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Jun 25, 2025

Sicherheitspolitik mit Strategie

Deutschland braucht eine Nationale Risikoanalyse
Visual Tagesspiegel Oped SiPo mit Strategie

In diesen unruhigen Zeiten muss Deutschland weg von reaktiver Krisenverwaltung hin zu strategischer Zukunftsgestaltung. Nötig ist eine systematische Ermittlung der Bedrohungen für unser Land.

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Dieser Artikel erschien ursprünglich am 25.06.2025 als Gastbeitrag im Tagesspiegel.

Für Deutschland ist die viel zitierte Zeitenwende in jeder Hinsicht ein Epochenwechsel. Wie 1989/91 stehen wir wieder einmal an der Bruchkante zwischen alter und neuer Ordnung.

Doch anders als 1990 stehen die Zeichen diesmal auf Sturm: Sicherheitspolitisch in besonderer Weise exponiert und durch eine vernachlässigte Verteidigungspolitik vom Schutz anderer abhängig, wirtschaftlich aufgrund von Rohstoff- und Exportabhängigkeit verletzlicher als andere Volkswirtschaften, ist Deutschland auf diesen Epochenwechsel schlecht vorbereitet.

Dies sind die Kernherausforderungen, denen sich der neu eingerichtete Nationale Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt zu widmen hat – laut Koalitionsvertrag das Gremium, das „die wesentlichen Fragen einer integrierten Sicherheitspolitik koordinieren, Strategieentwicklung und strategische Vorausschau leisten, eine gemeinsame Lagebewertung vornehmen und somit das Gremium der gemeinsamen politischen Willensbildung“ sein soll.

Es geht also um nichts weniger als die Gestaltung der künftigen Außen- und Sicherheitspolitik in einer Welt der Unordnung – weg von reaktiver Krisenverwaltung hin zu strategischer Zukunftsgestaltung. Dieser Prozess muss mit einer systematischen Ermittlung der Gefährdungen und Bedrohungen unseres Landes beginnen. Was Deutschland nun braucht, ist eine Nationale Risikoanalyse.

Sicherheitsstrategie war nur ein erster Schritt

Es hat lange gedauert, bis in Deutschland die Erkenntnis gereift ist, dass das Land ein Zentrum der außen- und sicherheitspolitischen Analyse, Koordinierung und Willensbildung im Bundeskanzleramt benötigt.

Zwar hat die abgewählte Bundesregierung mit der Erarbeitung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie einen wichtigen Schritt in Richtung Strategiefähigkeit gemacht. Das Ergebnis ist aber nicht vollständig zufriedenstellend. Das Dokument bietet eine sicherheitspolitische Standortbestimmung und benennt Herausforderungen und Aufgaben, setzt bei deren Bearbeitung aber keine Prioritäten und überlässt die politisch-strategische Ausgestaltung der jeweiligen Ressortzuständigkeit.

Offensichtlich ist der Nationalen Sicherheitsstrategie auch keine umfassende Risikoanalyse vorausgegangen. Zu wissen, wogegen es sich prioritär zu wappnen gilt, ist aber unerlässlich, um strategische Prioritäten zu setzen. Denn nur so können aufkommende Trends bewertet und disruptive Ereignisse antizipiert werden. In den Niederlanden, in Finnland, Großbritannien und den USA ist das schon lange gute politische Praxis.

Risikoanalyse ist kein Hexenwerk; Methoden und Instrumente strategischer Vorausschau werden seit Jahrzehnten von Thinktanks, staatlichen Einrichtungen, vor allem aber von der Privatwirtschaft genutzt, um Risiken rechtzeitig zu erfassen und Strategien daraus abzuleiten.

Finnland ist ein Vorbild

In Deutschland wird der Nationale Sicherheitsrat künftig wohl der Ort sein, an dem die Nationale Sicherheitsstrategie erstellt oder zumindest koordiniert werden wird. Er dürfte die zentrale Stelle sein, in der die Fäden einer Nationalen Risikoanalyse zusammengeführt werden.

Hierfür kann der Nationale Sicherheitsrat auf Erfahrungen anderer Länder zurückgreifen. Als „Mutter aller Sicherheitsräte“ drängt sich das US-amerikanische Vorbild auf: Neben einer jährlichen Bedrohungsanalyse samt öffentlicher Anhörung haben vor allem die seit 1997 erscheinenden „Global Trends“, die Berichte des National Intelligence Council, zu vorausschauendem Regierungshandeln in den Vereinigten Staaten beigetragen.

Lehrreich sind aber vor allem die Entwicklungen in Finnland, das international als Vorbild für strategische Vorausschau gilt. Finnlands Erfolgsrezept basiert auf einer engen Verzahnung von Exekutive, Legislative, Wissenschaft und Gesellschaft. Koordiniert vom Büro des Premierministers und umgesetzt durch ein ressortübergreifendes Vorausschau-Netzwerk, betreibt das Land seit den 1990er-Jahren eine systematische Zukunftspolitik.

Besondere Bedeutung kommt dem Zukunftsausschuss des finnischen Parlaments zu, der die obligatorisch vorzulegenden Zukunftsberichte der Ministerien prüft, konkurrierende Analysen erstellt und so langfristige Perspektiven in die parlamentarische Arbeit und zur Kontrolle der Exekutive einbringt. Dabei geht es weniger um Prognose als vielmehr um kollektive Orientierung im Zustand andauernder Ungewissheit.

Lektionen aus Großbritannien

Doch für Deutschland lohnt vor allem ein Blick über den Ärmelkanal. Wiewohl der Premierminister im britischen Regierungssystem deutlich mehr Kompetenzen hat als der Bundeskanzler im deutschen Regierungsbetrieb, zog David Cameron 2010 die außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsstrukturen noch näher an sein Cabinet Office heran.

Anlass hierzu gaben primär die Erfahrungen aus dem Irakkrieg: Nach Ansicht der 2009 eingesetzten Chilcot-Kommission war die britische Regierung an der Seite der USA übereilt ins Feld gezogen: Eine grundlegende politische Zieldefinition fehlte, Lagebild und militärische Vorbereitungen waren unzureichend, eine Risikofolgenabschätzung nicht vorhanden.

Die Kommission bemängelte vor allem die Zusammenarbeit zwischen Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungsministerium; ein vergleichbares Bild zeichnete auch die Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung des deutschen Afghanistan-Engagements.

Um solche Koordinationsdefizite zu vermeiden, etablierte David Cameron im Mai 2010 einen Nationalen Sicherheitsrat (NSC) als zentrales Gremium für strategische Sicherheitsfragen innerhalb seines Cabinet Office. Dessen wichtigste Aufgabe ist die Erstellung und Beurteilung von Lagebildern angesichts einer sich rapide verändernden Sicherheitslandschaft – von traditionellen Konflikten über Terrorismus, Cyberbedrohungen und hybride Bedrohungen bis hin zu Pandemien, der Disruption von Lieferketten sowie den Folgen des Klimawandels.

Ein facettenreiches Mosaik zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufügen, bleibt jedoch Aufgabe von Politik, denn allein sie hat das Mandat, das Gemeinwohl im Blick zu behalten, Interessengegensätze abzuwägen und einen Interessenausgleich herzustellen.

Einschätzungen jenseits der Tagespolitik

Was Deutschland angesichts des Epochenbruchs nun braucht, ist ein umfassendes, einheitliches Lagebild, das politisch und gesellschaftlich breit geteilt wird, das als Navigationshilfe dient, um politische Priorisierungen vorzunehmen und knappe öffentliche Mittel so bereitzustellen, dass die Gesellschaft zukunftsrobust ausgerichtet ist.

Entscheidend ist, wie ein solches Lagebild entsteht und was es (nicht) abdeckt. Wer definiert erkenntnisleitende Fragestellungen? Welche Institutionen sind an der Erhebung, Sammlung und Bewertung von Daten beteiligt? Wie wird garantiert, dass schwache Veränderungssignale, Minderheitsmeinungen und Widersprüche nicht unter den Tisch fallen?

Und schließlich: Wie wird sichergestellt, dass Politik und Verwaltung keinen ungebührlichen, der Tagespolitik geschuldeten Einfluss auf erkenntnisleitende Fragestellungen der Risikoanalyse nehmen können, zugleich aber ein Höchstmaß an politischer Relevanz und Akzeptanz gewährleistet werden kann? Schließlich sollte ein Lagebild europäisch anschlussfähig sein.

Für das Design einer künftigen Nationalen Risikoanalyse bietet sich die europäische „Strategie für eine krisenfeste Union“ aus dem Frühjahr 2025 als Orientierung an. Darin wird nicht nur zwischen (aktiven) Bedrohungen und (passiven) Gefahren unterschieden, sondern auch ein breiter gesamtgesellschaftlicher Ansatz empfohlen, der Wissenschaft und Hochschulen, Unternehmen und verfasste Wirtschaft, Sozialpartner und Verbände, zivilgesellschaftliche Initiativen sowie Bürgerinnen und Bürger an der Erstellung beteiligt.

Dem Deutschen Bundestag sollte bei der Erstellung einer Nationalen Risikoanalyse eine Schlüsselrolle zukommen, weil er als Kristallisationspunkt zwischen gesellschaftlich verankerter Zukunftsdebatte und politischer Prioritätensetzung über Mandat und Legitimität für gesamtgesellschaftliche Entscheidungen verfügt.

Bibliographic data

Kleine-Brockhoff, Thomas, Daniela Schwarzer, and Stefan Mair. “Sicherheitspolitik mit Strategie.” German Council on Foreign Relations. June 2025.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 25.06.2025 als Gastbeitrag im Tagesspiegel.

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