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Oct 02, 2014

Hongkong stellt die Systemfrage

Die großen wirtschaftlichen Erfolge Chinas haben die dahinterliegenden Probleme verdeckt. Die Proteste in Hongkong sind ein Beleg dafür, wie instabil das Land ist.

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Die Ereignisse in Hongkong kommen nicht überraschend. China ist seit Jahren strukturell instabil. Das wird sich – unabhängig vom Ausgang der derzeitigen Proteste in Hongkong – so schnell auch nicht ändern. Der Grund ist einfach: Die Probleme, die das Land trotz der großen wirtschaftlichen Fortschritte angehäuft hat, sind enorm.

Nach offiziellen Angaben bedrohen bis zu 180.000 Demonstrationen und Proteste im Jahr die nur vermeintlich stabile Herrschaft der Kommunistischen Partei. Die Menschen protestieren gegen Korruption, Umweltverschmutzung, Kaderwillkür, Umsiedlungszwänge oder soziale Ungerechtigkeiten. Wann und wo sie jeweils ausbrechen, ist ebenso schwer zu prognostizieren wie die Nachahmungseffekte, die sehr schnell das ganze Land großflächig destabilisieren könnten. Bislang bleiben sie meist vereinzelt und können trotz der schnellen Verbreitung über die sozialen Netzwerke relativ leicht von den Verantwortlichen begrenzt und in Schach gehalten werden. Außerdem fehlt es in der Regel an Kameras, die die entsprechenden Bilder transportieren. So fallen die medialen Effekte, die weitere Proteste anfachen, aus.

Hongkong ist dabei immer noch ein Sonderfall: Solange die Kronkolonie unter britischer Herrschaft stand, hat London alles versucht, um demokratische Proteste zu unterdrücken. Erst mit der Übergabe 1997 hat sich das unter dem letzten Gouverneur Chris Patten geändert. Die Menschen in Hongkong haben daran geglaubt, dass die politischen Versprechen, die sich hinter der Formel „Ein Land – zwei Systeme“ verbergen, auch eingehalten würden. Heute fordern sie diese Versprechen ein. Aber in Peking herrscht trotz aller marktwirtschaftlichen Erfolge immer noch eine Kommunistische Partei, die demokratischen Entscheidungen zutiefst misstraut und sich weigert, einem offenen, demokratischen Wahlprozess das Schicksal eines nicht unwichtigen Teils des Landes anzuvertrauen.

Die Menschen in Hongkong aber sind demonstrationserprobt. Seit 1989 demonstrieren sie alljährlich am 4. Juni zum Gedenken an die Niederschlagung der Studentenbewegung. Seit 1997 sind ebenso alljährlich Demonstrationen für mehr Demokratie am 1. Juli, dem Jahrestag der Rückgabe, an der Tagesordnung. Trotzdem haben die jetzigen Demonstrationen, die das Zentrum Hongkongs seit Tagen lahmlegen, eine neue Qualität. Sie stellen Peking die Systemfrage und das sollte auch ausländische Beobachter mit Sorge erfüllen. Auf Systemfragen hat Peking immer mit aller Härte geantwortet. Wenn allerdings 17-jährige Schüler zu zentralen Protagonisten solcher Demonstrationen werden, muss man auch die Frage stellen, ob allen Beteiligten die Risiken einer offenen Konfrontation tatsächlich bewusst sind. Naivität im Umgang mit einem in seiner Stabilität bedrohten kommunistischen System ist nicht nur gefährlich, sondern fast schon fahrlässig.

Der Westen hat ein Interesse an einem stabilen China

In der aufgeladenen und mit Tränengas und Polizeieinsätzen angeheizten Situation bleibt nur die Hoffnung, dass es Akteure auf beiden Seiten gibt, die für Besonnenheit plädieren. Die Erwartungen an die offiziell Verantwortlichen sind dabei eher gering; die Demonstranten rechnen mit einem brachialen Vorgehen der chinesischen Führung. Das wird auch dieses Mal vermutlich der Fall sein, es sei denn, es findet sich ein Weg, der beiden Seiten Kompromissfähigkeit ermöglicht, ohne den berühmten und sprichwörtlichen Gesichtsverlust zu erleiden. Ein solcher Weg ist im Augenblick allerdings nicht in Sicht. Die entscheidende Frage dürfte lauten, wie Peking in den nächsten Tagen auf die eskalierenden Demonstrationen reagiert.

Aber mit Blick auf die internationalen Reaktionen steht ebenso fest: Der vorschnelle Applaus aus den USA ist scheinheilig und zum Teil regelrecht verlogen. Erstens haben die USA außer wohlklingenden Worten nichts anzubieten, womit sie die Demonstranten auf den Straßen tatsächlich unterstützen könnten. Und zweitens ist die langfristige Stabilität Chinas – Hongkong hin oder her – ebenso im amerikanischen wie im europäischen Interesse. Wer möchte, kann sich in der derzeitigen geopolitisch angespannten und wirtschaftlich höchst belasteten Weltsituation für einen Augenblick vorstellen, was eine auch nur zeitweise Destabilisierung von China global für Folgen hätte. Schadenfreude oder vorschnelle Erwartungen an Demokratisierungserfolge sind völlig fehl am Platz. Leiden werden am Ende nämlich nur die Menschen in Hongkong. Aber dann werden die westlichen Medien längst wieder den nächsten Krisenherd entdeckt haben, an dem sie sich besserwisserisch abarbeiten können.

Dieser Artikel erschien am 30. September als Gastbeitrag bei Zeit Online.

Bibliographic data

Sandschneider, Eberhard. “Hongkong stellt die Systemfrage .” October 2014.

Die Zeit, 30. September 2014.