Essay

01. Jan. 2017

Die Macht des Unerklärlichen

Was im Wettstreit mit dem Neoautoritarismus hilft – und was nicht

Wenn wir neuen politischen Phänomenen begegnen, dann gehen wir gern mit Hegel davon aus, dass das, was wirklich sei, auch vernünftig sei. Doch hilft uns das in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus weiter? Nein. Es gilt, mit der Irrationalität zu leben, ohne ihr Zugeständnisse zu machen – und ohne unsere Werte preiszugeben.

Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten löste in Deutschlands politischer und medialer Öffentlichkeit eine Art Schockstarre aus. Sie ging aber bald in den mehr oder weniger hilflosen Versuch über, die eigene Fassungslosigkeit angesichts des Eintretens des vermeintlich Unmöglichen durch die hektische ­Suche nach scheinbar einleuchtenden Erklärungsmustern zu überspielen.

Dabei hätte doch jeder aufmerksame politische Beobachter damit rechnen müssen, dass sich die Reihe von Erschütterungen des etablierten politischen Systems der westlichen Demokratien, die wir im vergangenen Jahr erlebten, auch beim entscheidenden Wahlgang in den USA fortsetzen würden. Nur weil altvertraute Konventionen des politischen Betriebs bei diesem Präsidentschaftsrennen offensichtlich außer Kraft gesetzt waren, hatte Trump ja überhaupt erst zum Herausforderer der allseits zur Favoritin erklärten Hillary Clinton aufsteigen können.

Der Westen am Wendepunkt

In ähnlicher Weise hatte man sich bereits bei der Abstimmung in Großbritannien über den Brexit darüber hinweggetäuscht, dass die Welle des Populismus, der derzeit über die Routine der eingespielten politischen Kräfte hinwegfegt, mehr ist als nur eine temporäre Aufwallung diffuser Unzufriedenheit, die im Augenblick der Entscheidung schließlich doch der politischen Vernunft weichen muss. So verhinderte die Überzeugung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, immer wieder die zwingende Einsicht, dass das Eintreten von vor Kurzem noch Unvorstellbarem längst in den Bereich des Möglichen gerückt ist.

Die westlichen Nachkriegsdemokratien sind damit an einen Wendepunkt gelangt, an dem ganz und gar offen ist, ob sie weiterhin dem liberalen Pluralismus und den Prinzipien des auf der Verifikation von Tatsachen beruhenden rationalen Diskurses verpflichtet bleiben werden oder sich in eine autoritäre Richtung, hin zu einer „illiberalen Demokratie“ entwickeln werden. Diesen Begriff hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán als Label für eine neue Ordnung geprägt, in der, wie bereits im System des Putinismus in Russland, Lüge und Wahrheit austauschbar geworden sind.

Nachdem nun aber Trump tatsächlich zum US-Präsidenten gewählt worden war, sprossen im liberaldemokratischen Mainstream Deutungen des Geschehens ins Kraut, die dessen beunruhigende Brisanz möglichst rasch wieder entschärfen und die daraus erwachsende tiefe Beunruhigung beschwichtigen sollten. Dabei schwanken die Reaktionsmuster zwischen attentistischer Selbstberuhigung und alarmistischer Selbstbezichtigung. Man müsse jetzt doch erst einmal abwarten, was Donald Trump politisch überhaupt wolle, lautete in den ersten Wochen nach dem Paukenschlag eine häufig wiederholte Formel. Was man eben noch als transatlantischem GAU an die Wand gemalt hatte, sollte nun, da die politische Havarie eingetreten war, doch wieder nur als eine, zugegebenermaßen ungewöhnliche Variante der Normalität erscheinen. Die bewährten Checks and Balances der amerikanischen Demokratie, hieß es, würden den irrlichternden Trump schon bändigen, die Politprofis aus dem republikanischen Partei-Establishment den ahnungslosen Politneuling schon so weit instruieren und einhegen, dass er nicht aus den Bahnen der amerikanischen Staatsräson ausscheren könne.

Mit der Basis gegen die Institutionen

Dieses Argument ließ kurzerhand die Dimension der Tatsache verschwinden, dass es mit Donald Trump erstmals seit Menschengedenken ein Kandidat nicht nur ohne die Unterstützung einer der beiden großen Parteien, sondern es sogar gegen den mehr oder weniger massiven Widerstand der Partei, für die er angetreten war, bis ins Weiße Haus geschafft hatte. Doch ausgerechnet von eben diesem desorientierten, ausgehöhlten und gedemütigten Parteiapparat, der schon den Aufstieg des ungeliebten Kandidaten nicht verhindern konnte, wird nun, da Trump über die präsidiale Machtfülle verfügt, die Kraft und Souveränität erwartet, ihm institutionelle Grenzen zu setzen und inhaltliche Vorgaben zu machen.

Wer sich solchen neuerlichen Illusionen hingibt, setzt den Fehler fort, das Phänomen Donald Trump und den tiefen Einschnitt, den es für die amerikanische Demokratie bedeutet, sträflich zu unterschätzen. Mit Trump hat sich faktisch ein unabhängiger Kandidat durchgesetzt, der aus seiner Verachtung für die institutionellen Prozeduren demokratischer Kompromissfindung keinen Hehl macht. Dabei stützte er sich auf eine ihm ergebene Anhängerschaft, die er durch „politisch inkorrekte“ Hasstiraden und Beleidigungen politischer Gegner aufzustacheln pflegte, und auf deren Mobilisierung er mit Gewissheit zurückgreifen wird, sollten institutionelle Barrieren der Erfüllung seines für ihn allein maßgeblichen Willens im Wege stehen. Seine wütende Diffamierung der Wählerschaft der Demokraten als millionenfach „illegal“, mit der er auf die Initiative zur Stimmennachzählung in drei Bundesstaaten reagiert hat, gibt darauf einen Vorgeschmack.

Doch noch immer wird in der deutschen Debatte der Eindruck erweckt, Trump sei ein noch gänzlich unbeschriebenes Blatt. Als beliebtes Selbstberuhigungsargument fungiert dabei der Verweis auf Ronald Reagan, dessen Wahl ja damals ebenfalls apokalyptische Befürchtungen geweckt habe, die sich am Ende nicht erfüllt hätten. Nicht nur war Reagan jedoch zur Zeit seines Amtsantritts bereits ein erfahrener Politiker, der – wenn er auch mit dem Image des vom Washingtoner Politikbetrieb unverdorbenen Außenseiters kokettierte – fest in der Republikanischen Partei verankert war. Er stand zudem vor allem, zumindest außenpolitisch, für das genaue Gegenteil dessen, was Trump repräsentiert. Reagan trat mit der erklärten Absicht an, die weltpolitische Führungsrolle der USA wiederherzustellen und das totalitäre sowjetische Imperium ohne Krieg in die Knie zu zwingen – was ihm am Ende auch tatsächlich gelang. „Amerika wieder groß zu machen“, bedeutete für Reagan sicherzustellen, dass die USA ihrer Verantwortung als Führungsmacht des freien Westens, als Leuchtturm der Freiheit und Verbreiterin der Demokratie in der Welt wieder in vollem Umfang gerecht würden.

Für Donald Trump dagegen bemisst sich amerikanische Größe und Stärke alleine daran, wie effektiv und möglichst kostengünstig die USA ihre eng gefassten nationalen Eigeninteressen durchsetzen können – notfalls auch unter Missachtung der Sicherheitsbedürfnisse enger Verbündeter. Seine Erklärung, militärische Interventionen der USA drastisch einschränken und mit dem Bestreben nach „Regime Change“ in diktatorischen Staaten Schluss machen zu wollen, kommt einer Aufforderung an despotische Regime gleich, sich beim Verfolgen ihrer aggressiven Absichten keine Hemmungen mehr aufzuerlegen. Dass seine Bewunderung für das autoritäre System Wladimir Putins und seiner völkerrechtswidrigen kriegerischen Praxis alles andere als bloßes Wahlkampfgetöse war, hat der designierte Präsident bereits drastisch bewiesen. Zu seinen ersten außenpolitischen Erklärungen nach der Wahl gehörte die Bekräftigung seiner Ankündigung, die bewaffnete syrische Opposition gegen das Assad-Regime werde unter seiner Präsidentschaft nicht länger unterstützt. Das war ein Freibrief für die zeitgleich beginnende neuerliche russisch-iranische Groß­offensive gegen Aleppo und andere syrische Städte Mitte November, die alle vorherigen an Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung noch einmal übertraf. Kann sich die russisch-iranische Kriegsachse doch nun sicher sein, nicht einmal mehr mit dem halbherzigen verbalen Widerstand der Obama-Regierung rechnen zu müssen.

Dennoch rätseln Politiker, Experten und Kommentatoren in Deutschland weiterhin, wie ernst es Trump mit seiner Komplizenschaft mit dem Putin-Regime tatsächlich sei und welche Auswirkungen auf das transatlantische Verhältnis sie haben könnte. Kaum in seiner ganzen Dimension und Konsequenz für Europa wahrgenommen wird die massive Beeinflussung des US-Wahlkampfs zugunsten Trumps durch den Desinformationskriegsapparat des Kreml – wie auch die geschäftliche Verquickung des neuen Präsidenten mit den Interessen des mafiotischen russischen Regimes. Unterdessen empfing Trump den britischen rechtsnationalistischen EU-Feind Nigel Farage als ersten ausländischen Politiker nach der Wahl und empfahl diesen der britischen Premierministerin Theresa May öffentlich als neuen britischen Botschafter in Washington. In Frankreich werden im kommenden Frühjahr mit François Fillon und Marine Le Pen gleich zwei Getreue Wladimir Putins als die beiden aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten gegeneinander antreten. Der Schub, den Trumps Triumph in den USA für rechtsnationalistische und EU-skeptische Kräfte in Europa bedeutet, ist unübersehbar. Und im Bundestagswahlkampf 2017 ist damit zu rechnen, dass die russische Propaganda- und Manipulationsmaschinerie mit voller Energie fortsetzen wird, was sie im US-Wahlkampf erfolgreich praktiziert hat. Das Ziel wird in diesem Fall sein, Angela Merkel als letzte starke Bastion der westlichen Sanktionspolitik gegen Russlands Aggression in der Ukraine aus dem Weg zu räumen.

Mythen des Populismus

Ernst zu nehmende Abwehrstrategien vonseiten der Verfechter der liberalen Demokratie gegen diesen Ansturm neoautoritärer Kräfte sind jedoch nicht zu erkennen. Es ist einfacher, abzuwarten und zu hoffen, es werde schon nicht so schlimm kommen. Alarmistisch fallen die Reaktionen hingegen aus, wenn es darum geht, die emotionale Verfasstheit zu beurteilen, von der weite Teile der Wählerschaft angeblich in die Arme rechtspopulistischer Führer und Parteien getrieben würden. Zahlreiche Politiker und Journalisten schlagen sich jetzt unter Selbstvorwürfen an die Brust, diese Befindlichkeit nicht ernst genug genommen und es mit der Political Correctness übertrieben zu haben. Womit gemeint ist, dass sich „die Eliten“, zu denen man sich selbst umstandslos zuzurechnen pflegt, nur noch in einer Blase bewegten und den Kontakt zum einfachen, vermeintlich voll und ganz in der wahren Realität verankerten „Volk“ mit seinen Besorgnissen und Bedürfnissen verloren haben – wenn sie diesem nicht gar mit anmaßender Überheblichkeit begegnet seien. Es gelte jetzt dringend, sich diesen verachteten Schichten zuzuwenden und auf ihre Argumente verständnisvoller einzugehen.

Tatsächlich aber hat, wer diese Haltung einnimmt, das Narrativ der Populisten bereits übernommen. Man akzeptiert damit das Stereotyp, nach der eine verschwörerische „Elite“, die am „Volk“ vorbei regiere und Meinung mache, an allen tatsächlichen oder vermeintlichen Missständen der Gegenwart schuld sei. Und bei aller Selbstkritik schmeichelt es den führenden Repräsentanten ja auch, sich in dieser maßgeblichen Rolle wiederzufinden. In Wahrheit jedoch ist die modische Anti-Establishment-Stimmung kein Symp­tom einer wachsenden hierarchischen Spaltung der Gesellschaft im Sinne eines: „Wir da oben, die da unten“, sondern im Gegenteil einer fortschreitenden demokratischen Egalisierung, in deren Zuge die Privilegien traditioneller Eliten immer stärker erodieren. Nicht der Ausschluss großer gesellschaftlicher Gruppen aus dem öffentlichen Diskurs lässt den Unmut gegen die Eliten wachsen, sondern die Tatsache, dass sich nunmehr, über Internet und soziale Medien, potenziell alle massiv an ihm beteiligen können. Dass überhaupt noch eine Elite in Politik und Medien den Anspruch erhebt, eine herausgehobene Funktion bei der politischen Willensfindung und öffentlichen Meinungsbildung zu erfüllen, wird unter diesen Umständen mit wachsender Aggressivität registriert.

Kultureller Gegenschlag gegen postmaterialistische Werte

Zu den bevorzugten Mythen gehört in diesem Zusammenhang, Donald Trumps Aufstieg sei, ähnlich wie das Aufkommen populistischer Bewegungen in Europa, in erster Linie von Globalisierungs- und Modernisierungsverlierern, von so genannten sozial „Abgehängten“ getragen worden. Von faktischer Evidenz wird diese These freilich kaum getragen. Weder unter der Wählerschaft Trumps noch etwa der deutschen AfD findet sich in Wahrheit ein dominierender Anteil von sozial Deklassierten oder Angehörigen der „bildungsfernen Schichten“. Würde die Erklärung stimmen, dass der Populismus eine Form des Protests gegen soziale Ungleichheit ist, müsste der Einfluss populistischer Parteien in den Ländern am höchsten sein, die unter den größten ökonomischen Schwierigkeiten leiden. Dafür aber gibt es keinen Beleg.

Näher kommt der Wirklichkeit dagegen schon die Theorie, nach der wir es bei der populistischen Welle mit einem kulturellen Gegenschlag (cultural backlash) gegen die Ausbreitung postmaterialistischer Werte in einer sich kulturell rasant transformierenden Gesellschaft zu tun haben. Dieser Auffassung zufolge hat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine neue Generationenkohorte die Oberhand gewonnen. Diese zieht progressive Wertmaßstäbe wie die Toleranz gegenüber sexueller Diversität und unterschiedlichen kulturellen Lebensstilen, die Offenheit gegenüber Migranten und Flüchtlingen und die Befürwortung supranationaler Gebilde wie den UN und der EU „traditionellen Werten“ wie Nation, Familie und Religion vor. Dass die stärkste Bastion Trumps in der Wählerschaft ältere weiße Männer sind, stützt immerhin die These, dass wir es mit einer Angstreaktion gegen die drohende Auflösung aller vertrauter Verhältnisse zu tun hätten. In den USA etwa strahlt die Prognose, dass die weiße Bevölkerung in einigen Jahrzehnten demografisch in die Minderheit geraten werde, ein solches Bedrohungssignal aus.

Doch irritiert an der Theorie vom „cultural backlash“, dass er den Konflikt tendenziell auf einen zwischen älteren und jüngeren Generationen reduziert. Wäre dem so, handelte es sich ja im Grunde nur um eine Frage der Zeit, bis sich die postmaterialistischen Werte gegen den traditionalistischen Widerstand durchsetzen werden.

Noch abwegiger ist die Suggestion, Trump habe einer schweigenden Mehrheit endlich eine Stimme gegeben, die lange Zeit durch eine unterdrückerische Political Correctness niedergehalten worden sei. Bei der aufgeputschten Menge, die auf Trumps Wahlveranstaltungen ihrem Hass auf das „politisch korrekte“ und angeblich durch und durch korrupte Establishment Luft machte, handelte es sich doch eher um eine lautstarke radikale Minderheit, die seit Jahren aktiv die Demontage der politischen Kultur der USA betrieben hat. In Form der Tea Party etwa hat sie für die wachsende Erstarrung der Republikaner in einer fundamentalistischen Verweigerungshaltung gesorgt – eine Entwicklung, deren destruktive Früchte nun von Trump geerntet werden konnten.

Damit soll nicht gesagt sein, dass die so genannte Political Correctness gar kein Problem für die Kultur der westlichen Demokratien sein würde. In weiten Teilen der Linken wurde unter der Fahne des Multikulturalismus über Jahrzehnte hinweg ein aus der „antiimperialistischen“ Dritte-Welt-Romantik abgeleiteter Kulturrelativismus gezüchtet und auch in der liberalen Mitte hoffähig gemacht, der den Universalismus der europäisch-amerikanischen Aufklärung als Instrument kolonialistischer Unterdrückung denunziert. Daraus leitet sich nicht zuletzt eine apologetische Haltung gegenüber dem Islam ab, die es ablehnt, diesen mit dem islamistischen Extremismus in Verbindung zu bringen.

Paradoxerweise kontert die rechtspopulistische Gegenbewegung diese Tendenzen jedoch, indem sie ihrerseits einem radikalen Kultur- und Werterelativismus das Wort redet. Bestimmte Kulturen oder Religionen wie der Islam sind dieser Lesart zufolge gleichsam konstitutiv unfähig, westliche Werte und Normen wie Rechtsstaat, Pluralismus und Gleichberechtigung der Geschlechter zu adaptieren. Wie ihrem linken Antipoden gilt auch dieser Richtung der liberale Universalismus als die Wurzel allen Übels – nur dass er von dieser Seite spiegelverkehrt gerade für den verhassten Multikulturalismus und der damit verbundenen Vermischung von Ethnien und Kulturen verantwortlich gemacht wird.

Der angebliche Generalangriff auf die Grundlagen der Familie

Der linke Kulturrelativismus und Anti-Universalismus haben auch jene kuriosen akademischen Blüten der Gender-Theorie hervorgebracht, die von rechtspopulistischen Agitatoren gerne als Beweis für einen angeblichen Generalangriff des liberalen „Establishments“ auf die Grundlagen von Ehe und Familie angeführt werden. Doch dass derartige Auswüchse bereits zum gültigen politischen Credo der maßgeblichen politischen Eliten geworden seien, wie das von der rechtspopulistischen Propaganda behauptet wird, ist eine maßlose Übertreibung. Weil es sich in der deutschen Öffentlichkeit jedoch jetzt viele gerne so zurechtlegen wollen, als habe es bei den US-Wahlen aus irgendeiner Zwangsläufigkeit heraus genau so kommen müssen, wie es gekommen ist, wird Hillary Clintons Niederlage nun vielfach zu einer exemplarischen Abrechnung mit dem linken Minderheitenkult stilisiert. Nach der Auszählung aller Wählerstimmen hat Clinton jedoch einen Vorsprung von 2,7 Millionen Stimmen vor Trump, und sie erreicht damit bis auf ein paar Hunderttausend Stimmen fast das Wahlergebnis Barack Obamas von 2012. Verloren hat sie gemäß dem Wahlsystem trotzdem. An der Legitimität der Präsidentschaft Trumps ändert dies wohlgemerkt nichts – Wahlsystem ist nun einmal Wahlsystem, und alle Kandidaten sind unter der Voraussetzung seiner Gültigkeit angetreten. Was diese Zahlen allerdings zeigen, ist, auf welch schwachen Beinen die hierzulande jetzt so beliebte These steht, Clinton habe sich ihre Niederlage selbst zuzuschreiben, weil sie einen zu abgehobenen, zu sehr auf Minderheitenrechte fixierten Eliten-Wahlkampf betrieben hätte

Doch wenn die Anti-Establishment-Welle nicht einfach auf soziale Verwerfungen zurückgeführt werden kann, und auch die These vom kulturellen Gegenschlag traditioneller Schichten gegen die postmateriellen Zumutungen dafür keine erschöpfende Erklärung liefern kann, woraus speist sich dann die Vehemenz, mit der ein wachsender Anteil der Wählerschaft derzeit bewährte Strukturen der repräsentativen Demokratie geradezu lustvoll in die Luft zu sprengen bereit ist?

Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, einen Blick in Sigmund Freuds Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ aus dem Jahre 1930 zu werfen. Freud konstatiert darin einen unauflösbaren Gegensatz zwischen individueller Triebbefriedigung und kultureller Zähmung der Leidenschaften, der der Preis für die Gewährung zivilisatorischer Sicherheit ist. Er spricht dort auch davon, dass die Kultur die Tendenz zur Bildung immer größerer Einheiten aufweist, die in wachsenden Widerspruch zu den persönlichen Bindungen des Einzelnen in Einheiten wie der Familie gerät. Neben dem Selbsterhaltungs- oder Lustprinzip wirkt laut Freud in der menschlichen Psyche ein Selbstzerstörungs- oder Todestrieb, der unter gewissen krisenhaften Umständen nach außen, auf das kulturelle Ganze projiziert wird. Dann wird der Drang freigesetzt, sich die Last der Einhegung der eigenen destruktiven Triebe vom Hals zu schaffen. Und im autoritären, charismatischen Führer, der sich hemmungslos pöbelnd und schamlos lügend über die Etikette der politischen Kultur hinwegsetzt, findet dieser Destruktionstrieb seine Identifikationsfigur.

Folgt man diesem Gedanken, hat man es mit einer konstanten, unterschwelligen Energie des Unbehagens zu tun, das sich von Zeit zu Zeit eruptiv Bahn bricht – immer dann, wenn die zivilisatorischen Kräfte erlahmen, die sie im Zaum halten müssten. Freuds Schrift operiert freilich mit äußerst spekulativen Elementen zeittypischer Kulturkritik und leitet seine Thesen aus den heute höchst umstrittenen Kategorien der Psychoanalyse ab. Ergiebig ist es trotzdem, sich an seinen Ansatz zu erinnern, das Irrationale als eine eigenständige, im menschlichen Triebleben fest verankerte Kraft und Größe anzuerkennen. Das bedeutet nämlich das Eingeständnis, dass nicht alle Erscheinungen gesellschaftlicher Realität erschöpfend aus rationalen, objektiven Ursachen ableitbar sind. Noch immer aber folgt die populäre Ursachenforschung für die gegenwärtigen Herausforderungen dem Hegelschen Leitsatz, was wirklich sei, sei auch vernünftig. Der Wirklichkeit kommt man jedoch bisweilen näher, wenn man jederzeit mit der Macht des Unerklärlichen rechnet.

Für die aktuelle Situation leitet sich daraus die Einsicht ab, dass bestimmte Sektoren der Anti-Establishment-Revolte durch rationale Überzeugungs­arbeit gar nicht mehr zu erreichen sind. Sie lassen sich jedoch auch weder unterdrücken noch verbieten. Und ganz gewiss lassen sie sich nicht dadurch besänftigen, dass man sich an ihre Irrationalität angleicht. Es gilt zu lernen, mit dieser Irrationalität zu leben, ohne ihr Zugeständnisse zu machen – und sich darauf zu konzentrieren, sie so weit einzudämmen, dass sie nicht die Mehrheit erringt.

Der Schlüssel zu einer Restabilisierung der liberalen Demokratie liegt jedenfalls nicht in der Fähigkeit oder Unfähigkeit vermeintlicher „Eliten“, sich ausreichend in die Befindlichkeiten eines zur authentischen Einheit verklärten „Volkes“ einzufühlen. Sie hängt vielmehr davon ab, in welchem Maße und mit welchem Selbstbewusstsein sich die Verfechter einer freiheitlichen demokratischen Ordnung zu deren Grundwerten bekennen, und ob sie die Kraft aufbringen, aus diesen Werten überzeugende praktische Lösungen für konkrete Probleme ebenso wie mitreißende Zukunftsperspektiven abzuleiten.

Dr. Richard Herzinger ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der WELT-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 120-127

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