein Individualismus, der Unternehmergeist anspornt, und 5.) das funktionierende Risikomanagement freier Kapitalmärkte. Kurzum, Chinas Autokratie und Staatskapitalismus galt vielen im Westen als Grund dafür, dass es zu bahnbrechender Innovation nicht in der Lage sei. Der wirtschaftliche Erfolg der Volksrepublik wurde vielmehr darauf zurückgeführt, dass das Land westliche Technologien nachahme und dabei zu unfairen Mitteln greife, insbesondere dem Diebstahl geistigen Eigentums.
Heute wird weithin anerkannt, dass diese Prognose falsch war. Umgekehrt scheinen viele westliche Regierungen ihre Politik nun auf die implizite Annahme zu stützen, dass China auf einem Weg zu technologischer Dominanz ist, und versuchen diese scheinbar unaufhaltsame Entwicklung doch noch zu verhindern. Doch um eine kluge Politik zu betreiben, müssen drei Fragen in diesem Zusammenhang geklärt werden:
- Wie wurde China innovativ?
- Wird China innovativ bleiben?
- Wie sollte der Westen auf Chinas Innovationsfähigkeit reagieren?
Dieser Policy Brief widmet sich diesen drei Fragen und argumentiert, dass es „fünf Tugenden“ sind, die China zu einer Innovationsmacht werden ließen, die wiederum durch „fünf Hürden“ herausgefordert werden.
Wie wurde China innovativ?
Chinas technologische Entwicklung hat fraglos von der Nachahmung westlicher Technologie und dem Diebstahl geistigen Eigentums profitiert. Doch diese nur darauf zu reduzieren, verkennt die wahren Stärken, die das Land zur Innovationsmacht werden ließen. In Anlehnung an die Gewohnheit des chinesischen Parteistaates, zentrale Konzept mit einer Zahl und einem Begriff zu benennen, möchte ich für diese Stärken den Begriff der „fünf Tugenden“ vorschlagen:
Erstens stützt sich Chinas Innovationsfähigkeit auf einen porösen Protektionismus eines großen Marktes. Ein gutes Beispiel ist Chinas „Große Firewall“. Bekannt ist sie als Mittel chinesischer Zensur, denn chinesische Internetnutzer:innen können zahlreiche ausländische Internetseiten mit missliebigem Inhalt nicht aufrufen. Dennoch lässt sich diese Sperre mit einem einfachen technischen Hilfsmittel, sogenannten Virtual Private Networks (VPNs), umgehen. Fast alle Internetnutzer:innen in der Volksrepublik verfügen über VPNs. Und: Diese Praxis bleibt ungestraft. Chinas Behörden haben bisher nie versucht alle VPNs aus dem Verkehr zu ziehen. Denn die Führung möchte das Land nicht von Informationen, Wissen und Innovation abschneiden. Zugleich setzt sie darauf, dass es für viele Internetnutzer:innen bequemer ist, chinesische Onlinedienste zu nutzen, da diese ohne VPN erreichbar sind. Das Ergebnis ist ein poröser Protektionismus: Chinesische Onlinedienstleister werden vor ausländischer Konkurrenz geschützt, ohne eine vollständige Abschottung zu betreiben. Trotz dieser protektionistischen Hürden verloren ausländische Unternehmen nicht das Interesse am chinesischen Markt, denn seine schiere Größe und die wachsende zahlungskräftige Mittelschicht galt vielen als zu attraktiv.
Zweitens gelingt China der Import von westlicher Technologie und Knowhow. Zahlreiche Talentrekrutierungsprogramme führen dazu, dass vormals im Westen angestellte Spitzenforscher:innen chinesischen Ursprungs in die Volksrepublik zurückkehren – und mit ihnen nicht nur spezifisches Wissen, sondern auch Kenntnisse über Innovationsökosysteme. Darüber hinaus verschafft sich China Zugang zu Technologie und Knowhow, in dem es den Transfer von Technologien zur Bedingung für den Marktzugang macht. In vielen Fällen müssen westliche Unternehmen Joint Ventures mit chinesischen Wettbewerbern eingehen, wenn sie auf dem chinesischen Markt aktiv sein wollen, und damit ihr Wissen einbringen und teilen. Doch auch ohne solche Zwangsmaßnahmen hat Chinas tiefe Integration in globale Wertschöpfungsketten zu einem Transfer von Wissen geführt. Technologieentwickler:innen müssen Wissen mit den Produzent:innen teilen, damit ihre Produkte kostengünstig gefertigt werden können.
Drittens profitiert Chinas Innovationskraft von Kooperation mit Akteuren aus dem Westen. Zwar ist es Chinas erklärtes Ziel vom Import westlicher Technologien unabhängiger zu werden. Aber zahlreiche chinesische Unternehmen bevorzugten über Jahrzehnte hinweg die Kooperation mit westlichen Partner:innen, wenn dies der Produktqualität zuträglich war. Ein Beispiel ist Chinas Abhängigkeit vom Import westlicher Halbleiter. Erst US-Sanktionen im Oktober 2022 führten dazu, dass viele chinesische Unternehmen sich dazu genötigt sahen, chinesische Alternativen zu nutzen – zumindest in jenen Segmenten, in denen Chinas Chip-Industrie über das notwendige technische Knowhow verfügt. Hinzu kommt, dass China eigene technologische Schwächen durch den Ankauf von ausländischen Unternehmen zu kompensieren versucht. Insbesondere seit 2014 sind solche Zukäufe äußerst strategisch geworden. Auch Wissenschaftskooperationen haben zur Innovationsfähigkeit der Volksrepublik beigetragen.
Viertens hat Chinas Parteistaat seine Kontroll-funktion aufgegeben und beschränkt sich nun auf die Rahmensetzung. Auch von dieser Veränderung profitiert Chinas Innovationsfähigkeit. Ein zentrales Beispiel ist der Wandel von Fünfjahresplänen in China. Die umfassende Planwirtschaft unter Mao Zedong würgte Innovation ab. Doch heute geht von Fünfjahresplänen „nur“ eine grundsätzliche Signalwirkung aus. Lokale Parteikader ermöglichen durch Deregulierung Experimente in prioritär zu behandelnden Technologiefeldern. Auch die weitgehend durch regionale und lokale Staatsakteure kontrollierten Banken finanzieren vorrangig Innovation, die im Fünfjahresplan hervorgehoben werden. Das bedeutet, dass der Parteistaat Risiken für Investitionen in zentrale Innovationen weitgehend sozialisiert. Dies führt dazu, dass auch kurzfristig wirtschaftlich weniger lukrative Investitionen getätigt werden, die langfristig der Innovationsfähigkeit zuträglich sein können. Ein Beispiel dafür ist der Ausbau der mobilen Infrastruktur. Während Europa weitgehend auf eine weniger innovative Variante von 5G setzt, das non-standalone 5G (NSA), baut China ein 5G-Netz mit einem neuen Kernnetzwerk auf. Dieses sogenannte standalone 5G (SA) hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine nennenswerten Vorteile, ist aber deutlich teurer. Doch in der Zukunft könnten Anwendungen breite Akzeptanz bekommen, die nur über ein standalone 5G-Netz möglich sind, beispielsweise autonomes Fahren. Noch ist es zu früh, um zu sagen, ob Chinas Wette aufgeht. Aber bereits jetzt wird deutlich, dass sich die Rationalität der Volksrepublik durch die Sozialisierung von Risiken von derjenigen Europas deutlich unterscheidet.
Fünftens sind Wettbewerbscharakteristika Chinas förderlich für die Innovationsfähigkeit des Landes. Obwohl China Staatskapitalismus betreibt, besteht ein enormer Wettbewerbsdruck und Privatunternehmen spielen eine zentrale Rolle. Unter Chinas fünf größten Softwareunternehmen ist nur ein Staatsbetrieb. Zwar benötigen Privatunternehmen die Unterstützung des Parteistaates, um erfolgreich zu werden. Doch sie sind im Wettbewerb untereinander und ihre Interessen sind nicht deckungsgleich mit denen des Parteistaates. Dabei ist auch der Parteistaat selbst von unterschiedlichen Interessen geleitet. Hinzu tritt die große Bereitschaft chinesischer Konsument:innen, neue Innovationen anzunehmen. So wird das Onlinebezahlsystem WeChat Pay von 84 Prozent der Internetnutzer:innen verwendet; in den USA bringt es ApplePay gerade einmal auf 24 Prozent. Es ist vor allem die tiefgreifende Transformationserfahrung, die chinesischen Konsument:innen dazu bringt, offen gegenüber neuen Technologien zu sein.
Wird China innovativ bleiben?
Chinas künftige Innovationsfähigkeit wird dadurch bestimmt werden, ob und in welchem Ausmaß es dem Land gelingt, die „fünf Tugenden“ aufrecht zu erhalten und wie es mit in den letzten Jahren entstandenen „fünf Hürden“ umgehen wird:
Erstens beobachten wir einen wachsenden Protektionismus – in China und weltweit. Beispiele sind die verschärften Regeln für die Nutzung von VPNs oder auch die Verschärfung der Regeln zum grenzüberschreitenden Transfer von Daten. De-risking und Diversifizierungsbemühungen von Chinas Handelspartnern trüben darüber hinaus die Aussichten für die Volksrepublik.
Zweitens sind wachsende Markteintrittshürden bei geringerem Wachstum ein Risiko für Chinas Innovationsfähigkeit. Das Spionagegesetzt führt beispielsweise zu großer Verunsicherung und schreckt westliche Unternehmen vom Eintritt in den chinesischen Markt ab. Gleichzeitig schwächen sich die Wachstumsprognosen für China deutlich ab. Auch westliche Regierungen reduzieren Export- und Investitionsgarantien für Unternehmenstätigkeiten in China.
Drittens erleben wir eine Versicherheitlichung wirtschaftlicher Interaktionen. Chinas Geheimdienstgesetzt verlangt beispielsweise die Koope-ration aller chinesischer Entitäten mit den staatlichen Sicherheitsbehörden, wenn sie dazu aufgefordert werden. Entsprechend sind westliche Akteure verunsichert, ob sie ihren Geschäftspartner:innen vertrauen können. Auch westliche Regierungen folgen dem Trend der Versicherheitlichung, beispielsweise durch Investitionskontrollregime oder Exportkontrollen.
Viertens durchläuft China eine Zentralisierung von Steuerungsinstrumenten in den Händen der Partei. So wurde im März 2023 die Zentralkommission für Wissenschaft und Technologie des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas als zentrale Entscheidungsinstanz gegründet. Sie wird durch Präsident Xi Jinping persönlich geleitet. Zeitgleich stärken westliche Staaten ihr Instrumentarium gegen Dumping und Subventionen – Maßnahmen, die den Austausch mit einem zunehmend zentralisierten China erschweren.
Fünftens wächst die Unsicherheit in China. Das harte Vorgehen des Parteistaates gegen private Technologiefirmen wie Alibaba, Tencent oder Didi hat viele private Unternehmer:innen verunsichert. Auch die Null-Covid-Politik hat in der Gesellschaft zu einem Klima der Unsicherheit beigetragen. Demgegenüber stehen westliche Versuche, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, eine Entwicklung, die – wenn sie erfolgreich ist – Chinas Unsicherheit vertiefen könnte.
Wie sollte der Westen auf Chinas Innovationsfähigkeit reagieren?
Viele westliche Regierungen sind besorgt, dass Chinas Innovationsfähigkeit unvermeidlich zu einer chinesischen Dominanz von Schlüsseltechnologien führen wird. Ironischerweise reagieren sie vor allem mit dem Versuch, technologischen Austausch mit China zu begrenzen – als ob Chinas Erfolg einzig vom Zugang zu westlicher Technologie abhängig wäre. Zweifellos hat China vom Diebstahl geistigen Eigentums profitiert. Doch die genannten „fünf Tugenden“ dürfen nicht übersehen werden. Das Land wird voraussichtlich innovativ bleiben. Aber das Ausmaß seiner Innovationsfähigkeit hängt entscheidend davon ab, ob chinesische und internationale Entscheidungen die „fünf Hürden“ verstärken oder ob die „fünf Tugenden“ dominieren.
Der Westen muss lernen, eigene Stärken, insbesondere die Effizienzvorteile der eigenen Marktwirtschaft, mit gezielter Industriepolitik zu verknüpfen. Dabei zeigt die Analyse von Risikoprofilen, dass eine differenzierte Politik nötig ist, die die Charakteristika verschiedener technologischer Ökosysteme berücksichtigt. Geopolitische Faktoren sollten genauso handlungsleitend sein wie die globale Marktsituation und technologische Charakteristika. Viele dieser Ökosysteme sind interdependent; strategische Unabhängigkeit von China ist eine Illusion. Daher gilt es, nicht nur eigene Abhängigkeiten zu reduzieren, sondern auch die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Europa für China technologisch unverzichtbar bleibt. Fest steht: Chinas Innovationsfähigkeit hängt nicht nur, aber auch von politischen Entscheidungen im Westen ab. Und nur, wenn die Entscheidungsträger:innen dort die Gründe für Chinas Innovationskraft verstehen, kann es gelingen, eine adäquate Antwort zu entwickeln.