Im Kontext der Migrationspolitik kommt die EU schon lange mit Anreizen auf strategische Partner aus Herkunftsländern und Drittstaaten zu, beispielweise mit zusätzlichen Mitteln für Entwicklungspolitik oder Sicherheit. In den letzten Jahren hat die Union aber auch zunehmend auf Druck und restriktive Maßnahmen gesetzt. Insbesondere der 2019 eingeführte Visahebel soll die Bereitschaft von Herkunftsländern erhöhen, ihre Staatsbürger zurückzunehmen und irreguläre Ausreisen zu verhindern. Auch ein Handelshebel ist in Vorbereitung. Diese Bewegung hin zum strategischen Einsatz von positiven und auch negativen Anreizen in der Migrationskooperation ist ein zentraler Baustein der europäischen Antwort auf hohe Ankunftszahlen seit 2015.
Die EU setzt auf Konditionalität, obwohl bisher wenig über die praktischen Auswirkungen einer anreizbasierten Migrationszusammenarbeit bekannt ist. Die kürzlich veröffentliche DGAP-Studie: „Conditionality in Migration Cooperation: Beyond Carrots, Sticks and Delusions“, auf der dieses Memo basiert, hat das Ziel, diese Lücke zu füllen. Sie zeigt, dass Konditionalität auf der Ebene von „drei Ps“ gewünschte Auswirkungen haben kann: Papier, Prozesse und Personen. Der Effekt der Hebelnutzung ist allerdings selten nachhaltig und kann unerwünschte Konsequenzen mit sich bringen. Ein kluger Einsatz von Anreizen sollte diese Einschränkungen in Kommunikation und Praxis berücksichtigen.
Wirkung von Anreizen in der Praxis
Erwünschte Auswirkungen
Papier: Eine anreizbasierte Migrationskooperation kann einerseits zum Abschluss eines Abkommens, eines gemeinsamen Dokuments oder einer Erklärung führen. So nutzte die EU eine 2016 anstehende Geberkonferenz, um mit Afghanistan eine Absichtserklärung, den sogenannten „Joint Way Forward“, zu verabschieden. Mit Bangladesch konnte sie die „Standard Operating Procedures“ abschließen, dank zusätzlicher Entwicklungsgelder und der Androhung von Visa- und Handelssanktionen. Im Sommer 2023 versprach die EU eine dreistellige Millionensumme im Rahmen einer kontrovers diskutierten Absichtserklärung mit Tunesien. In diesen und ähnlichen Dokumenten erklären beide Seiten ihre Absicht, in Migrationsangelegenheiten zusammenzuarbeiten, und legen mehr oder weniger detailliert fest, wie diese Zusammenarbeit erfolgen soll. Diese kann sich auf ein spezifisches Feld beziehen – häufig geht es um Rückkehrzusammenarbeit, wie etwa bei Bangladesch, – kann aber auch umfangreich und breit angelegt sein, wie im Falle von Tunesien.
Prozesse: Die zweite Art von erwünschten Auswirkungen sind strukturelle oder verfahrenstechnische Veränderungen, die die Zusammenarbeit erleichtern sollen. Oft müssen sich die Parteien auf gesetzliche Reformen oder angepasste Verfahren einigen. Afghanistan stimmte zum Beispiel zu, von der EU ausgestellte Ausweisdokumente anzuerkennen. Gambia wiederum akzeptierte, Landegenehmigungen für Rückkehrflüge zu erlassen. Die EU fördert auch den Ausbau von Verwaltungsstrukturen und -kapazitäten. Im Fall von Bangladesch wurde etwa ein digitalisiertes Rückübernahme-Bearbeitungssystem eingeführt.
Personen: Die dritte Ebene betrifft Auswirkungen auf die Migrantinnen und Migranten selbst, konkret die Zu- oder Abnahme ihrer Mobilität, insbesondere bei Rückkehrzahlen, Fachkräftemigration und irregulären Grenzübertritten. Kausale Zusammenhänge sind hier schwieriger herzuleiten als bei den Papier- oder Prozessebenen. Evidenzbasierte Forschung deutet darauf hin, dass die Hebelnutzung Auswirkungen auf Rückkehr- und Migrationszahlen hat, aber dass dieser Effekt selten stark oder nachhaltig ist. Der Einsatz von Hebeln hat also wenig Einfluss auf den Rückführungsrückstand oder den Fachkräftemangel in Europa. Oft verpufft der Effekt der Maßnahme innerhalb kurzer Zeit, sodass die EU wieder einen Hebel aktivieren muss. Allein die Einführung von visumfreien Reisen in den Schengenraum führt erfahrungsgemäß zu einer großen und nachhaltig geordneten Zunahme von Mobilität – auch im Bereich von Arbeitskräftemigration und Rückkehr.
Geringe Zahlen bedeuten dennoch nicht, dass Anreize nicht funktionieren. Für Expert:innen aus der Praxis ist es bereits ein Erfolg, wenn ein Land wieder Rücknahmen ihrer Staatsbürger:innen akzeptiert oder Fachkräfte für den europäischen Arbeitsmarkt angeworben werden können. Die „3 Ps“ bieten somit eine praxisnahe und nuancierte Sicht auf die Wirkung von Hebeln.
Unerwünschte Auswirkungen
Umgekehrte Konditionalität: Die Nutzung von Konditionalität bringt auch unbeabsichtigte Effekte mit sich (Abb. 1). Eine davon ist „umgekehrte Konditionalität“ (im Englischen „reverse conditionality“), sprich die Gegenreaktion eines Drittlandes auf die Anwendung von Konditionalität. So drohen einige Drittländer regelmäßig mit einer Verringerung von Grenzpatrouillen, reduzieren diese tatsächlich oder unterstützen die irreguläre Weiterwanderung aktiv (z. B. Türkei, Marokko).
Unbeabsichtigte Nebenwirkungen: Zweitens kann die Anwendung der Konditionalität auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen auf europäische Nachbarländer haben – zum Beispiel, wenn ein EU-Mitgliedstaat auf die Anwendung negativer Konditionalität gegenüber einem Drittland besteht und dadurch unbeabsichtigt die Migrationsbeziehungen zwischen diesem Land und anderen EU-Ländern negativ beeinflusst.
Widerstand in der Bevölkerung: Drittens kann Konditionalität zum Widerstand der Bevölkerung im Partnerland führen, wie beispielweise bei den Protesten 2018 in Gambia, die zum Pausieren der Rückübernahmen führte. Auch im Irak ist die Öffentlichkeit gegen die Rückübernahme von abgeschobenen Staatsbürger:innen, was den Spielraum der Regierung einengt. Im Niger lehnte die Bevölkerung eine unpopuläre Asyl- und Migrationsgesetzgebung als „EU-Gesetz“ ab. Die EU-freundlichen Maßnahmen der Regierung des mittlerweile von Putschisten gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum waren eins der Gründen weshalb sich das Land gegen ihn wandte.
Einen Hebel anzuwenden bedeutet, dass Deutschland oder die EU die innenpolitisch geprägten Migrationsziele in der Zusammenarbeit mit einem Partner priorisieren. Migrationsziele stehen dabei ständig mit anderen außenpolitischen Prioritäten in Konkurrenz, insbesondere mit der Förderung von Demokratie in Partnerländern. Die EU und ihre Mitgliedstaaten erzielen leichter Erfolge in der Migrationszusammenarbeit mit Autokratien, wo offener Widerstand aus der Opposition, der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft unmöglich oder gefährlich ist. Dies stellt Europa vor ein Dilemma, das insbesondere die deutsche Politik spaltet. Denn migrationspolitische Ziele zu verfolgen, kann bedeuten, dass Europa undemokratische Partner stärkt (z.B. in Libyen, Ruanda). Wie bei dem Coup in Niger kann die Zusammenarbeit auch zum Entgleisen der Demokratisierung im Partnerland führen. Dieses Dilemma steht im Zentrum der Kontroverse rund um die Nutzung von Konditionalität.
Mit Konditionalität können die EU und Deutschland einiges erreichen. Was sie dagegen nicht können, ist Migration nach den eigenen Wunschvorstellungen zu gestalten.
Fazit und Handlungsempfehlungen
Die Forschung der DGAP zeigt, dass das Instrument der Konditionalität im Bereich Migration nützlich, aber kein Allheilmittel ist. Sie ist schwer anzuwenden und mit Unsicherheit verbunden. Der Einsatz von Hebeln kann zwar die erwünschten Auswirkungen auf die Migrationszusammenarbeit haben, diese jedoch auch erschweren. Will die EU, dass Konditionalität effektiver, kohärenter und glaubwürdiger wird, muss sie diese strategischer und damit selektiver einsetzen als in der Vergangenheit.
1. Timing ist alles
Politische Entscheidungsträger:innen sollten Konditionalität geschickt und vorbeugend einsetzen, damit die gewünschten und nicht die unerwünschten Auswirkungen eintreten. Sie sollten Drohungen glaubwürdig nutzen und negative Hebel bewusst anwenden. Des Weiteren sollten sie Hebel nicht anwenden, nur weil sie zur Verfügung stehen oder anderswo bereits funktioniert haben. Stattdessen gilt es, Hebel zu identifizieren, die für ein spezifisches Land am wirksamsten sind. Auch müssen der Zeitpunkt und die Reihenfolge der Forderungen an den politischen Kalender und Wahlzyklus des jeweiligen Partnerlandes angepasst werden: Die in der DGAP-Studie untersuchten Länderbeispiele zeigten, dass Wahlen und Regierungswechsel das Verhalten der Partnerregierungen und -behörden entscheidend bestimmen. Der erfolgreiche Einsatz von Druckmitteln durch die EU bedarf also der Berücksichtigung interner Entwicklungen.
2. Konditionalität wirkt, aber eingeschränkt
Politiker:innen sollten vor anstehenden Wahlen ihren Wähler:innen nicht versprechen, dass Anreize und Druck die Kooperation von Herkunftsländern sichern werden. Zwar stehen Migrationspartnerschaften im Mittelpunkt der diskutierten Lösungen, sei es für die Ausweitung der Liste von sicheren Drittstaaten, die Gewinnung von Fachkräften oder die Auslagerung von Asylverfahren außerhalb der EU. Doch bei überhöhten Erwartungen wären Scheitern und Enttäuschung vorprogrammiert. Was stimmt, ist, dass Deutschland und die EU mithilfe von Konditionalität handlungsfähiger werden. Aber die Hebel, die zu Verfügung stehen, sind nur eingeschränkt wirksam und anwendbar:
- Der EU-Visahebel kann wirksam sein. Wo keine Visafreiheit oder -erleichterung infrage kommt, kann dieser Hebel allerdings selten angedroht werden und noch seltener zur Anwendung kommen, und zwar nur da, wo keine konträren Interessen Vorrang nehmen. Deutschland muss mit EU-Partnern konstruktiv zusammenzuarbeiten, was Kompromisse mit den eigenen Zielen erfordert.
- In der Entwicklungszusammenarbeit werden negative Hebel in der Praxis selten angewandt. Positive entwicklungspolitische Hebel helfen als Türöffner bzw. federn die negativen Auswirkungen von Druck ab. Sie fungieren aber in der Regel als begleitende Maßnahmen.
- Die Formalisierung des Handelshebels ist ungewiss und seine Anwendung unwahrscheinlich.
- Legale Wege können nur schwer als positive Anreize genutzt werden. Gründe hierfür sind mangelnden Kapazitäten, schwacher politischer Wille und unzureichender gesellschaftlicher Rückhalt für Einwanderung in den EU-Mitgliedstaaten.
Die DGAP-Forschung zeigt, dass der Einsatz von Hebeln die Migrationskooperation verbessern kann – wie bei Bangladesch und Gambia oder Georgien und Moldau. Mit Anreizen beziehungsweise Drohungen konfrontiert, entschieden sich diese Partner für ein Entgegenkommen. In all dieser Fällen wäre es jedoch blauäugig von „Kooperation auf Augenhöhe“ zu sprechen. Bei den für Deutschland entscheidenden Herkunftsländern – gerade Syrien oder Afghanistan – kommt in absehbarer Zeit keine Migrationskooperation infrage. Das heißt, dass Deutschland auf Transitstaaten wie Marokko, Tunesien, Ägypten und die Türkei angewiesen ist, um Migration zu steuern. Da diese Länder selbst starke und teils längere Hebel in der Hand haben, ist in diesen Fällen der Einsatz von Druck riskant oder gar kontraproduktiv.
3. Migrationskooperation hat nicht immer Priorität
Politiker:innen müssen Wähler:innen verständlich machen, dass sie manchmal Migrationsinteressen zugunsten von Sicherheits- oder Wirtschaftsinteressen depriorisieren müssen. Das ständige Pochen auf eine Erhöhung der Rückkehrzahlen wäre kurzsichtig. So wurde etwa gegenüber Senegal im ersten halben Jahr 2023 eine Drohkulisse rund um den Visahebel aufgebaut, da das Land mit vielen EU-Staaten in puncto Rückübernahmen nicht zufriedenstellend kooperierte. Nach dem Militärputsch im Niger brauchte die EU aber Lösungen für den Abzug von Truppen aus Mali und Niger. So fiel die Anwendung des Visahebels gegen Senegal vom Tisch zugunsten der militärischen Kooperation. Diese Kursänderungen sind Teil einer nötigen außenpolitischen Abwägung beim Einsatz von Konditionalität. Gleichzeitig drohen solche Schlingerkurse, die Forderungen der EU unglaubwürdig zu machen.
Klar ist: Erfolgreiche Migrationskooperation erfordert Flexibilität, die entlang der drei Ps „Papier, Prozesse und Personen“ gedacht werden kann. Je nach Konjunktur könnte es dementsprechend von Vorteil sein, sich auf der „Personen-Ebene“ geduldig zu zeigen. Die Kooperation auf der Prozess-Ebene kann wiederum aufrechtgehalten werden, bis der Kontext eine stärkere Zusammenarbeit wieder ermöglicht. Auf den Weg hin zu einer funktionierenden Migrationspartnerschaft sind viele kleine Schritte notwendig. Anreize, aber auch Druck können helfen, diese zu gehen. Mit Konditionalität können die EU und Deutschland folglich einiges erreichen. Was sie dagegen nicht können, ist Migration nach den eigenen Wunschvorstellungen zu gestalten.