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01. März 2019

Regeln fürs Internet

Die Zeit ist reif für einen „New Deal on Digital Cooperation“. Und der Ball dieser globalen Debatte liegt dieses Jahr in Europa

Instabilität im Cyberspace ist für die Menschheit eine brandgefährliche Angelegenheit. Seit vor 50 Jahren, im Dezember 1969, die erste Internetverbindung zwischen vier Computern in Los Angeles, Santa Barbara, Stanford und Utah funktionierte, wird die Frage kontrovers diskutiert, wer das Internet wie entwickelt, verwaltet, reguliert und „regiert“. Diese Auseinandersetzung wird in den kommenden Jahren intensiver, denn die Welt wird weiter digitalisiert. Im jährlichen Risikobericht des Davoser Weltwirtschaftsforums vom Januar 2019 steht deshalb Cybersicherheit ganz oben auf der Agenda.

Im Unterschied zu den Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts – ­Telegraph, Rundfunk, Fernsehen, Satellitenkommunikation –, als nationale Gesetze und internationale Verträge neue Kommunikationstechnologien juristisch einhegten, entwickelte sich das Internet in seinen ersten Jahrzehnten im Schatten staatlicher Regulierung und schuf historisch beispiellose Freiräume. Durch das Internet kann heute jeder der rund vier Milliarden Nutzer weltweit mit jedem zu jeder Zeit und von jedem Ort aus in Wort, Ton und Bild ungeachtet von Grenzen kommunizieren.

Beim Internet, so schien es viele Jahre, hatten Regierungen die technische Entwicklung verpasst. Das Internet war nie ein rechtsfreier Raum. Sowohl Völkerrecht als auch Menschenrechte gelten natürlich auch im Cyberspace. Es waren aber zunächst technische Regeln in Form von Codes, Protokollen und Standards, die das Internet „regulierten“. Harvard-Professor Lawrence Lessig stellte Ende der 1990er Jahre fest, das es im Cyberspace der „Code“ ist, der „reguliert“. Hätten früher die „Law Maker“ die Räume für technische Innovation definiert, würden im Informationszeitalter die „Code Maker“ diese Räume definieren – in denen dann die „Law Maker“ aktiv werden müssten. Noch vor 20 Jahren, in der Euphorie des Dotcom-Booms der 1990er Jahre, beherrschten optimistische Szenarien die öffentliche Diskussion. John Perry Barlow beschrieb in seiner „Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace“ eine „neue Welt“, in der Regierungen und „Giganten aus Fleisch und Stahl“ nichts zu suchen hätten. So galt in jener Zeit das Internet als ein Wegbereiter für Demokratie im globalen Maßstab.

Dass dies in einer Welt mit 193 unterschiedlichen Jurisdiktionen zu Problemen führen muss, wurde spätestens beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) sichtbar, der 2003 in Genf und 2005 in Tunis stattfand. Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan nannte in seiner Eröffnungsrede im Dezember 2003 das WSIS-Treffen einen „Gipfel der Zukunft“ und einen „Gipfel der Möglichkeiten“. Themen wie Überwindung der digitalen Spaltung, Zugang zum Internet, Ausbau der Informationsinfrastruktur, Cybersicherheit, wirtschaftliches Wachstum durch Digitalisierung, neue Jobs und Ausbildung standen dabei im Vordergrund.

Aber bereits damals schieden sich die Geister an der Frage, wie das Internet reguliert werden sollte. Einige Regierungen wollten einen völkerrechtlichen Vertrag; andere lehnten staatliche Internetregulierung grundsätzlich ab, weil sie den freien Fluss von Daten, Ideen und Informationen begrenzen, Zensur und Überwachung Vorschub leisten, Innovation ausbremsen und Kreativität verhindern würde. Internetregulierung würde sich, so die Argumentation, negativ auf wirtschaftliches Wachstum, die Schaffung von zukunftsträchtigen Jobs und Menschenrechte auswirken. „If it isn’t broken, don’t fix it“, war das Argument eines der Väter des Internets, Vint Cerf.

Diese Auffassung setzte sich in der Tunis-Agenda von 2005 durch: Es wurde keine neue „Internet-UN“ gegründet. Stattdessen wurde ein Internet Governance Forum (IGF) geschaffen. Das IGF sollte als Diskussionsplattform ohne Entscheidungsbefugnisse Regierungen, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und technische Community zusammenbringen. Damit sollten Wege erkundet werden, die in die Zukunft der Informationsgesellschaft im 21. Jahrhundert weisen.

Auf die Frage aber, wie das Management der technischen Internetressourcen mit den bestehenden Regeln der internationalen Staatengemeinschaft (UN-Charta, UN-Menschenrechtsdeklaration) koexistieren sollte, fand der WSIS-Gipfel keine Antwort. Im Grunde genommen bezog die internationale Staatengemeinschaft 2005 mit der Tunis-Agenda eine „Wait-and-see-Position“.

Gefahr für die Demokratie

Nach zwei Jahrzehnten „Wartezeit“ sind nun auch die Schattenseiten des Internets deutlich zu erkennen. Das Internet hat nicht nur neue Freiheiten geschaffen, sondern auch die Möglichkeiten des Missbrauchs dieser Freiheiten vergrößert. Kriminelle machen sich im Cyberspace breit. Es droht ein globaler Cyberkrieg. Fake News und Hate Speech setzen die Demokratie einem gewaltigen Stresstest aus. Neonationalistischer Unilateralismus untergräbt das offene und globale Internet und riskiert eine Fragmentierung des globalen Netzwerks in „nationale Internetsegmente“ und „wallet gardens“ (geschlossene Plattformen). Was wir an Selbstbestimmung durch die ­Informationsrevolution gewonnen haben, scheinen wir mit einem dramatischen Kontrollverlust über unsere Privatsphäre und neuer globaler Instabilität bezahlen zu müssen. Verkehren sich die Versprechungen des Informationszeitalters in ihr Gegenteil? Wird das Internet zu einer Gefahr für die Demokratie?

Die „alte Welt“, für die John Perry Barlow in seiner Cyberdeklaration keinen Platz mehr sah, ist nicht verschwunden, sondern in der „­neuen Welt“ aufgegangen. Die Konflikte des 20. Jahrhunderts sind – nun in ­einem „Cyber- oder Digitalgewand“ – in den politischen Alltag des 21. Jahrhunderts zurückgekehrt. Die von Kofi Annan 2003 beschworene Zukunft ist 2019 Gegenwart geworden, allerdings ein bisschen anders, als damals vorhergesagt.

All dies hat zu einem Umschwung der Bewertung von Regulierung im Internet geführt. Selbst große amerikanische Internetunternehmen, die im WSIS-Prozess jedwede Form von Internetregulierung ablehnten, erkennen heute an, dass das Internet einen politisch-rechtlichen Rahmen benötigt, der sowohl Flexibilität als auch Stabilität garantiert. Die von Microsoft initiierte Diskussion um eine Genfer Konvention für den Cyberspace hat zum Beispiel den „Tech Accord“ hervorbracht, den knapp 100 große Unternehmen unterschrieben haben. In eine ähnliche Richtung zielt die von Siemens entworfene „Charter of Trust“ oder der von Tim Berners-Lee, dem Vater des World Wide Web, angeregte „Contract for the Web“.

Will man die Herausforderungen für einen regulierten Cyberspace richtig einordnen, lohnt ein Blick in die Geschichte. Wird das Internet eingeholt von dem jahrhundertealten Debattenmuster über neue Kommunikationstechnologien, Informationsfreiheit und Zensur? Immer mehr Länder, nicht nur autokratische Regime, erlassen Internetgesetze, die ­Konsequenzen haben für Meinungsäußerungs- und Kommunikationsfreiheit. Auch von dieser Seite drohen eine Renationalisierung und eine Fragmentierung des globalen, offenen und freien Internets.

Der politische Grundkonflikt, der auf dem WSIS-Gipfel diskutiert wurde, ist bis heute nicht gelöst. Das Multi­stakeholder-Modell und das IGF haben zwar einen Rahmen geschaffen, wie „Code Maker“ und „Law Maker“ nicht nur koexistieren, sondern auch kooperieren können. De facto aber sind die Spannungen zwischen der durch das Internet ermöglichten grenzenlosen Kommunikation im Cyberspace und der Existenz von Nationalstaaten, die auf ihre Cybersouveränität pochen, größer geworden.

Angesichts der Komplexität von Internet-Governance ist ein „innovativer Multilateralismus“, wie ihn der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Rede beim IGF im November 2018 in Paris beschrieben hat, mehr als notwendig, um dem neonationalistischen Unilateralismus entgegenzutreten. „Wir müssen neue Formen von multilateraler Kooperation entwickeln, die nicht nur Staaten einbeziehen, sondern alle Stakeholder“, so Macron.

Dieser „innovative Multilateralismus“ basiert einerseits darauf, dass er nichtstaatliche Akteure gleichberechtigt in Politik­entwicklung und Entscheidungsfindung einbezieht. Andererseits zielt er auf eine Stärkung von Rechtsstaatlichkeit im Internet und grenzt sich damit ab von einer „autokratischen“ oder „Laisser-faire“-Variante des Internets.

Beim Thema „Data ­Governance“ positionierte sich ­Bundeskanzlerin Angela Merkel in ­ihrer Rede im ­Januar 2019 in Davos wie folgt: „Auf der einen Seite haben wir die USA. Dort sind Daten sehr stark in privater Hand, weshalb wir uns sozusagen mühen müssten, Leitplanken einzuziehen, die festlegen, wo die Grenzen liegen. Meine Einstellung ist, dass wir Regeln, die wir in der analogen Welt hatten, für die digitale Welt nicht einfach ausschließen können, sondern dass wir auch hier klare Leitplanken brauchen. Auf der anderen Seite haben wir China. Dort gibt es einen sehr großen Zugriff des Staates auf alle Daten – auch auf persönliche Daten. Das sind zwei Ansatzpunkte, die noch nicht der Vorstellung entsprechen, der ich anhänge und die auch Deutschland mit seiner Sozialen Marktwirtschaft geprägt hat.“

Elemente einer Ordnung

Es ist interessant zu beobachten, dass sich trotz der konzeptionellen Streitereien zwischen den verschiedenen „-ismen“ ein Verhandlungsmechanismus herausbildet, der Elemente einer globalen politisch-rechtlichen Rahmenordnung für das Internet vorzeichnet:

1. Im Bereich der Cybersicherheit hat die UN-Vollversammlung im November 2018 zwei neue Arbeitsgruppen gebildet, die bis 2021 Vorschläge unterbreiten sollen. Im Rahmen der UN-Konvention über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) gibt es eine Expertengruppe, die sich mit möglichen Regulierungen von tödlichen autonomen Waffensystemen, wie Killerrobotern oder Drohnen, auseinandersetzt. Eine „Global Commission on Stability of Cyberspace“ (GCSC) unter Leitung der ehemaligen ­estnischen ­Außenministerin Marina Kaljarund arbeitet an Verhaltensnormen für staatliche und nichtstaatliche Akteure im Cyberspace. Die französische Regierung hat im November 2018 den „Pariser Appell für Vertrauen und Sicherheit im Cyberspace“ ­lanciert, den mittlerweile fast 100 Regierungen und mehr als 500 nichtstaatliche Einrichtungen unterzeichnet haben.

2. Im Bereich der digitalen Wirtschaft haben im Januar 2019 in Davos 76 Mitglieder der Welthandelsorganisation den Beginn globaler Verhandlungen zum digitalen Handel angekündigt. In den Vereinten Nationen wird über die digitale Komponente der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung diskutiert. Der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe hat angekündigt, den weltweiten Datenhandel zu einem Schwerpunkt der G20-Präsidentschaft seines Landes zu machen. Beim G20-Gipfel im Juni 2019 will er den „Osaka Fast Track“ starten. Und im Sommer 2019 wird die Internationale Arbeitsorganisation den Bericht der Globalen Kommission zur Zukunft der Arbeit diskutieren.

3. Im Bereich der Menschenrechte werden die beiden Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats für Meinungsäußerungsfreiheit, David Kay, und zum Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter, Joseph Catanacci, immer aktiver, kommentieren nationale Gesetzgebungsvorhaben und machen Vorschläge für neue ergänzende internationale ­Abkommen.

4. Im Bereich neuer Technologien hat die World Intellectual Property Organisation (WIPO) im Januar 2019 einen umfassenden Bericht über Künstliche Intelligenz vorgelegt. Frankreich will dieses Thema zu einem Schwerpunkt seiner diesjährigen G7-Präsidentschaft machen. Bei der Internationalen Fernmeldeunion (ITU-T) steht in der Study Group 20 das Thema „Internet der Dinge“ auf der Agenda.

Alles gemeinsam betrachten

All das ist thematisch miteinander verquickt, wird aber isoliert voneinander verhandelt. Das Problem ist jedoch, dass Regelungen in einem Bereich, beispielsweise dem der ­Cybersicherheit, Auswirkungen auf den digitalen Handel haben und zudem Menschenrechte wie freie Meinungsäußerung und Datenschutz ­berühren.

UN-Generalsekretär António Guterres hat dieses Verharren in isolierten Verhandlungen kritisiert: „Wir dürfen nicht nur Multistakeholder sein, sondern müssen auch multidisziplinär arbeiten. Die Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren im digitalen Raum – Industrie, Regierungen und Nutzer – hat nicht mit der Entwicklung neuer Technologien Schritt gehalten. Während digitale Technologien alle Bereiche durchdringen, finden Diskussionen über mögliche Regulierungen immer noch isoliert statt. Dabei wird das Risiko von Konflikten und der Verabschiedung von suboptimalen Richtlinien umso größer, je mehr dieser isolierten Entscheidungsprozesse es gibt.“

Das von Guterres gegründete „High Level Panel on Digital Cooperation“ unter Leitung von Jack Ma, dem Gründer und Vorsitzenden von Alibaba, und Melinda Gates von der Microsoft Foundation wird im Mai 2019 ­seinen Bericht vorlegen.

Fasst man alles zusammen, kann man schlussfolgern, dass die Zeit reif ist für einen „New Deal on ­Digital ­Cooperation“. Ein solcher „New Deal“ wird sich aber nicht an der UN-Seerechtskonvention oder dem Pariser Klima-Abkommen in Form eines zentralisierten Verhandlungsstrangs orientieren können. So wie das Internet ein dezentrales Netzwerk von Netzwerken ist, muss ein globaler Internet-Verhandlungsmechanismus als ein Netzwerk von politischen Netzwerken gestaltet werden. Das technische TCP/IP-Protokoll garantiert die Kompatibilität aller Netzwerke im ­dezentralen Internet. Was in der Politik fehlt, ist ein „politisches Protokoll“, das die entsprechenden dezentralen Verhandlungen miteinander kompatibel macht.

Elemente eines „New Deal“

Vor dem Hintergrund der für 2025 ­geplanten Überprüfungskonferenz der ­Tunis-Agenda (WSIS+20) könnte ein solcher politischer Vernetzungsmechanismus gefunden werden. Dieser müsste die Schaffung eines globalen politisch-rechtlichen Rahmenwerks gestatten, das das Internet der 2020er Jahre benötigt, um Frieden, wirtschaftliches Wachstum, Menschenrechte und Innovation zu gewährleisten.

Ein solcher „New Deal“ könnte dabei die folgenden vier Elemente enthalten:

  • einen „digitalen Friedensplan“, der Verhaltensnormen im Cyberspace für staatliche und nichtstaatliche Akteure festlegt und ein Wettrüsten im Cyberspace eingrenzt;
  • einen „digitalen Marshall-Plan“, der hilft, die nächste Milliarde ­Internetnutzer online zu bringen und dabei einen fairen und freien Datenhandel ermöglicht, der sich an den nachhaltigen UN-Entwicklungszielen orientiert;
  • eine Verständigung darüber, wie die seit 1948 für die Offline-Welt existierenden Menschenrechte in der Online-Welt des 21. Jahrhunderts anzuwenden und umzusetzen sind; sowie
  • Leitlinien für die Entwicklung technischer Internetprotokolle, von Algorithmen für das Internet der Dinge und für Künstliche Intelligenz.

Eine solche Option ist vor allem auch eine Chance für europäische Politik. Die Zeit ist günstig für Europa. Nach dem Pariser Internet Governance Forum wird Berlin im November 2019 Ausrichter dieser weltgrößten jährlichen Multistakeholder-Internetkonferenz sein. Zwischen den beiden UN-Veranstaltungen findet im Juni 2019 in Den Haag mit EuroDIG 12 das europäische IGF statt. Der Ball der globalen Internetdebatte liegt also für die nächsten Monate in Europa. Es ist nun an den Europäern – Regierungen wie nichtstaatlichen Akteuren –, diese Chance zu nutzen.

Prof. Dr. Wolfgang Kleinwächter lehrte bis Ende 2018 Internet-Politik und -Regulierung an der Universität Aarhus und ist Mitglied der Global Commission on Stability in Cyberspace (GCSC).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 116-121

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