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27. Apr. 2018

Peking-Strategie

Chinas Antwort auf die Krise der politischen Ordnung

In China glaubt man an Fortschritt und die Lösbarkeit ­aller gesellschaftlichen Herausforderungen durch Wissenschaft und ­Technik. Die Kommunistische Partei kontrolliert alles und jeden, Xi Jingping hält auf absehbare Zeit alle Fäden in der Hand. Und außenpolitisch verfolgt die Volksrepublik mit der neuen Seidenstraßen-Initiative eine klare Strategie.

Wie keine andere Regierung der Welt hat die chinesische Führung die Herausforderung der Politik durch die Rahmenbedingungen der Globalisierung verstanden: Sie setzt konsequent darauf, die vollständige Kontrolle der Kommunistischen Partei über den Staat, die Wirtschaft und über die Bevölkerung zu behaupten, indem sie alle Möglichkeiten der modernen Informationstechnologien ausschöpft.

Dieses Politikmodell verfolgt ein bedeutsames Ziel: die Sicherung des Machtmonopols der KPCh gegen alle tatsächlichen und künftig denkbaren inneren und äußeren Herausforderungen. Daraus folgt ein umfassender, ganzheitlicher Politik­ansatz, in dessen Mittelpunkt die Sicherheit des Herrschaftssystems steht. Dieser Ansatz entspricht in seinen Prämissen und Grundzügen nach wie vor den ideologischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus und des Maoismus, er bedient sich in seinen Vorgehensweisen und Instrumenten aller Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Steuerung, die die technologische Entwicklung bereitstellt. Der Glaube an Fortschritt und an die Lösbarkeit aller gesellschaftlichen Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik spielt eine zentrale Rolle, ebenso die Vorstellung der Vorreiterrolle der KPCh in der Gesellschaft und die Überzeugung, eine bessere Gesellschaft schaffen zu können, indem man ihre Mitglieder zu neuen, besseren Menschen formt.

Die sich auch in China öffnende Schere zwischen den Anforderungen an die politische Ordnung und ihre dahinter zurückfallende Leistungsfähigkeit soll durch neue, effektivere Methoden des Regierens geschlossen werden. Diese bedienen sich des gesamten Arse­nals moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, ohne sich von den ideologischen Grundlagen zu verabschieden.

Im Rahmen dieses runderneuerten Marxismus-Leninismus-Maoismus zieht die KPCh alle Register der Anreize wie der Unterdrückung, um die gesellschaftlichen Entwicklungen im Sinne ihres Macht- und Herrschaftsanspruchs zu lenken.

Strategische Einmischung

Das gilt tendenziell aber auch im Kontext der internationalen Ordnung. Die Folgen lassen sich inzwischen weltweit beobachten: China mischt sich massiv und strategisch zielgerichtet in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ein, um seine Ziele voranzubringen.1 Dabei ist das oberste Ziel stets und unverrückbar der Machtanspruch der Kommunistischen Partei.

Wie Samantha Power gezeigt hat, war der Ausgangspunkt dieses neuen Politikansatzes die kybernetische Systemtheorie, bei der es um die Steuerung komplexer Prozesse und spezifisch industrieller Produktionsprozesse ging, die hohe Anforderungen an Informations- und Koordinationsleistungen stellen.2 Dieser ursprünglich mathematische, sodann ingenieurswissenschaftliche Ansatz wurde seit Mitte der 1980er Jahre von der Parteiführung aufgegriffen, um die Steuerung der Gesellschaft zu optimieren. Dazu wurden umfassende Mechanismen entwickelt: ein hierarchisches Institutionengefüge staatlicher und parteilicher Gremien, in dessen Zentrum der Nationale Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Staats- und Parteichef Xi Jingping steht. Diese Steuerungsmechanismen werden ständig angepasst und fortentwickelt.

Mithilfe dieses ­Systems sollen innere und äußere Bedrohungen des Machtanspruchs der Partei frühzeitig erkannt und entschärft werden. Dazu dienen zunächst die umfassende Erhebung von Informationen und die kleinteilige Überwachung aller Aspekte des gesellschaftlichen und individuellen Lebens. Zur Entschärfung der Probleme setzt die Partei auf gesellschaftliche „Partizipation“ und „Selbstverwaltung“. Diese Kategorien gab es bereits unter Mao; sie beschreiben in China nicht eine freiheitliche, demokratische Mitwirkung an der politischen Willensbildung von unten nach oben, sondern die gesellschaftliche Mobilisierung von oben nach unten, unter Führung der Parteispitze.

Dabei spielt das Prinzip der „Verantwortung“ der Parteimitglieder wie aller chinesischen Bürger für das Ziel des Machterhalts der Partei eine zentrale Rolle; verantwortungsbewusstes Verhalten wird von der Partei definiert und vorgegeben und dann mit allen Mitteln – mit Anreizen wie mit Repression – durchgesetzt.

Im Mittelpunkt der entsprechenden Bemühungen der Partei steht derzeit der Aufbau eines umfassenden Sozialkreditsystems. Mit dessen Hilfe will die KPCh über jeden chinesischen Bürger und jede Institution stets umfassend informiert sein und deren Verhalten im Sinne der Partei lenken. Die Partei greift auf die rapide Entwicklung der technologischen Möglichkeiten zu, große Mengen von Daten zu vergleichsweise geringen Kosten zu erheben und zu verarbeiten. Wie weitreichend und kostengünstig diese Techniken inzwischen sind, zeigt die Tatsache, dass ­heute Gesichtserkennungstechnologien zum Einsatz kommen, um in öffentlichen Toiletten den exzessiven Gebrauch von ­Toilettenpapier zu ­verhindern.

Wettbewerb der Systeme

Dieses neuartige chinesische Politikmodell verbindet dezentrale Selbststeuerung mit autoritärer Kontrolle von oben, pragmatische Anpassungs- und Lernprozesse und ständige Fortentwicklung mit klarer strategischer Ausrichtung, modernste Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Beharren der KPCh auf ihrem traditionellen Machtanspruch. Wir erleben eine Neuauflage des Systemwettbewerbs des Kalten Krieges, wenn auch unter ganz anderen Umständen als damals, nämlich unter den Bedingungen der engen wechselseitigen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen China und den westlichen Demokratien.

Es gibt zahlreiche Konflikte zwischen China und dem Westen, auch ideologische und propagandistische. Aber im Mittelpunkt werden voraussichtlich Fragen der internationalen Politik stehen. Auch dabei geht es im Kern um politische Kontrolle – diesmal jedoch um die Kontrolle von Entwicklungen jenseits des eigenen Staatsgebiets. Hier spielt Ostasien als neben Europa größte Wirtschaftsregion der Welt eine herausgehobene Rolle: Wer dominiert die Sicherheitsarchitektur in ­Ostasien, wer übernimmt dort die Rolle des Ordnungshüters? Wer bestimmt die internationalen Regeln im Südchinesischen Meer? Wer setzt sich in den maritimen Territorialkonflikten durch, die die Beziehungen zwischen China und mehreren südostasiatischen und ostasiatischen Staaten belasten?

In der gegenwärtigen Weltordnung erscheinen die USA gegenüber China noch immer als die dominante Macht. Aber dieser Eindruck könnte täuschen: Zwar ist Amerika China militärisch noch immer turmhoch überlegen und seine gesellschaftliche Dynamik, die Innovationsfähigkeit und Technologieunternehmen sind wichtige Vorteile. Aber derzeit hat Wa­shington keine klare außenpolitische Strategie; ein überragend wichtiges Element, die amerikanische Führungsrolle im Freihandelsabkommen TPP, kündigte die Trump-Regierung auf. Dilettantischer kann man Außenpolitik kaum betreiben. Stattdessen propagiert der Präsident den Indo-Pazifik-Raum als Gegenentwurf zur Belt-and-Road-Initiative Chinas, ohne dass substanzielle Vorstellungen hinter diesem Schlagwort erkennbar wären. Zudem stehen Trumps protektionistische Instinkte in der Außenhandelspolitik allen denkbaren Ansätzen zu einer weiteren wirtschaftlichen Integration des asiatisch-pazifischen Raumes im Wege.

Die mili­tärische Überlegenheit der USA erweist sich bei genauerer Betrachtung als Illusion: Chinas massive Aufrüstung zielt zunächst auf die Region Ostasien, während die amerikanische Militärmacht auf globale Dominanz ausgerichtet ist. Die Neuausrichtung der amerikanischen Globalstrategie auf den asiatisch-pazifischen Raum unter Barack Obama sah vor, in dieser Region 60 Prozent des US-Militärdispositivs zu konzentrieren. China ­dagegen kann sich zunächst auf Ostasien konzentrieren und asymmetrische Möglichkeiten der Kriegsführung nutzen – zum Beispiel die Bedrohung von Flugzeugträgern mit weitreichenden Raketen, die vergleichsweise billig sind und in größeren Zahlen bereitgestellt werden können.

Machtverschiebung in Ostasien

Eine Verschiebung der Gewichte in Ostasien könnte weitreichende Folgen für die gesamte Weltordnung haben, denn die Entwicklungen in einzelnen Teilbereichen der internationalen Ordnung sind miteinander verkettet, selbst über große Entfernungen hinweg. Deshalb könnten und dürften Veränderungen der Regionalordnung in Ostasien auch Veränderungen anderswo nach sich ziehen; zudem würden sie angesichts der Bedeutung dieser Region nicht ohne gravierende Auswirkungen auf die internationale Ordnung insgesamt bleiben.

Die USA unternehmen derzeit nur wenig, um sich gegen die sich abzeichnenden Machtverschiebungen in Ostasien zu behaupten. China dagegen hat mit der Belt-and-Road-Initiative (BRI) eine klare Strategie, die wie der Marshall-Plan 1948 geschickt wirtschaftliche und finanzielle Anreize und Instrumente mit geopolitischen Zielsetzungen verbindet und außerordentlich flexibel ist. Stets aber führt China. Es könnte also durchaus sein, dass wir uns bereits auf dem Weg zu einer neuen, chinazentrischen Weltordnung befinden, weil die USA von den Folgen ihrer innenpolitischen Unordnung absorbiert sind.

Aber auch eine solche chinazentrierte Ordnung wäre keine starke, sondern eine schwache internationale Ordnung. Denn die Herausforderungen durch den technologischen Wandel treffen auch Chinas neototalitäres Machtsystem. Den Beweis hierfür liefert, unmittelbar vor der eigenen Haustür, Nordkorea. Das Land hat es geschafft, sich Atomwaffen und weitreichende Raketentechnologie zuzulegen – und es ist nicht erkennbar, dass das Regime in Pjöngjang bereit sein wird, diese Karten aus der Hand zu geben. An der Halsstarrigkeit des bizarren Zombiestaats scheint der Machtanspruch Chinas zu zerbrechen. Höchstens gemeinsam mit den USA, Südkorea und Japan könnte China es schaffen, diesen Gefahrenherd zu entschärfen.

Die fatalen Auswirkungen der fehlgeleiteten US-Außenpolitik von 2001 bis 2005 unter George W. Bush zeigen im Umkehrschluss natürlich die enorme Bedeutung der USA für die Stabilität (aber auch für die Fragilität) der internationalen Ordnung. Vergleichende Untersuchungen bestätigen das eindrucksvoll: In fast allen Teilordnungen spielten und spielen die USA bis heute eine zentrale Rolle. Die als „Gestaltungsmächte“ eingeschätzten Akteure – China, Russland, die Europäische Union – sind nur in wenigen Teilordnungen bedeutsam. Daher kann man dem Treiben der jetzigen US-­Regierung nur mit größter Sorge folgen: Es ist nicht auszuschließen, dass sie die seit 2001 angeschlagene, wackelige internationale Ordnung zum Einsturz bringt.

Prof. Dr. Hanns W. Maull ist Senior Fellow der SWP, Herausgeber der SWP-Studie „Auflösung oder Ablösung? Die internationale Ordnung im Umbruch“ und Gastprofessor bei SAIS Europe in Bologna.

  • 1Vgl. Thorsten Benner, Jan Gaspers et al.: Authoritarian Advance: Responding to China’s growing political influence in Europe, Berlin, GPPI und MERICS 2018.
  • 2Samantha Hoffman: Programming China: the Communist Party’s autonomic approach to managing state security, Berlin, MERICS China Monitor 2017.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 108 - 111

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