Kommentar: Europa tut nicht genug für die NATO

Kann die NATO handlungsfähig bleiben, wenn an allen Stellen das Geld fehlt? Können sich die Mitglieder aufeinander verlassen, wenn ihre Sicherheitsinteressen voneinander abweichen? Diese Fragen musste das NATO-Gipfeltreffen in Chicago beantworten, als es darum ging, die Idee der „Smart Defense“ mit Leben zu füllen. "Europa tut nicht genug für die NATO", bilanziert Henning Riecke, Sicherheitsexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), in der Zeitschrift BUSINESS & DIPLOMACY.

Das westliche Bündnis hat zwar keinen gleichstarken Gegner mehr, doch stehen ernste Risiken auf seiner Aufgabenliste. Oft ist unklar, ob eine echte Bedrohung besteht. Wird aus einem lokalen Konflikt ein regionaler Flächenbrand? Führt Extremismus in einem Land zu internationalem Terrorismus? Machen zwielichtige Aktivitäten auf einem Schwarzmarkt einen mittleren Staat zu einer Nuklearwaffenmacht? Politische Antworten müssen trotzdem vorausschauend entwickelt werden. Das macht die Allianz so wichtig: Sie ermöglicht strategischen Dialog, erlaubt Vorausplanung und stellt flexible Fähigkeiten für militärisches Eingreifen zur Verfügung.

Eine Sollbruchstelle der eigentlich stabilen NATO ist das Kräfteungleichgewicht zwischen den USA und ihren europäischen Partnern. Amerika steht für Dreiviertel der Rüstungsausgaben, die die Allianz insgesamt zusammenbringen kann. Die übrigen 27 Mitglieder teilen sich den Rest. Ungleiche Militärausgaben sind zwar nichts Neues in der NATO, doch belastet diese wachsende Fähigkeitslücke ihre Handlungsfähigkeit.

Ein Grund dafür ist, dass künftig militärische Fähigkeiten mehr als bislang über den Erfolg einer Mission entscheiden werden. Das Modell Afghanistan wird kaum das Vorbild für die kommende Operationen sein: Zu unsicher ist der Ausgang des politischen Aufbaus in dem umkämpften Land. Künftige Einsätze werden eher dem Modell Libyen gleichen: zeitlich befristet, kaum Bodentruppen, kaum zivile Verantwortung nach dem Ende des Konfliktes. Die Europäer verweisen darauf, dass sie 90 Prozent der Luftwaffeneinsätze im Krieg der Operation „Unified Protector“ in Libyen durchgeführt haben. Dennoch ist klar, dass ohne amerikanische Lenkwaffen und Aufklärung der Einsatz unmöglich gewesen wäre. Auch bei strategischer Verlegung, Luftbetankung oder Gefechtsfeldüberwachung ist die NATO bislang von den USA abhängig. Es lässt sich lange über die Gründe diskutieren, warum die Europäer geizig sind, wenn es um ihre Verteidigung geht.

Eine Seite des Ungleichgewichtes besteht aus dem gewaltigen Verteidigungsbudget der Amerikaner, an dem sich Europa nicht messen muss. Auch nach den Kürzungen von einer knappen Billion Dollar über das kommende Jahrzehnt werden die USA nicht wirklich weniger Geld ausgeben. Lediglich weitere Steigerungen bleiben aus. In Europa treffen Einsparungen nach der Wirtschafts- und Finanzkrise oft an erster Stelle die Verteidigungsausgaben. Deutschland will über 8,3 Mrd. € in fünf Jahren einsparen und baut 70.000 Soldaten ab. Frankreich geht nach erheblichen Kürzungen nun nochmal durch eine Einsparungsphase im Bereich von 3,5 Mrd. Euro, auch Großbritannienfährt das Verteidigungsbudget um 8 Prozent zwischen 2011 und 2015 zurück. Durch diese Kürzungen beschneiden auch die großen europäischen NATO-Mitglieder die Einsetzbarkeit ihrer Streitkräfte (Deutschland hält trotzdem an der Zielgröße fest, 10.000 Soldaten im Ausland einsetzen zu können). Europa hat sich aber offenbar daran gewöhnt, dass aufwändige Militäreinsätze in erster Linie von den USA angeführt und ermöglicht werden.

Die NATO ist die stärkste Militärorganisation der Welt, die auch viel für den Frieden innerhalb Europas getan hat. Doch ist Europa knauserig, wenn es um die Lastenteilung geht. Natürlich ist es legitim, dass die Europäer für ihre Verteidigungsausgaben ihre eigenen Interessen zum Ausgangspunkt nehmen. Litauen, Deutschland oder Portugal sehen ihre Sicherheit eher in Europa bedroht und müssen sich bei den Verteidigungsausgaben nicht die globale Militärpräsenz der USA zum Vorbild nehmen. Diese selbst gewählte Beschränkung verstellt aber den Blick auf zwei Zusammenhänge: Erstens können terroristische Netzwerke, Cyberangriffe oder Raketen über weite Distanzen Schaden anrichten – Risiken können in einer globalisierten Welt eben weltweitwirksam sein. Und zweitens muss eine Allianz für alle Mitglieder relevant sein, auch für das stärkste.

Die NATO wäre ohne die USA nichtmehr viel wert. Wenn Amerika irgendwann darauf verzichten sollte, seine Fähigkeiten für die Krisenreaktion in Europa bereitzustellen, und Europabliebe verteidigungspolitisch weiter zurück, dann hätte die NATO ihren Sinn auch für den alten Kontinent verloren. In Washington fragen Kritiker, warum Amerika für die Allianz den Großteil der Zeche zahlen soll, während andere Mitglieder ihren Teil schuldig bleiben. Die Brandrede des US-Verteidigungsministers Robert Gates, der bei seinem Abschied aus dem Amt vor einer Zweiklassengesellschaft in der NATO warnte, sollte auch ein Signal an die bündnismüden Kritiker sein, dass Obama das Problem ernst nimmt.

Hier soll „Smart Defense“ weiterhelfen. Mit den Beschlüssen von Chicago will die NATO ihre militärischen Fähigkeiten auch in der Krise verbessern. Die Mitglieder sollen sich fragen, welche Aufgaben die wichtigsten sind(Priorisierung). Verbündete sollen auf bestimmte Fähigkeiten ganz verzichten (Spezialisierung). Und: Rüstungsprojekte können gemeinsam günstiger verwirklicht werden (Kooperation). Die Liste der Vorschläge, die in Chicago vorgestellt wurden, enthält einige neue Ideen, aber auch laufende Vorhaben wie die Allied Ground Surveillance (AGS), für die die Verbündeten fünf große Drohnen beschaffen wollen. Deutschlandwill sich, nachdem einige Partnerabgesprungen sind, nun mit dem höheren Anteil von 483 Mio. Euro an dem Projekt beteiligen und kann Punkte beider Lastenteilung gut machen.

Warum soll „Smart Defense“ mehr Kooperation bewirken als vorherige Initiativen in NATO und EU, die nur schleppend vorangingen? In der NATO wird argumentiert, dass diesmal der Budgetdruck für die nötige Dynamik sorgt. Allerdings bleiben die Probleme ungelöst, die die Rüstungszusammenarbeit in der Vergangenheit aufgehalten haben. Staaten verzichten nicht gern auf Fähigkeiten und scheuen sich davor, Souveränität abzugeben. Auch denken sie an ihre eigene industrielle Basis. Niemand macht sich gerne von Partnerstaaten abhängig, die im Ernstfall vor einem Einsatz zurückschrecken könnten – oder deren Beteiligung von der Zustimmung des Parlamentes abhängt, wie in Deutschland. Gemeinsame Rüstungsprojekte sind im Übrigen auch teuer.

Diese Probleme muss die NATO nun offensiv angehen und Vertrauen schaffen. Dazu müssten die großen Mitglieder – darunter auch Deutschland – Führung übernehmen, gemeinsame Projekte vorantreiben, Verlässlichkeit herstellen und selbst auf Fähigkeiten verzichten. Ob „Smart Defense“ zum Abbau der Ungleichgewichte in der NATO beitragen kann, hängt von den Mitgliedstaaten ab.

Henning Riecke leitet das USA-Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Sein Kommentar erschien auch in der Zeitschrift BUSINESS & DIPLOMACY.

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