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01. Sep 2015

Am Rande Europas

Russland, die Ukraine und die Zukunft des europäischen Projekts

Scheitert Europa – in Griechenland, in der Ukraine? Ja, rufen Russlands Medien hoffnungsfroh. Nein, dürfte die realistische Antwort sein – noch nicht. Doch die EU sucht weiter nach Antworten auf ihre existenziellen und demokratischen Probleme und auf die Frage, was Europa ausmacht. Vielleicht hilft ein Blick in die Ostukraine: nach Charkiw.

Die derzeitige Krise der Europäischen Union hat zwei Aspekte: einen politischen, der aus dem Mangel an demokratischer Legitimation innerhalb der europäischen Institutionen resultiert. Und einen philosophischen, der die Erosion Europas als Quelle und Heimat universaler Werte betrifft.

Der politische Aspekt wird an den Verhandlungen mit Griechenland deutlich. Jetzt zeigt sich, dass es wenig sinnvoll war, eine Währungsunion ohne Fiskalunion mit dem dazugehörigen gemeinsamen Haushalt zu gründen. Eine Fiskalunion würde mehr europäische Demokratie erfordern, um eine Legitimationsgrundlage für Steuern und Steuerausgaben zu schaffen.

Als die Einführung des Euro beschlossen wurde, hatte man gehofft, dass eine gemeinsame Währung die politische Solidarität fördern und das wiederum die europäische Demokratie stärken würde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Griechenland-Krise wurde zum Clash verschiedener europäischer Demokratien, bei dem sich die Schwächeren den Stärkeren zu beugen hatten. Die Griechen bekommen nicht die Politik, für die sie gestimmt haben.

Umgekehrt ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass die Deutschen oder andere europäische Länder für ein weiteres Griechenland-Rettungspaket votiert hätten, wären sie denn gefragt worden. Ohne einen europäischen „Staatshaushalt“ werden Krisen dieser Art unausweichlich. Und ohne europäische Demokratie wird es allen Lösungen an demokratischer Legitimität fehlen.

Bekenntnis zu Europa

Die philosophische Krise der EU zeigt sich im Ukraine-Konflikt. Bei den Demonstrationen im Winter 2013 legten die Ukrainer ihr Bekenntnis zur Idee der europäischen Integration ab. Diejenigen, die auf dem Maidan in Kiew ihr Leben riskierten, glaubten daran, dass ihr Land mit Europa zusammenarbeiten müsse, wenn das korrupte Staatswesen Ukraine je ernsthaft reformiert werden sollte.

Russland wiederum verfolgt mit seinem Krieg in der Ukraine unverhohlen das Ziel, die Europäische Union als universalistisches Projekt, dem die Ukraine angehören könnte, zu zerstören. An die Stelle der EU soll eine Rivalin treten: die Eurasische Union. In dieser Union aber würden die Prinzipien einer universalen Anerkennung der Legitimität von Staaten und der Rechte ihrer Bürger durch eine russische Hegemonie über jene Länder ersetzt, die Moskau als historisch zu Russland gehörig betrachtet – wie etwa die Ukraine. Als moralische „Grundlage“ dient die Behauptung, dass die Länder der EU ihre traditionellen Kulturen (womit religiöse, sexuelle und politische „Authentizität“ gemeint sind) zugunsten einer „Dekadenz“ aufgegeben hätten und dass nur noch Russland eine unverfälschte, tief verwurzelte Kultur repräsentiere.

Russlands Strategie, den ukrainischen Staat durch eine militärische Besatzung und eurasische Propaganda zu zerstören, war – bislang jedenfalls – kein Erfolg beschieden. Nur wenige Europäer würden wohl das russische Modell bevorzugen, das man auf der Krim und im Donbass besichtigen kann: in Gestalt Tausender Toter, Millionen von Flüchtlingen, einer zerstörten Wirtschaft und völliger Willkür. Dagegen waren sehr viele Ukrainer bereit, sich Gefahren auszusetzen, Mühen auf sich zu nehmen, beschwerlichste Zeiten durchzustehen und sogar im Namen Europas zu sterben – und das zu einem Zeitpunkt, da die EU eine ihrer tiefsten Identitätskrisen erlebte. Unter diesen Umständen wäre es doch sinnvoll, sich zu fragen, wofür sie dies alles auf sich nahmen.

Über die Jahrhunderte haben die Ukrainer nur allzu oft am eigenen Leib erlebt, was passiert, wenn russische Desintegration auf europäische Integration trifft. Die ukrainische Stadt Charkiw etwa, keine 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, ist Heimat zweier Denker, die diesem Prozess eine intellektuelle Perspektive zu geben versuchten. Für George Shevelov (1908 bis 2002), Professor an der Columbia und Harvard University und einer der wichtigsten Philologen des 20. Jahrhunderts, war die Geschichte der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland in erster Linie die des Aufeinanderprallens eines risikobehafteten – ukrainischen – Universalismus mit einem mächtigen – russischen – Provinzialismus. Seine Essays, die 2013 auf Ukrainisch veröffentlicht wurden, liefern uns den roten Faden für diese Interpretation einer langen Geistesgeschichte.

Im frühen 18. Jahrhundert, einer Epoche, in der Religion als Essenz der Kultur gesehen wurde, waren die Mitglieder des ukrainischen Klerus der Auffassung, dass sie die Übermittler eines universalen Christentums nach Russland seien. Aus Kiews Sicht war das Christentum ein durch viele Krisen gestärkter Glaube, dem die Orthodoxie zudem die notwendige Kultiviertheit verlieh. Kiews Orthodoxie war universal und ihre Denker hoch gebildet und belesen. Sie gingen selbstverständlich davon aus, dass ihr Verständnis von Religion weiter vermittelbar wäre – auch nach Moskau.

Die orthodoxe Kirche der Ukraine konnte auf die lange Tradition einer universalistischen Ausbildung zurückgreifen; ihrem Klerus waren die Auseinandersetzungen zwischen Reformation und Gegenreformation vertraut, die Europa an den Rand des Abgrunds gebracht hatten. Das Russland jener Epoche hingegen verfügte nicht über derlei Institutionen, Traditionen oder Geistliche. Moskau nahm wohl die Dienste ukrainischer Priester in Anspruch, kehrte aber ihre Botschaft völlig um. Die orthodoxe Kirche stünde in der Tat für sich selbst – aber nicht so sehr als transzendentale Alternative zu den säkularen Staaten, sondern nur insofern, als sie die politische Macht in Russland festigte. Es ist kein Zufall, dass Russlands orthodoxe Kirche heute eine der nachdrücklichsten Befürworterinnen des russischen Militarismus ist.

Kommunismus als globales Projekt

Der nächste Zusammenstoß zwischen universalen und provinziellen Werten in der Ukraine, Russland und ihren „Zwischenländern“ fand im frühen 20. Jahrhundert mit dem Kommunismus statt. Der Philologe George Shevelov war selbst Zeuge – und wurde davon tief geprägt –, wie politische Denker in seiner Heimatstadt Charkiw versuchten, den Kommunismus als globales Projekt der Aufklärung zu etablieren. Als die Sowjetunion gegründet wurde, war die Ukraine nach Russland deren zweitwichtigste Republik und Charkiw die erste Hauptstadt der sowjetischen Ukraine. Inspiriert durch die Gründung der Sowjetunion als Föderation und ihre anfängliche Politik einer gezielten Förderung nichtrussischer Nationen nahmen viele ukrainische Kommunisten den internationalen Charakter ihrer Revolution ernst. Sie waren überzeugt, dass alle Nationen auf ihrem je eigenen Weg in den Sozialismus tiefgreifende Veränderungen an ihrer Gesellschaft und Kultur vornehmen würden. Eine Revolution, die es auch in der Ukraine mithilfe einer adäquaten Kunst und Literatur auf den Weg zu bringen galt.

In den zwanziger Jahren gründeten ukrainische Kommunisten unter der Führung des Arbeiterschriftstellers Mykola Khvylovy geradezu vorbildliche Einrichtungen zur Förderung experimenteller Kultur. Khvylovys Hauptidee als Kritiker und Förderer dieser neuen Literatur war es, die Ukraine in eine Richtung voranzubringen, die er „psychologisches Europa“ nannte. Ein Europa, in dem es durch das Medium einer neuen ukrainischen Kultur möglich wäre, furchtlos über die Herausforderungen, Dilemmata und Zumutungen der Moderne zu debattieren.

Khvylovy wollte eine Annäherung an Europa und gleichzeitig eine Überwindung und Weiterentwicklung seiner künstlerischen Ausdruckstraditionen. Die ukrainische und russische Literatur hielt er dafür geeignet. Den Gedanken, dass es eine russische Literatur gebe, die nicht nur über eigene, von den europäischen gänzlich abweichende Ausdrucksformen verfügte, sondern auch als Vorbild für die ukrainische Literatur dienen sollte, hielt er für abwegig. Einige der bemerkenswertesten Erzählungen dieser Zeit, wie Valerian Pidmohylnys neorealistischer Roman „Die Stadt“, handeln vom sozialistischen Alltag in den Städten der Ukraine. Khvylovy beschrieb sein Leben in Charkiw in einer Weise, die man nicht gerade als romantisch bezeichnen würde. „In einer weit entfernten Kirche brennt ein Feuer und bringt ein Gedicht hervor. Ich bin still. Maria ist still.“

Mit Josef Stalin jedoch, so meint der Philologe Shevelov, hielt eine neue Ideologie des russischen Provinzialismus Einzug. Sowjetischer Sozialismus war nun kein universales Projekt mehr, das damit begann, dass Nationen eine neue europäische Kultur erschufen. Sowjetischer Sozialismus war jetzt vielmehr eine hochgradig zentralisierte und von Moskau gesteuerte ökonomische Transformation, deren Mängel und Misserfolge den Satellitenstaaten zur Last gelegt wurden – allen voran der Ukraine. Die Kollektivierung der Landwirtschaft, die 1930 begann, sollte die bäuerliche Bevölkerung der Ukraine in eine so­zialistische Gesellschaft umformen. Ihres Landes und wegen der Zwangsabgaben auch ihrer Ernten beraubt, verhungerten die Bauern der Ukraine. Ihre Kinder schickten sie zum Betteln in die Städte. Anfang des Jahres 1933 wurden in Charkiw jeden Tag über 2000 bettelnde Kinder auf den Straßen aufgegriffen. Khvylovy und andere ukrainische Schriftsteller waren Zeugen dieser Katastrophe.

Für das Scheitern der Kollektivierung machte Stalin den ukrainischen Nationalismus verantwortlich – und bestrafte die führenden Köpfe der neuen ukrainischen Avantgarde. Im März 1933 beging Khvylovy Selbstmord. 1934 wurde Kiew zur Hauptstadt der Ukraine erklärt. 1937/1938 wurde Charkiw zu einem der Schauplätze des „Großen Terrors“ Stalins.

Eine ganze Generation von Künstlern und Schriftstellern (darunter auch Valerian Pidmohylny) wurde von Schergen des sowjetischen Geheimdiensts NKWD ermordet. Nach der Invasion Polens durch die Sowjetunion 1939 wurden polnische Gefangene nach Charkiw gebracht und dort erschossen. Die Idee eines Kommunismus als internationaler Befreiungsbewegung hatte der Auffassung Stalins zu weichen, dass der Kommunismus ein spezifisches System politischer Kontrolle durch Moskau sei.

Das Versprechen Europas

Aus dieser Perspektive ist leichter nachzuvollziehen, welche Bedeutung die Revolution von 2013/14 für viele Ukrainer hat. Für sie liegt das Versprechen Europas nicht allein in einem gemeinsamen Markt oder in einer Beschleunigung der Reformen im eigenen Land. Das Versprechen Europas liegt in der gegenseitigen Anerkennung europäischer Staaten und Zivilgesellschaften, die der Ukraine die Möglichkeit gäben, aus dem Schatten des russischen Provinzialismus hervorzutreten.

Obgleich Menschen aus der gesamten Ukraine an der Revolution teilnahmen, hat sie sich doch im Wesentlichen auf den Maidan in Kiew konzentriert. Kiew war in den Jahrzehnten nach dem Krieg eine der wichtigsten Städte der Sowjetunion.In postsowjetischer Zeit wurde es eine stolze europäische Metropole.

Derweil ist die Atmosphäre im ostukrainischen Charkiw, in dem Sowjetisierung nach 1939 Provinzialisierung bedeutete, eher postkolonial. Nicht zuletzt deshalb war die Haltung zu den Demonstrationen dort sehr viel zwiespältiger. Viele Menschen beteiligten sich an Protesten gegen den Maidan und die proeuropäische Bewegung. Hier trafen gewalttätige und friedliche Methoden des Protests aufeinander, denn die Anti-Maidan-Bewegung spezialisierte sich geradezu darauf, ihre politischen Gegner zu demütigen und tätlich anzugreifen. Charkiws bekanntester Schriftsteller Serhij Schadan wurde Anfang 2014 von antieuropäischen Demonstranten krankenhausreif geschlagen.

Nach dem Sieg des Maidan und der russischen Invasion im Frühjahr 2014 veränderte sich die Atmosphäre in Charkiw. Im September 2014 holte man auch in der ostukrainischen ehemaligen Hauptstadt Lenins Statue vom Sockel. Jetzt befindet sich dort ein Schild, dass das Denkmal „renoviert“ werde – allerdings ist von Renovierungstätigkeit weit und breit nichts zu erkennen.

Charkiws führende Politiker sprachen sich gegen die Maidan-Bewegung aus. Aber sie waren auch gegen einen von Russland gesponserten Separatismus und gegen eine russische Invasion. Auf den Straßen der Stadt werben heute rechte paramilitärische Gruppierungen Freiwillige für die Verteidigung der Ukraine gegen Russland an, auch wenn ein großer Teil der Bevölkerung nicht recht weiß, was er von diesem Krieg halten soll. Im Februar dieses Jahres explodierte eine Bombe während einer Demonstration zur ­Erinnerung an den Jahrestag des ­Maidan und tötete vier Menschen. Die Busse der Stadt sind blau und gelb gestrichen, den ukrainischen Nationalfarben, und sie tragen – in ukrainischer und russischer Sprache – die hoffnungsfrohe Aufschrift „Ein Land“. Dass es seit Kurzem Versuche gibt, den Dichter und Intellektuellen George Shevelov wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rufen, hat die Risse in der Gesellschaft offengelegt. Eine Tafel, die an sein Leben erinnern sollte, wurde prompt von Menschen zerstört, die behaupteten, sie würden Charkiw „gegen den Faschismus verteidigen“.

Liebe in den Zeiten des Umbruchs

Zu jenen, die versuchen, die Erinnerung an Shevelov wieder wachzurufen, gehört auch Serhij Schadan – der Schriftsteller, den man bei den Protesten in Charkiw krankenhausreif geschlagen hatte. Das Thema, das ihn bekannt gemacht hat, ist das postsowjetische Leben in den großen Städten. In einer umfangreichen Prosa­sammlung mit dem Titel „Hymnen einer demokratischen Jugend“, die wenige Jahre vor den Demonstrationen auf dem Maidan veröffentlicht wurde, beschreibt er den Beginn der postsowjetischen Phase der Stadt.

Ein typisches Beispiel ist gleich die erste Geschichte in der Sammlung, „Besitzer des besten Schwulenklubs“, – auch wenn man sie vielleicht nicht unbedingt als Akt des Widerstands gegen die Homophobie sehen muss, die in Russland zur offiziellen Politik geworden ist. Denn der Kern der Geschichte dreht sich nicht um die Besonderheiten des Lebens Homosexueller in Charkiw oder die tragikomischen Umstände, unter denen manche von ihnen versuchen, damit Geld zu verdienen. Es geht vielmehr um die Natur der Liebe selbst. So ist der titelgebende Protagonist der Geschichte, der Manager des besten Schwulen­klubs, im Laufe der Zeit zu der Überzeugung gekommen, dass es wohl die Schwulen sein müssten, die wirklich etwas vom Sex verstünden. Allerdings stellt sich heraus, dass das so einfach wohl doch nicht ist.

Die Geschichte verdichtet die Besonderheiten des Lebens im provinziellen postsowjetischen Charkiw zur universell gültigen Frage, ob die Liebe zwischen zwei Menschen eine Antwort auf die überwältigende Entfremdung einer Gesellschaft in Zeiten tiefster Umbrüche sein kann. Das ist eine ernsthafte Frage – die vor tragikomischem Hintergrund ebenso rasant wie elegant aufgeworfen wird – und die den Leser mit einer Sehnsucht nach mehr zurücklässt.

Bemerkenswerterweise hatte schon der erwähnte Arbeiterschriftsteller Mykola Khvylovy im Charkiw der zwanziger Jahre neben anderen Themen auch über Gefühlsprobleme in der Großstadt geschrieben. Fast scheint es, als sei der 1974 geborene Schadan der Chronist des langen Niedergangs der Stadt Khvylovys und ihrer Mission. Auch Schadan scheint etwas in der Art anzustreben, was Khvylovy das „psychologische Europa“ nannte: die Akzeptanz von Konventionen, der Versuch, sie zu transzendieren und die dafür absolute Unverzichtbarkeit von Freiheit und Würde. Die Schläger zertrümmerten Schadans Schädel, weil er sich nicht beugen wollte.

Sein jüngstes Werk, eine Sammlung von Gedichten, die er Anfang des Jahres unter dem Titel „Die Leben Marias“ veröffentlichte, ist ein Buch über den Krieg in der Ukraine und Schadans eigenes Überleben: „Du siehst, ich habe das überlebt, habe das durchlebt, ich habe zwei Herzen,/tu etwas mit beiden.“ Später nimmt das Buch fast den Charakter einer religiösen Meditation an, die Gedichte wirken wie eine Unterhaltung mit Maria selbst. Niemand, weder in der ostslawischen Kultur noch anderswo, kombiniert das lyrische Ich des harten Kerls mit dem des heiligen Narren so, wie Schadan es tut. Er rappt Hymnen.

Europa von den Rändern begreifen

An manchen Stellen in „Die Leben Marias“ klingt Schadan wie der polnische Dichter Czeslaw Milosz, den es auch in Richtung Europa zog – dem geografischen wie universalen Europa: „Ich wollte allem einen Namen geben.“ Milosz war der herausragende Dichter eines Grenzlands, eines Gebiets nördlich von Charkiw, das eher litauisch, belarussisch/polnisch (und jüdisch) ist als ukrainisch-russisch (und jüdisch). Er vertrat die Auffassung – und darin unterscheidet er sich vermutlich nicht wesentlich von Schadan –, dass man Europa am besten von seinen Rändern her begreifen könne. Und dass Unsicherheit und Risiko substanzieller sind als Gemeinplätze und Sicherheit.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Schadan den letzten Abschnitt von „Die Leben Marias“ zwei Milosz-Gedichten gewidmet hat. „Ein Lied am Ende der Welt“ und „Ein armer Christ blickt auf das Ghetto“ werfen beide die Frage auf, was Europäer während des 20. Jahrhunderts taten – und was sie hätten tun sollen oder können. Das zweite Gedicht beschreibt die Schwierigkeit, etwas aus dem Holocaust zu lernen – was ja eine zentrale Idee des europäischen Projekts war. Und das erste Gedicht beschäftigt sich auf eine beinahe frivole Weise mit der Frage, wie eine europäische Katastrophe wohl aussähe. Es endet mit den Zeilen: „Niemand glaubt, dass es schon begonnen hat / Nur ein weiser alter Mann, der ein Prophet sein könnte / Aber das ist er nicht, denn er hat andere Dinge zu erledigen / Er sieht auf, während er seine Tomatenpflanzen festbindet und sagt / Es wird kein anderes Ende der Welt geben, es wird kein anderes Ende der Welt geben.“

Mit Miloszs altem Mann, „der andere Dinge zu erledigen hat“, korrespondiert eine Bemerkung Schadans, dass es bereits jede Menge Propheten gebe. Vielleicht stimmt das. Proeuropäische Ukrainer riskieren etwas. Sie verfolgen die Griechenland-Krise sehr genau – und ihre Kritik ist oft beißender als die westlicher Kritiker der EU. Dabei geht es hier nicht um Sicherheiten, sondern um Möglichkeiten. Schadan hätte für die Idee Europa sterben können. Andere sind dafür gestorben.

Aber die Risiken, die Schadan auf sich nimmt, sowohl physisch als auch literarisch, stehen nicht im Dienst einer bestimmten Politik. Viele seiner Essays und Gedichte drehen sich um den Versuch, Menschen zu verstehen, mit denen er nicht übereinstimmt. Schadan fordert Experimentierfreude und Aufklärung – ein Verständnis von „Europa“, das die Auseinandersetzung mit der unbewältigbaren Geschichte einfordert und sich nicht mit dem passiven Konsum historischer Mythen begnügt. „Freiheit“, schreibt Schadan in „Die Leben Marias“, „besteht in der freiwilligen Rückkehr in die Konzentrationslager.“

Niemand weiß, wohin diese Vision Europas führen könnte. Aber wir wissen wohl: Für die Existenz Europas ist es unabdingbar, dass es auch institutionell breiter und besser verankert ist. Viele Ukrainer verstehen das, deshalb haben sie Europa selbst zum Thema ihrer Revolution gemacht.

Europa kann scheitern. Sowohl in Griechenland als auch in der Ukraine. Deshalb ergehen sich die russischen Medien ja in verfrühten Jubelgesängen über einen Zusammenbruch der EU. Die Botschaft der russischen Propaganda ist klar: Sich für Europa einzusetzen – sei es innerhalb der Union oder jenseits ihrer Grenzen – ist sinnlos, denn Freiheit und Demokratie sind nichts anderes als Heuchelei, die Banner einer zum Untergang verdammten Ordnung. Und die Geschichte bietet keine andere Lehre als die der nackten Macht. Russischer Nihilismus bejubelt europäischen Narzissmus.

Kein Zweifel: Die Europäische Union wird beide Krisen überleben – jedenfalls zunächst einmal. Aber sie hat in keiner dieser Krisen zufriedenstellende Antworten auf ihre existenziellen und demokratischen Probleme gefunden. Die Ukraine braucht Hilfe, aber das wird ignoriert, weil sie kein Mitglied der Union ist. Der Ruf Griechenlands nach institutionellen Reformen bleibt unbeachtet. Europäische Politiker ringen um eine Definition dessen, was Europa ist. Aber es ist vielleicht nützlicher, auf jeden Fall ermutigender, sich mit den düsteren Universalisten aus Charkiw zu beschäftigen als mit den schadenfrohen Provinzialisten aus Moskau.

Timothy Snyder ist Housum Professor of History an der Yale University. Diesen Herbst erscheint sein Buch „Black Earth: The Holocaust as History and Warning“ in deutscher Übersetzung bei Beck.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 88-95

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