Die überragende Bedeutung digitaler Souveränität ist Europas Wirtschaft und Politik in den vergangenen Jahren erst richtig bewusst geworden. Mit Geschäftsmodellen und einer Datennutzung, die zum Teil mit europäischen Werten unvereinbar erscheinen, greifen amerikanische und chinesische Konzerne ganze Industriezweige an und gefährden ihre Wertschöpfung.
Brüssel hat schnell reagiert. Mit der Datenschutzgrundverordnung, dem Digital Services Act, dem Digital Markets Act und dem Data Governance Act entsteht gerade der regulatorische Rahmen, den die europäische Industrie lautstark eingefordert hatte. Mit dem größten Konjunkturpaket, das je aus einem EU-Haushalt finanziert wurde, stehen für die Initiative „NextGenerationEU“ 750 Milliarden Euro für eine Modernisierung Europas im Rahmen des EU-Haushaltes bereit. Mehr als 50 Prozent der Beträge sind der Modernisierung in Programmen wie Forschung und Innovation („Horizont Europa“), einer fairen Klimawende und fairen Digitalisierung („Digitales Europa“) nebst Vorsorge, Aufbau und Krisenfestigkeit über die Aufbau- und Resilienzfazilität („rescEU“) sowie dem neuen Gesundheitsprogramm („EU4Health“) zugedacht.
Die Europäische Kommission, in vorderster Linie vertreten durch den Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton, hat die Investitionsprioritäten klar verkündet: Datenhoheit und Cloud, Mikroprozessoren vom Design bis zur Halbleiterfertigung, Kommunikationstechnologien von 5G bis zur Quantenverschlüsselung. Viele dieser Investitionsprioritäten unterliegen langjährigen Forschungs-und Entwicklungszyklen, sind stark risikobehaftet – und brauchen demgemäß lange bis zur Marktreife.
Plattformen müssen ein Grundproblem lösen
Wenn es hingegen um das ebenfalls zentrale Anliegen geht, europäische Industrie-Plattformen zu formen, stellt sich die Sache anders da: Für deren Ausbau sind mit heutigem technischen Stand, regulatorischen Rahmenwerk und der bereitgestellten Finanzierung die wesentlichen Voraussetzungen schon erfüllt. Jetzt ist Unternehmertum gefragt.
Erfolgreiche Internetplattformen – soziale Medien, Business-to-Consumer oder Business-to-Business – bieten den Teilnehmern eine unwiderstehliche Leistung (Funktion). Deren Anziehungskraft verstärkt sich über Netzwerkeffekte so lange, bis eine herausragende Marktposition erreicht ist. Plattformen müssen ein Grundproblem lösen, um Nutzer anzuziehen: So liefert Google „information at your fingertips“, Amazon ein kaum schlagbar breites Sortiment und versandkostenfreie Lieferung über „Prime“. Alibaba löste ein bis dahin unüberwindbares Problem im chinesischen Versandhandel: die Sicherheit der Integrität der Transaktion. Der Händler wird von Alibaba erst nach erfolgter Lieferung und Rückmeldung des Kunden bezahlt.
Ohne eine solche „Killer-Funktion“ kann sich keine Plattform etablieren. Die Killer-Funktion ist der Urknall für das Ökosystem rund um die Plattform – und sie stärkt die Netzwerkeffekte.
Die Medienindustrie kämpft
Einmal etabliert, aggregieren solche Plattformen immer mehr Funktionen und damit verbundene Datenschätze. Dadurch greifen sie angrenzende Industriebereiche an und höhlen sie aus: Ganze Unternehmen werden zu „kostenlosen Funktionen“ auf der Plattform. Das betroffene Unternehmen wird zum Kollateralschaden der Plattform – so geschehen etwa mit Tom-Tom oder Garmin, als Google-Maps Navigationsdienste für jeden Handybesitzer kostenlos verfügbar machte. Ebenso erging es den SMS-Diensten, die einst ein lukratives Segment für die Telekommunikationsunternehmen waren – bis Whatsapp sie ersetzte.
Im Augenblick kämpfen in der Medienindustrie nicht nur die Printmedien um ihr Geschäftsmodell, nachdem ihnen Facebook und Google den Werbemarkt abgerungen haben. Jetzt sind die Filmstudios an der Reihe. Hatten sie anfänglich Amazons AWS-Cloud als günstige Streaming-Plattform genutzt, kämpfen sie heute in Konkurrenz mit Amazon Studios um die Produktion ihrer Inhalte. Apple konkurriert über Apple Studio und Google über Youtube TV. Angesichts dessen baute der alte Platzhirsch Disney bekanntlich schnellstens mit viel Geld einen eigenen Streamingdienst auf.
In der öffentlichen Diskussion wird oft von der Notwendigkeit sogenannter europäischer Champions gesprochen. Dabei wird auf China verwiesen, wo es gelang, eigene große Internetunternehmen und Plattformen aufzubauen: Tencent, Weibo, Alibaba oder Wechat konnten sich indes nur etablieren, weil Peking das eigene Internet technisch, wirtschaftlich und vor allem politisch abschottet(e). Diese Unternehmen waren schlicht chinesische Klone ihrer amerikanischen Vorbilder Google, Amazon, Ebay oder Facebook.
Auf die eigenen Stärken setzen
Europa kann in seiner wirtschaftlichen Verflechtung als größter Exporteur der Welt diesen Weg nicht beschreiten. Dafür ist es zu spät. Und dies ist strategisch auch nicht die beste Option. Auf die eigenen Stärken zu setzen ist eine weit bessere Strategie. Es gibt viele Industrien, in denen Europa führend ist. Dort sollten Plattformen etabliert werden, welche die Wertschöpfung der an der Plattform teilnehmenden Unternehmen in den eigenen Industrien steigert, die Kundenbindung in den Unternehmen belässt – und so die Gefahr der Disintermediation bannt. Gleichzeitig kann die Plattform als Basis für weiterführende Innovation in der ursprünglichen wie auch in angrenzenden Industrien wirken.