Analysis

Feb 03, 2021

US-Migrationspolitik unter Joe Biden

Was Deutschland erwarten kann und tun sollte
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Der neue amerikanische Präsident Joe Biden hat begonnen die US-Migrationspolitik umfassend neu zu ordnen. Das hat auch Auswirkungen auf Deutschland.

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Key Findings
Nach der rigorosen Abschottungspolitik der letzten vier Jahre will Biden die Rolle der USA als Einwanderungsland und tragende Säule des internationalen Flüchtlingsschutzes stärken.
Deutschland sollte eine neue Schutzkoalition für Flüchtlinge mit den USA und anderen Demokratien begründen, um mehr legale Wege für Flüchtlinge zu schaffen – und um neue Wege außerhalb der blockierten europäischen Ebene zu gehen.
Deutsche Politiker sollten aus den Fehlern der USA lernen. Trumps Bilanz zeigt: Wer Migration sinnvoll steuern will, kann nicht einseitig auf Abschottung setzen.

 

INHALT

Executive Summary

Einleitung

Bidens Migrationspläne

Vier Hindernisse und eine Chance für Biden

Was tun? Empfehlungen für die deutsche Regierung

Bitte beachten: Die Online-Version des Textes enthält keine Fußnoten. Um die Zitate zu sehen, laden Sie bitte die PDF-Version hier herunter.

EXECUTIVE SUMMARY 

Seit seiner Amtseinführung vor zwei Wochen arbeitet US-Präsident Joe Biden mit Hochdruck daran, die Politik der USA neu auszurichten. Besonders ausgeprägt ist der Bruch mit seinem Vorgänger Donald Trump in den Bereichen Migration, Asyl und Flucht.   

Die neue US-Regierung verfolgt sechs migrations-politische Ziele: 

  1. Den Mauerbau beenden: Die neue US-Regierung hat den Bau der Mauer an der Grenze zu Mexiko, das Prestigeprojekt Trumps, gestoppt. Auch Biden will die Grenze sichern, aber mit anderen Mitteln: Statt auf Zement und Stahl setzt Biden auf Technologie.
  2. Undokumentierte Einwanderer vor Abschiebung schützen: Biden hat für die ersten 100 Tage seiner Amtszeit alle Abschiebungen ausgesetzt und einen Vorschlag vorgelegt, um vielen der elf Millionen Menschen, die bisher ohne gültigen Aufenthaltsstatus in den USA leben, eine legale Perspektive zu ermöglichen, u.a. den sogenannten Dreamern. 
  3. Resettlement-Kontingent auf 125.000 erhöhen: Biden will mehr Flüchtlingen ermöglichen, auf legalem Weg in die USA zu kommen. Die Zahl der Menschen, die im Rahmen eines „Resettlement“ nach einer ausführlicher Sicherheitsüberprüfung geordnet ins Land einreisen dürfen, soll auf 125.000 im Jahr verachtfacht werden. Das wäre der höchste Stand seit 30 Jahren. 
  4. Das Recht auf Asyl stärken: Biden will viele der Maßnahmen abschaffen, mit denen die USA in den letzten Jahren das Recht von Menschen, Asyl zu beantragen, beschnitten haben, unter anderem das „Bleib-in-Mexiko“-Programm. Auch will er mehr Personal einstellen lassen, damit Asylanträge schneller entschieden werden. 
  5. Legale Migration erleichtern: Biden will wieder mehr Arbeitsmigration ermöglichen. Das umstrittene Einreiseverbot für Bürger mehrerer mehrheitlich muslimischer Länder („Muslim ban“) hat er bereits an seinem ersten Tag im Amt außer Kraft gesetzt. 
  6. Regionale und internationale Zusammenarbeit verbessern: Biden will die Abkommen über sichere Herkunftsländer mit mehreren mittelamerikanischen Staaten aufkündigen, die Asylanträge aus diesen Ländern erschwert und Abschiebungen erleichtert hatten. Zudem werden die USA internationalen Abkommen wohl wieder offener gegenüberstehen, etwa den beiden UN-Pakten zu Migration und Flüchtlingen. 

Bei der Umsetzung seiner Pläne wird Biden jedoch auf vier Hürden stoßen: 

  1. Covid-19 und die Wirtschaftskrise haben höhere Priorität. Die Zwillingskrise wird so viel Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, dass Biden zunächst wenig Zeit und politisches Kapital für Migration bleiben. 
  2. Der konservative Supreme Court kann Präsidialerlässe stoppen: Der Supreme Court mit seiner klaren konservativen Mehrheit wird zukünftigen Erlässen Steine in den Weg legen.
  3. Biden muss den linken Parteiflügel zufrieden stellen: Linke Demokraten sehen Biden nach wie vor abschätzig als Handlanger Obamas an, unter dessen Führung die USA mehrere Millionen Menschen abschoben. Biden braucht die Unterstützung dieses Flügels, darf dabei aber nicht die moderateren Demokraten verprellen.
  4. Die Neuordnung der Migrationspolitik braucht Zeit: Einige von Trumps Maßnahmen kann Biden zwar mit einem Federstrich im Rahmen von Präsidialerlässen aufheben, aber viele Änderungen werden Monate brauchen. 

Trotz dieser Hindernisse kann Biden eine große Chance ergreifen: Die neu erworbene Kontrolle über den Senat ermöglicht es den Demokraten, nach Jahren des Stillstands Änderungen der Migrationsgesetzgebung in Angriff zu nehmen. Eine umfassende Migrationsreform wird trotzdem kaum Realität werden, denn dazu würde Biden auch republikanische Unterstützung benötigen.

Deutsche Politiker und Entscheider sollten die anstehenden Neuerungen auf zwei Arten nutzen

  1. Sie sollten die erklärte Priorität des Flüchtlingsschutzes der Biden-Regierung aufgreifen und eine neue Schutzkoalition mit den USA und anderen Demokratien begründen. Mögliche Partner sind Kanada, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande. Gemeinsam sollten sich diese Länder zu einer Trendumkehr bei den seit Jahren fallenden Resettlement-Zahlen verpflichten.
  2. Sie sollten aus den Fehlern der USA lernen: Trumps singulärer Fokus auf den Außengrenzschutz hat nicht nur menschliches Leid verursacht und die Reputation der USA schwer beschädigt. Der frühere Präsident hat auch sein Ziel verfehlt, denn die illegalen Grenzüberquerungen erreichten kurz vor der Corona-Pandemie ein Zehnjahreshoch. Damit bestätigt Trumps Bilanz Erfahrungen aus anderen Ländern: Grenzschutzmaßnahmen mögen kurzfristig wirken, doch langfristige Erfolge gibt es nicht ohne gleichzeitige Investitionen in andere Teile des Migrations- und Asylsystems.

 

I. EINLEITUNG

In nur vier Jahren hat die Trump-Regierung die US-Migrationspolitik von Grund auf verändert. Als Präsident setzte Donald Trump konsequent auf Abschottung. Das betraf die legale ebenso wie die illegale Migration, den Grenzschutz, das Asylsystem, den Flüchtlingsschutz, die Integrationspolitik und die Zusammenarbeit auf regionaler und internationaler Ebene (s. Box 1: Migrationspolitik unter Trump: eine Bilanz). 

Der neue Präsident Joe Biden hat im Wahlkampf für eine liberalere Migrationspolitik geworben. In welchem Umfang er seine großen Pläne umsetzen kann, ist allerdings trotz der wiedererrungenen Kontrolle der Demokraten im Kongress ungewiss. 

Das Ziel dieser Analyse ist es aufzuzeigen, welche Pläne Biden im Bereich Migration, Asyl und Flucht verfolgt, auf welche Hürden er stoßen wird, und wie Deutschland und Europa die Situation nutzen können, um den internationalen Flüchtlingsschutz zu stärken. Deutschland hat jetzt die Chance, Migration als ein neues Thema zu etablieren, das frischen Wind in das transatlantische Verhältnis bringen kann. 

Box 1 – Migrationspolitik unter Trump: Eine Bilanz

Die bekanntesten migrationspolitischen Maßnahmen der Ära Trump sind:

Der Mauerbau an der mexikanischen Grenze als zentrale Symbolpolitik

Entlang der insgesamt 2,000 Meilen langen Grenze mit Mexiko wurden bis Ende 2020 auf der Länge von 400 Meilen neue Grenzanlagen fertiggestellt. Um den Abschreckungscharakter der Mauer zu unterstreichen, bestand Trump vielerorts auf schwarzer Lackierung. Wenngleich viele der neu errichteten Anlagen in wenig frequentierten Grenzabschnitten stehen, nutzte Trump erfolgreich ihren Symbolwert, um einen Teil seiner Wählerschaft zufriedenzustellen.  

Dieser Mauerbau kostete insgesamt rund 15 Milliarden US-Dollar. Der Kongress hatte jedoch nur 4,5 Milliarden Dollar bewilligt, weshalb die Regierung die fehlenden Mittel aus dem Verteidigungsetat und anderen Haushaltsstellen entnahm. Anders als von Trump angekündigt waren es also nicht die mexikanischen, sondern die amerikanischen Steuerzahler, die die Mauer bezahlten. 

Einreiseverbot – der „Muslim Ban“ 

Unmittelbar nach Amtsantritt erließ Trump ein Einreiseverbot für sieben Staaten, in denen die Mehrheit der Bevölkerung muslimischen Glaubens ist. Auf Urteile von Bundesgerichten hin überarbeitete das Weiße Haus den Erlass mehrfach, bis er schlussendlich für rechtens befunden wurde. 

Nulltoleranzpolitik und Familientrennungen

Das Weiße Haus veranlasste zahlreiche Maßnahmen, um die Zahlen von Asylbewerbern und irregulären Migranten an der Südgrenze der Vereinigten Staaten zu senken. Besonders umstritten war die sogenannte Nulltoleranzpolitik, die von April bis Juni 2018 in Kraft war. Auf ihrer Grundlage wurden etwa 4.000 Kinder von ihren Eltern getrennt. Die Eltern von mehr als 500 dieser Kinder konnten bis heute – fast drei Jahre später – nicht aufgefunden werden. 

 

Senkung des Resettlement-Kontingents auf historischen Tiefstand

Im Zuge des Resettlement-Programms darf jedes Jahr eine festgelegte Anzahl von Flüchtlingen nach einer ausführlichen Sicherheitsüberprüfung auf legalem und sicherem Wege in die USA einreisen. Trump verringerte 2017 dieses Kontingent von 85.000 auf zunächst 50.000 und im Jahr 2020 weiter auf 15.000. Zum Vergleich: Als das Programm in den frühen 1980er Jahren geschaffen wurde, durften über 200.000 Flüchtlinge im Jahr einreisen. 

Hinzu kamen vielfältige weitere Maßnahmen wie die Einschränkung der legalen Einwanderung, auch der von hochqualifizierten Ausländern mit US-Hochschulabschluss. Bei Abschiebungen wurde auf die Priorisierung von Straftätern verzichtet, um alle Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus leichter abschieben zu können. Besonders umstritten war die zeitweise Pausierung des „Dreamer“-Programms, das Menschen, die als Kinder mit ihren Eltern illegal in die USA gekommen waren, vor Abschiebungen geschützt hatte. Hinzu kam die Verschärfung der „Public Charge Rule“ zur Abschreckung von Visums- und Greencard-Bewerber, das „Bleib-in-Mexiko-Programm“ für Asylbewerber sowie Vereinbarungen, die mittelamerikanische Länder zu sicheren Herkunftsländern erklärten. 

All diesen Abschottungsversuchen zum Trotz erreichten die illegalen Grenzüberquerungen in die USA im Jahr 2019 ein Zehnjahreshoch (vgl. Grafik 1: Illegale Grenzüberquerungen in die USA, 2007-2019). Trumps singulärer Fokus auf Grenzschutz verursachte also nicht nur immenses menschliches Leid. Er stellte sich auch als nur kurzfristig wirksam heraus.

 

 

II. BIDENS MIGRATIONSPLÄNE

Biden will einen grundlegenden Kurswechsel in der Migrationspolitik. Der neue Präsident will mehr legale Wege für Flüchtlinge, Asylbewerber und Arbeitsmigranten öffnen. Viele der mehr als 400 Präsidialerlässe, die Trump in seiner Amtszeit im Bereich Migration in rapider Abfolge unterzeichnete, will er aufheben. Biden verfolgt in der Migrationspolitik sechs Ziele:

Mauerbau beenden 

Biden hat den Bau von Trumps Mauer an der Grenze zu Mexiko bereits am ersten Tag seiner Amtszeit über einen Präsidialerlass pausiert, doch die bereits errichteten Anlagen wird er nicht wieder abreißen lassen. Seit den 1990er Jahren und bis zur Amtszeit von Präsident Barack Obama gab es in den USA einen parteiübergreifenden Konsens über die Verstärkung des Grenzschutzes. Nach wie vor ist er auch vielen Demokraten wichtig. Biden setzt dabei statt auf eine Mauer primär auf den Einsatz technologischer Überwachungssysteme (Smart Border Control), um die Grenze zu kontrollieren, also sowohl um Migranten zu überprüfen als auch den Drogenschmuggel zu unterbinden. Für Biden wäre es politisch unklug, das Prestigeprojekt des Vorgängers, das dessen Anhängern ein Gefühl von Sicherheit verleiht, zu zerstören und dabei auch noch weitere finanzielle Kosten zu verursachen – denn nicht nur Mauerbau ist teuer, sondern auch Mauerabriss.  

Undokumentierte Einwanderer vor Abschiebung schützen

Biden stoppte am Tag seiner Amtsübernahme alle Abschiebungen für 100 Tage, doch eine Bundesrichterin setzte diese Maßnahme bereits nach wenigen Tagen wieder aus. Bidens Linie in dieser Frage stellt ein klares Entgegenkommen gegenüber dem linken Flügel der demokratischen Partei dar, der unter dem Stichwort „Abolish ICE“ die Immigrations- und Zollbehörde, die seit mehreren Jahren wegen ihrer oft ruppigen Abschiebepraxis in der Kritik steht, ganz abschaffen will. Diese Forderung wird Biden zwar nicht erfüllen. Doch dürfte er zu den Vollzugsprioritäten („enforcement priorities“) zurückkehren, die in der Obama-Ära dafür gesorgt hatten, dass nicht jeder undokumentierte Migrant abgeschoben wurde, sondern nur bestimmte Gruppen, insbesondere Kriminelle („felons not families“) und Menschen, die erst seit kurzem im Land lebten. Dieser Ansatz bewahrte einen großen Anteil der elf Millionen Menschen, die ohne gültige Aufenthaltspapiere in den USA leben, vor der Abschiebung.

Biden wird auch das DACA-Programm („Deferred Action for Childhood Arrivals“) wiederaufleben lassen. Präsident Obama hatte dieses Programm 2012 gestartet, um die Abschiebung der sogenannten „Dreamer“ auszusetzen und ihnen eine befristete Arbeitserlaubnis zu geben. Die Dreamer sind Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus, die bereits als Kinder mit ihren Eltern in die USA kamen und dort aufgewachsen sind. Voraussichtlich wird Biden nicht nur versuchen, DACA zu verlängern, sondern es zu verstetigen, um den Betroffenen eine Perspektive auf einen dauerhaften legalen Status und die amerikanische Staatsbürgerschaft zu geben. Trumps Versuche, dieses Programm einzustellen, waren wiederholt vor Gericht gescheitert. Da DACA auch unter den Republikanern viele Fürsprecher hat, wird diese Politikänderung voraussichtlich sogar bei einigen Republikanern auf Zustimmung treffen. 

Resettlement-Kontingent auf 125.000 im Jahr erhöhen

Biden will das Kontingent von Flüchtlingen, die im Rahmen des sogenannten Resettlement einreisen dürfen, auf 125.000 im Jahr erhöhen. Dies wäre eine Verachtfachung der 15.000 Plätze, die Trump für das Fiskaljahr 2021 festgelegt hatte (vgl. Grafik 2: US-Resettlement für Flüchtlinge). Dieser gewaltige Sprung auf den höchsten Stand seit knapp 30 Jahren wäre ein starkes Signal an die Weltgemeinschaft, dass die USA wieder eine tragende Rolle im internationalen Flüchtlingsschutz spielen wollen. 

Bei der Umsetzung dieses Vorhabens dürfte es allerdings zu Verzögerungen kommen, denn die Infrastruktur der USA zur Integration von Flüchtlingen hat in Trumps Amtszeit starken Schaden genommen. Viele der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die im Auftrag der Regierung für die Integration der neuankommenden Flüchtlinge in Arbeitsmarkt und Schulen zuständig sind, mussten schließen. Einer Studie des pro-demokratischen Think Tanks „Center of American Progress“ in Washington ist die Resettlement-Kapazität der USA seit 2017 um knapp 40 Prozent gesunken. Mehr als 130 lokale Büros zur Flüchtlingsintegration mussten schließen. 

Obwohl also Startschwierigkeiten zu erwarten sind, ist davon auszugehen, dass Biden die Flüchtlingsaufnahme in seiner Amtszeit priorisieren wird und die USA wieder deutlich mehr Menschen in Not aufnehmen werden. Das ist angesichts der mehr als 80 Millionen Menschen, die laut UNHCR weltweit auf der Flucht sind, nicht nur humanitär geboten. Biden kann auf diese Weise auch das politische Signal senden, dass sich sein Weißes Haus im Gegensatz zu Trumps Amtszeit um die Nöte von Geflüchteten und um die internationalen Schutzverpflichtungen der USA kümmert.  

 

Recht auf Asyl stärken 

Auch in der Asylpolitik hat Biden versprochen, viele von Trumps Maßnahmen aufzuheben, insbesondere die sogenannten Migrantenschutzprotokolle (MPP), die Trump im Januar 2019 eingeführt hatte. Besser bekannt sind sie unter dem von Kritikern benutzten Namen „Bleib in Mexiko“. Auf Grundlage dieses Programms ließ die Trump-Regierung fast 70.000 Asylsuchende in Mexiko auf den Abschluss ihrer teils jahrelangen Asylverfahren in den USA warten. Viele Asylbewerber harrten unter miserablen Bedingungen in inoffiziellen Flüchtlingscamps auf der mexikanischen Seite der Grenze aus; Ende November 2020 waren es noch rund 27.000 Menschen. In weniger als einem Prozent der MPP-Fälle gewährten die USA am Ende Asyl – was auch daran liegen mag, dass nur ein kleiner Teil der Antragsteller (weniger als acht Prozent) juristischen Beistand hat. Aus den Medien, der Gesellschaft und selbst von Regierungsbeamten, die für die Umsetzung des Programms verantwortlich sind, gab es harsche Kritik an der „Bleib-in-Mexiko“-Regelung. Der Oberste Gerichtshof bestätigte allerdings im März 2020 die Rechtmäßigkeit des Programms. 

Biden hat angekündigt, MPP in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit zu überprüfen. Neu eintreffende Asylbewerber sollen nicht mehr an der Grenze zurückgewiesen werden. Es ist allerdings noch völlig unklar, wie die Regierung mit den Zehntausenden Menschen umgehen wird, die schon früher registriert wurden und noch in den Camps in Mexiko warten oder deren Asylantrag auf Basis von MPP bereits abgelehnt wurde. 

Biden will auch die Deckelung der täglich entgegengenommenen Asylanträge an US-amerikanischen Grenzübergangsstellen beenden. Die Trump-Administration hatte nur eine geringe Anzahl von Asylanträgen am Tag annehmen lassen, um die Antragstellung zu verzögern und zu erschweren. Biden wird vermutlich auch diese Regelung, euphemistisch „Dosierung“ („metering“) genannt, wieder abschaffen. 

Damit Asylanträge in Zukunft schneller bearbeitet werden können, will Biden die Zahl der Einwanderungsrichter verdoppeln. Zudem sollen Beamte der Einwanderungsbehörde USCIS die Einwanderungsgerichte durch schnellere Entscheidungen an der Grenze entlasten. Die auf US-Territorium praktizierte Inhaftnahme von Asylbewerbern für den Zeitraum der Bearbeitung ihrer Anträge will Biden abschaffen. Stattdessen soll es mehr Fallmanagement („Case Management“) geben, wobei Asylbewerber sich unter Melde– und Beratungsauflagen in den USA bewegen und einer Arbeit nachgehen können, während ihr Fall behandelt wird.  Nicht zuletzt will Biden die Familien zusammenführen, die auf Grundlage von Trumps Nulltoleranzpolitik im Jahr 2018 getrennt wurden. Noch immer leben mehr als 500 Kinder in den USA, deren Eltern unauffindbar sind. Viele dieser Eltern waren ohne ihre Kinder abgeschoben worden und gelten nun als verschollen. Eine Task Force soll nun versuchen, diese Eltern ausfindig zu machen und die Familien nach jahrelanger Trennung wieder zusammenzuführen, auch wenn das angesichts der Bedingungen in Mittelamerika in vielen Fällen schwierig werden kann. 

Mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen 

Nachdem Trump selbst die legale Arbeitseinwanderung sukzessive erschwert hatte, will Biden diese wieder erleichtern. Das Reiseverbot für Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern hat der neue Präsident bereits abgeschafft. Zudem will er saisonalen Arbeitsmigranten die Einreise erleichtern und die „ Public Charge Rule“ aufheben, aufgrund derer die US-Behörden Anträge für Visa oder Green Cards leichter ablehnen konnten. Interessanterweise hat Biden auch angekündigt, seine Regierung wolle unter Umständen Städten erlauben, Migranten direkt ins Land zu holen. Dies ist ein Vorrecht, das Städte auch in Deutschland seit einigen Jahren vermehrt fordern, zuletzt vor einigen Monaten, als sie Menschen aus dem abgebrannten Lager Moria auf den griechischen Inseln aufnehmen wollten. 

Regionale und internationale Zusammenarbeit verbessern 

Biden will Trumps Vereinbarungen aufkündigen, durch die El Salvador, Guatemala und Honduras trotz ihrer großen internen Sicherheitsprobleme zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden. Die neue US-Regierung will stattdessen das bilaterale Grenzmanagement mit Mexiko verbessern und Fluchtursachen in den Ländern Mittelamerikas bekämpfen, insbesondere Armut, Bandenkriminalität und Nahrungsmittelunsicherheit. Letztere hat sich durch den Klimawandel im sogenannten trockenen Korridor Mittelamerikas in den letzten Jahren verschärft. 

Auch auf internationaler Ebene könnten Änderungen anstehen. Zwar hat sich die Regierung Biden noch nicht dazu geäußert, ob die USA nun dem von Trump vehement abgelehnten UN-Migrationspakt beitreten werden. Doch ist es wahrscheinlich, dass die USA im Bereich Migration und Flucht wieder mehr auf internationale Partner zugehen werden – auch auf Deutschland. 

Viele dieser Ziele will Biden auch durch eine umfassende Gesetzesinitiative vorantreiben, die er unmittelbar nach seiner Amtseinführung ankündigte. Der Gesamttext des „US Citizenship Act“ ist noch nicht öffentlich, aber der Ankündigung des Weißen Hauses zufolge soll das Gesetz drei Bereiche abdecken: Neben Investitionen in Fluchtursachenbekämpfung und Grenzschutz hat die Legalisierung von Migranten ohne legalen Status Priorität. Die „Dreamer“ sollen sofort eine Green Card bekommen, ebenso Menschen mit einem befristeten Schutzstatus (Temporary Protected Status, TPS, den u.a. viele Haitianer und Mittelamerikaner innehaben) und essenzielle Arbeiter im Bereich der Landwirtschaft. Solche Legalisierungen wurden in den USA zuletzt in den 1980er Jahren vorgenommen; viele Konservative lehnen sie als „Amnestie“ ab.

Box 2 – Wie wichtig ist Migration für Amerikaner? Was Meinungsumfragen verraten.

Das Politikfeld Migration hat in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit im Vergleich zum Wahlkampf vor vier Jahren etwas an Bedeutung eingebüßt. Trotzdem hielt laut einer Umfrage des unabhängigen Pew Research Center vom August 2020 eine Mehrheit der Wähler (52 Prozent) das Thema Einwanderung nach wie vor für sehr relevant. 

Wie bei vielen politischen Fragen gehen die Meinungen zwischen Demokraten und Republikanern deutlich auseinander: 46 Prozent der Biden-Anhänger werten Migration als besonders wichtig im Vergleich zu 61 Prozent der Trump-Wähler. Für Trump-Befürworter rangiert Einwanderung in ihrer politischen Prioritätensetzung sogar knapp vor der Waffengesetzgebung (60 Prozent) und weit vor dem Coronavirus (39 Prozent) und dem Klimawandel, den lediglich 11 Prozent als sehr wichtig bewerten. 

  

Bemerkenswert ist, dass während Trumps Amtszeit in der Bevölkerung der Zuspruch für Einwanderung zunahm. Bei einer Umfrage des Instituts Gallup im Jahr 2020 unterstützte bei einer Umfrage ein Drittel (34 Prozent) der Befragten „mehr Einwanderung“ in die USA – der höchste Stand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1965. “Weniger Einwanderung“ favorisierten 28 Prozent, während 36 Prozent das derzeitige Niveau von Einwanderung beibehalten wollten.

 

III. VIER HINDERNISSE UND EINE CHANCE FÜR BIDEN

Präsident Biden wird sicherlich einen Teil seiner hochgesteckten Ziele in der Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik erreichen können. Doch vier große Hindernisse erschweren die Umsetzung seiner Pläne: 

1. Covid-19 und die Wirtschaftskrise sind dringendere Probleme. Biden übernimmt ein Land in einer Doppelkrise. Bis Januar 2021 hat die Covid-19-Pandemie in den USA bereits 400.000 Menschen das Leben gekostet. Zudem herrscht durch die pandemiebedingten Einschränkungen die schwerste Wirtschaftskrise seit der Great Depression. Auch wenn Biden in den ersten zwei Wochen seiner Präsidentschaft bereits viele Änderungen der Migrationspolitik vorgenommen hat, so wird ihm trotzdem durch die beiden akuten Krisen wenig Zeit bleiben, sich dem Thema Migration zu widmen

 

2. Der konservative Supreme Court kann Präsidialerlässe stoppen. Durch die Ernennung von Amy Coney Barrett vor wenigen Monaten wird der Supreme Court mit einer Mehrheit von sechs zu drei Richtern von Konservativen dominiert. Er kann Erlässe Bidens, die auf eine Liberalisierung der Einwanderungspolitik abzielen, blockieren – und wird dies voraussichtlich auch tun. 

Der oberste Gerichtshof der USA hat in den vergangenen Jahren erheblich an Macht gewonnen. Dies ist eine Folge der Tatsache, dass die Gewaltenteilung in den USA immer weniger funktioniert. Wegen des Streits der beiden Parteien im Kongress wird die US-Migrationspolitik immer weniger von der Legislative bestimmt, wie es eigentlich vorgesehen und sinnvoll ist. Stattdessen wird sie von der Exekutive beschlossen und dann von der Judikative abgesegnet oder blockiert. Alle relevanten Änderungen der Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte waren nicht primär auf neue Gesetze zurückzuführen, sondern auf Präsidialerlässe (Executive Orders) sowie auf Anweisungen (Regulations) der Ministerien, die dann für alle Beamten bindend sind. Trump hatte mehr als 400 Präsidialerlässe im Bereich der Einwanderungspolitik unterzeichnet. Die häufige Anwendung dieses Mittels ist allerdings kein Novum der Amtszeit Trumps, sondern eine seit Jahren immer mehr zunehmende Praktik. Auch Obama nutzte Präsidialerlässe regelmäßig für die Migrationspolitik und führte auf diesem Weg etwa das oben besprochene DACA-Programm ein. 

3. Biden muss den linken Flügel seiner Partei zufrieden stellen. Bei Anhängern des linken Flügels der Demokraten gilt Biden nach wie vor als Handlanger Obamas, den sie seinerzeit als „Obersten Abschieber“ (Deporter-in-Chief) kritisierten. Zur Erinnerung: In Obamas erster Amtszeit schob die Regierung mehr als drei Millionen Menschen ab oder nach Mexiko zurück; in seiner zweiten waren es mehr als zwei Millionen Menschen. Unter Trump fielen diese Zahlen dann merklich: In den ersten drei Amtsjahren schob die Regierung 1,4 Millionen Menschen ab bzw. zurück (vgl. Grafik 3: Abschiebungen und Zurückschiebungen, 2009-2019.)

 

Trumps bescheidenere Abschiebebilanz hatte mehrere Gründe: Erstens sank in seinem ersten Amtsjahr tatsächlich auch die illegale Migration – und wo weniger Menschen ankommen, werden oft auch weniger abgeschoben. Zweitens waren unter Obama mehr Mexikaner als Mittelamerikaner angekommen, deren Abschiebung aufgrund eines Abkommens zwischen den USA und Mexiko schneller möglich ist. Drittens weigerten sich viele Städte, die sogenannten „sanctuary cities“, immer öfter, wegen Bagatelldelikten festgenommene Menschen (beispielsweise wegen geringfügigen Verkehrsdelikten), die sich dann als irreguläre Migranten herausstellten, aus der Haft an die ICE-Beamten zu übergeben. Der vierte und vielleicht umstrittenste Grund ist, dass Trumps viele neue Politiken die zuständigen Agenturen schlicht überforderten und sie weniger Kapazitäten für Abschiebungen hatten, weil sie zeitgleich so viele Neuerungen umsetzten mussten. 

Obama hatte in seiner Amtszeit zwar auch liberale Migrationspolitiken eingeführt, wie das DACA-Programm für Dreamer sowie einige Jahre später ein ähnliches Programm für deren Eltern (das, unter dem Namen DAPA bekannt, allerdings von Gerichten gestoppt wurde). Aber das vorherrschende Narrativ von Obamas restriktiver Einwanderungspolitik veränderte sich dadurch kaum.

 

Biden hat bereits versucht, sich von diesem Erbe Obamas loszusagen, als er die hohe Anzahl an Abschiebungen als „großen Fehler“ bezeichnete. Es könnte sein, dass Biden in dem Versuch, aus dem langen Schatten der Obama-Einwanderungspolitik hervorzutreten, weiter auf den linken Parteiflügel zugeht. Dabei darf er allerdings den moderaten Teil seiner Partei nicht verprellen. Seine Personalentscheidungen deuten darauf hin, dass Biden insgesamt eher auf die Mitte zielt. 

4. Die Neuordnung der Migrationspolitik braucht Zeit. Biden wird einige von Trumps Beschlüssen in der Migrationspolitik recht leicht aufheben können. Dazu gehören viele der Präsidialerlässe, etwa das Einreiseverbot für die Bürger einiger afrikanischer und asiatischer Staaten, das mit einem simplen Federstrich außer Kraft zu setzen war.  Andere Änderungen müssen aber einen längeren bürokratischen Prozess durchlaufen. Beispielsweise bedarf es einer längeren Prozedur inklusive einer öffentlichen Kommentierung, die Monate in Anspruch nehmen kann, um die „Public Charge Rule“ für neue Migranten rückgängig zu machen. 

Andere Reformen können nicht vom Präsidenten, sondern nur von seinen Kabinettsmitgliedern auf den Weg gebracht werden. Beispielsweise kann nur Bidens neuer Generalbundesanwalt Merrick Garland die Entscheidung seines Vorgängers Jeff Sessions umkehren, der 2018 die Verfolgung durch kriminelle Banden oder häusliche Gewalt als Asylgründe abschaffte. Nur der neue Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas, der unter Obama als stellvertretender Direktor des Ministeriums und Direktor der US-Einwanderungsbehörde USCIS (United States Citizenship and Immigration Services) diente, kann von seinem Vorgänger erlassene Anweisungen und Richtlinien an die ICE-Beamten, etwa zur Priorisierung von Abschiebungen, per Dienstanweisung außer Kraft setzen. Dass es zu diesen Änderungen kommt, ist aus politischen Gründen wahrscheinlich, doch die Umsetzung wird Zeit brauchen.

Die Abkommen, mit denen mehrere mittelamerikanische Länder zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden, können wieder aufgehoben werden. Doch bedarf es dafür erneuter bilateraler und möglicherweise auch regionaler Verhandlungen. Da nicht alle Details der Vereinbarungen öffentlich waren, könnte sich auch diese Aufgabe als schwieriger oder zumindest langwieriger herausstellen als zunächst angenommen. 

5. Bidens Chance: Das Patt im Senat: Diese vier Hürden sollten jedoch nicht davon ablenken, dass sich durch die Senatswahlen in Georgia im Januar 2021 die Machtverhältnisse zu Gunsten von Joe Biden verschoben haben: Durch den Doppelsieg der Demokraten Raphael Warnock und Jon Ossoff in Georgia besteht nun ein Patt im Senat, das die Vizepräsidentin mit ihrer Stimme zugunsten der Demokaten auflösen kann. 

Einige Beobachter frohlocken (und andere fürchten) nun, Biden könne „durchregieren“, also Gesetze ohne jegliche republikanische Unterstützung verabschieden. Im Migrationsbereich gibt es zwar eine Reihe kleinerer Gesetzesänderungen, die die Demokraten nun relativ leicht vorantreiben können, beispielsweise die Überführung einiger undokumentierter Migranten in einen legalen Status (ähnlich der deutschen Debatte um den Spurwechsel von Asylbewerbern in einen anderen Aufenthaltstitel), eine Reform des Programms für temporäre Arbeitsvisa sowie eine Erhöhung der seit langem als zu gering bewerteten Obergrenze von 140.000 berufsbezogenen Green Cards pro Jahr in Verbindung mit einem regulativen Mechanismus, der diese Obergrenze stets an die wirtschaftliche Lage anpassen soll. Diese Änderungen würden sicherlich einige dringende Probleme lösen. 

Doch eine umfassende Reform, die das völlig veraltete Gesetz von 1965 ersetzen würde, bleibt trotz Bidens umfassendem Vorschlag für einen „US Citizen Act“ unwahrscheinlich. Denn die Republikaner im Senat können Gesetzesvorschläge mit dem Instrument des Filibusters blockieren. Um das zu verhindern, ist eine Dreifünftel-Mehrheit nötig (also 60 von 100 Senatoren). Die 50 Demokraten im Senat brauchen also die Unterstützung von mindestens zehn republikanischen Senatoren, sonst bleibt der Vorschlag unverwirklicht. Da aber bereits in zwei Jahren die Midterm-Wahlen anstehen, bei denen die Wähler Republikaner abstrafen können, hat die Suche nach zehn Unterstützern wenig Aussicht auf Erfolg.

Box 3 – Auswirkungen der Pandemie: Die große Unbekannte

Eine große Unbekannte für Bidens Amtszeit stellt die Corona-Pandemie dar. Mit ihr hatte Trump weitere restriktive Maßnahmen begründet. Das Weiße Haus erließ beispielsweise im März 2020 eine Anordnung über das Center for Disease Control and Prevention (CDC), nach der an der Grenze ankommende Menschen unmittelbar zurückgewiesen werden können, wenn die Gefahr besteht, dass sie eine Krankheit wie Covid-19 verbreiten könnten. Dies führte dazu, dass die USA bis September mehr als 150.000 Menschen, unter ihnen etwa 9.000 Kindern, das Recht auf Asylantragstellung verwehrten.

Auch auf die bereits in den Vereinigten Staaten lebenden undokumentierten Einwanderer hat die Pandemie einen erheblichen Einfluss. Sie sind vergleichsweise großen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt, weil sie oft in der Landwirtschaft, der industriellen Produktion oder im Dienstleistungsgewerbe tätig sind, wo der direkte Kontakt zu anderen Menschen unvermeidbar ist. Zudem ist es für sie schwieriger, Krankenversicherungen abzuschließen. 

Die Abschiebungen aus den USA belasten zudem die Gesundheitssysteme der Herkunftsländer. Insbesondere Guatemala monierte bereits in der Anfangsphase der Pandemie, dass die Vereinigten Staaten viele infizierte Personen abschieben würden. Nach Gesprächen zwischen den Regierungen beider Länder erklärte sich das US-Heimatschutzministerium zwar bereit, nur Personen abzuschieben, die negativ getestet worden waren. Allerdings testeten mehrere Abgeschobene trotz dieses Versprechens positiv, als sie bei der Ankunft in Guatemala noch einmal untersucht wurden.

Eine zweite Hürde besteht bei den Demokraten selbst. Denn nicht nur zwischen den beiden Parteien, sondern auch zwischen den Flügeln der demokratischen Partei sind die Gräben tief. Auch in früheren Einwanderungsdebatten konnten sich die Fraktionen innerhalb der Partei nicht darauf einigen, welche Parameter bei der Steuerung von Einwanderung zu priorisieren sind. 

In den letzten 15 Jahren ist eine Reform wie der „US Citizens Act“ bereits zweimal trotz parteiübergreifender Versuche gescheitert (2007 und 2013). Daher gilt eine umfassende und überparteilich unterstützte Migrationsreform in den USA mittlerweile als heiliger Gral: begehrenswert und Erlösung versprechend, aber leider unauffindbar. Auf lange Sicht braucht es aber eine solche Reform, um die Einwanderungsgesetzgebung so zu verändern, dass sie die Realitäten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reflektiert – und nicht mehr die der 1960er Jahre. Ohne sie werden Bidens Versuche, den Trumpschen Fußabdruck in der US-Migrationspolitik zu löschen, nur teilweise gelingen. 

 

IV. WAS TUN? EMPFEHLUNGEN FÜR DIE DEUTSCHE REGIERUNG

Bisher spielte Einwanderungspolitik im deutsch-amerikanischen Verhältnis keine nennenswerte Rolle. Das sollte sich ändern. Denn bei allen Hürden, die Joe Biden bei der Umsetzung seiner Migrationsagenda bewältigen muss, bietet seine Präsidentschaft für Deutschland auch eine große Chance: Gemeinsam können beide Länder versuchen, den kaputten internationalen Flüchtlingsschutz wiederherzustellen. Das liegt offensichtlich auch im deutschen Interesse.

Statt sich nur auf eine „europäische Lösung“ zu konzentrieren (die ohne massive Machtverschiebungen in vielen EU-Ländern wenig realistisch ist), sollte Deutschland neue Koalitionen schmieden, um die Herausforderungen bei der Bewältigung von Flucht und Vertreibung auf mehr – und vor allem auch breitere – Schultern zu verteilen. 

Konkret ergeben sich für deutsche Politiker zwei Konsequenzen: Erstens sollten sie die Amtszeit von Biden nutzen, um eine Flüchtlingskoalition mit den USA und anderen Demokratien wie Kanada, Frankreich, Spanien, Portugal und den Niederlanden zu begründen. Gemeinsam sollten diese Länder sich zu einer Trendumkehr bei den seit Jahren fallenden Resettlement-Zahlen verpflichten. Zudem sollten sie darauf aufmerksam machen, dass andere mächtige Länder wie China und Russland ihre Verantwortung für den Flüchtlingsschutz seit Jahren weitgehend ignorieren. 

Der Einwand, dass Deutschland gerade in einem Wahljahr vermutlich kein Interesse an der Aufnahme weiterer Flüchtlinge hat, mag berechtigt sein. Er verkennt aber die Dringlichkeit der Probleme.  Der Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria, die illegalen Zurückweisungen an Europas Außengrenzen, die menschenunwürdige Behandlung von Migranten auf dem Balkan –diese dramatischen Ereignisse gibt es auch deshalb, weil legale Wege nach Europa fehlen. 

Resettlement ist das, was deutsche Politiker regelmäßig fordern: Ein legaler Weg für Flüchtlinge, über den eine geordnete und sichere Ausreise aus Flüchtlingscamps möglich ist. Solange Deutschland diese legalen Wege aber nur rhetorisch beschwört und nicht aktiv und in einem relevanten Umfang schafft, wird sich an der verzweifelten Situation in den Lagern kaum etwas ändern. Wenn Deutschland jedoch willige und ausreichend große Partner gewinnt, kann eine solche Koalition dazu beitragen, dass Resettlement nicht länger ein eher theoretisches Versprechen ist, sondern wieder ein tatsächlich nutzbarer Ausweg für Flüchtlinge. 

Zweitens sollten deutsche Politiker aus den Fehlern der USA lernen. Trump Migrationspolitik war unausgewogen. Er ließ den Außengrenzschutz verstärken, ohne in die Fluchtursachenbekämpfung zu investieren und ohne für ein besseres Funktionieren des gesamten Migrations- und Asylsystems zu sorgen, etwa durch Verstärkung und Unterstützung der Asylentscheider und vielen anderen Beamten, die die komplexen und teils widersprüchlichen Regeln umsetzen müssen. Damit verursachte Trump nicht nur immenses menschliches Leid und beschädigte die internationale Reputation der USA, sondern er verfehlte auch sein Ziel: Statt dauerhaft abzunehmen, stiegen die illegalen Grenzüberquerungen in die USA während Trumps Amtszeit auf den höchsten Stand seit zehn Jahren.  

Die Lektion für Deutschland und Europa aus Trumps Bilanz lautet: Wer Migration sinnvoll steuern will, kann nicht einseitig auf Abschottung setzen. 

 

Bibliographic data

Rietig, Victoria, and Constantin Eckner. “US-Migrationspolitik unter Joe Biden.” February 2021.

DGAP Analyse Nr. 1, 03. Februar 2021, 15 S.

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