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01. Juli 2019

„Eine verrückte Welt“

Ein Interview mit Paul S. Triolo

Die USA und China ringen um die Vorherrschaft im Technologiesektor. Auch die politischen Folgen sind gravierend. Europa hat eine große Chance

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Bild: Cover der IP 04-2019

IP: Beginnen wir mit einem Blick auf das große Ganze. Wir sprechen heute von einem internationalen Wettlauf oder gar von einem Krieg um die Vorherrschaft im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Vor nur zwei Jahren hatte das so noch niemand auf dem Schirm. Wie sind wir an diesen Punkt gekommen?
Paul Triolo: Richtig, das Thema hatte niemand wirklich auf dem Radar. Nun stehen Künstliche Intelligenz, 5G und auch das Arbeiten mit Quantencomputern im Mittelpunkt eines langfristigen Konkurrenzkampfs zwischen den USA und China um die strategischen Technologien der Zukunft. Chinas Aufstieg als technologische Macht überstrahlt alle anderen Elemente der Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Diese Entwicklung setzte mit der Präsidentschaft Xi Jinpings im Jahre 2013 ein. Die chinesische Regierung begann dann damit, massiv in IT-Unternehmen zu investieren und die IT-Branche zu subventionieren. Damit sollte der Markt auch für amerikanische Unternehmen ­attraktiver werden.

IP: Hinzu kommt die sogenannte Neue Seidenstraße, die Belt-and-Road-Initiative.
Triolo: Dieses Projekt baut die Regierung seit 2015 aus. Auch die Initiative „Made in China 2025“ und die Idee einer „Military Civil Fusion“ sind Maßnahmen zur Modernisierung des Landes, die unter Xi begannen. Sie zeigen Chinas Anspruch, mit den USA in der gleichen Liga spielen zu wollen. Zunächst hatte KI dafür noch keine allzu große Bedeutung. Das änderte sich, als die chinesische Regierung 2017 einen nationalen Entwicklungsplan zur KI vorstellte. Darin wird Chinas Ambition erklärt, diesen Bereich 2030 international zu dominieren. Dort stand allerdings nicht, dass man hier der einzige dominante Akteur sein wolle, sondern dass China zur Riege der globalen Kräfte dazugehören will. International wurde das aber so aufgefasst, als wolle China die KI als alleiniger großer Akteur dominieren. Hinzu kommt, dass in China ­Technologien zur Gesichtserkennung genutzt werden, ein weiterer Schritt in Richtung eines Überwachungsstaats. So setzt die Regierung diese Technologie beispielsweise ein, um die muslimische Minderheit in Xinjiang zu überwachen.

IP: Das verstärkt den Eindruck, dass sowohl die USA als auch China das Feld der KI dominieren wollen, China diese Technologie aber konsequenter einsetzt.
Triolo: KI steht im Mittelpunkt dessen, was wir im Bereich Technologie als Kalten Krieg zwischen den USA und China bezeichnen. Auch wenn der Handelsstreit zwischen beiden beendet werden könnte, wird der Wettkampf um KI, der insbesondere aus strategischer Sicht relevant ist, noch langfristig von Bedeutung sein. In diesem Bereich entwickelt sich ein Nullsummendenken.

IP: Wie wird das Thema jeweils vor Ort bewertet?
Triolo: Hier in den USA ist es ein großes Thema. Ich habe auch in China viel mit Unternehmen gearbeitet, die sich mit KI befassen, und dort ist diese Wahrnehmung nicht so stark verbreitet. In den USA ist man aber überzeugt, dass in diesem Nullsummenspiel ein Gewinn für eine Seite immer einen Verlust für die andere bedeutet. Wenn also China Fortschritte im Bereich der KI erzielt, ist das schlecht für die USA. Während die Zusammenarbeit mit China in Washington immer kritischer gesehen wird, schätzt man sie in China weiterhin. Die Unternehmen in den USA, die mit KI arbeiten, haben auf dieses Thema aber einen anderen Blick als die US-Regierung, vor allem die aktuelle. Unternehmen, Informatiker und Wissenschaftler beschäftigen sich nur mit der Technologie an sich, die Regierung hingegen betrachtet KI als einen Risikofaktor für die nationale Sicherheit.

IP: In der KI sind die USA und China derzeit die bei weitem wichtigsten Akteure. Welche Rolle kann Europa spielen?
Triolo: Klar – wenn man sich anschaut, welche Unternehmen KI in großem Stil einsetzen und mit riesigen Datensätzen arbeiten, dann sind dies derzeit nur amerikanische und chinesische Firmen. Es gibt kein europäisches Äquivalent zu Google, Alibaba, Amazon und Facebook. Dafür ist die EU aber Vorreiterin darin, ethische und sicherheitstechnisch relevante Rahmenbedingungen für KI zu schaffen. Die EU und Kanada arbeiten sowohl auf der technischen Ebene als auch im Bereich der Regulierung und Erstellung von Rahmenbedingungen zusammen. Diese Kooperation könnte einen Gegenentwurf darstellen zu dem Wettlauf zwischen den USA und China und dieses Rennen etwas entschleunigen. Es gibt also definitiv eine Rolle für Europa.

IP: Die EU positioniert sich stark als treibende Kraft für die Entwicklung vernünftiger Rahmenbedingungen für KI.
Triolo: Das ist richtig. Aber wenn wir von globalen Mächten sprechen, liegen Kanada und die EU zurück. Wir wissen natürlich noch nicht, wie sich das weiterentwickeln wird. Manche Algorithmen oder Datensätze können sich als unnütz erweisen. Das Feld ist also offen für andere Unternehmen, ebenfalls mitzuspielen, sei es auch nur in einer Nebenrolle. Die EU hat das Zeug dazu, den USA und China die Stirn zu bieten. Europa kann international zum Vorreiter für ethische Fragen und regulierende Maßnahmen werden. Es kann aber auch bei der Entwicklung großer Algorithmen mitmischen.

IP: Die USA und China sind gegenüber Europa natürlich im Vorteil, allein was die Anzahl an Forschern und Mitarbeitern im Technologiesektor angeht.
Triolo: Unternehmen wie Google können auf gewaltige Ressourcen im ganzen Land zurückgreifen. Aber ich bleibe dabei: Es gibt definitiv Möglichkeiten für die EU und Kanada, und auch beispielsweise für Israel. Diese Staaten werden mitwirken können, wenn es um Standards für KI geht.

IP: Werden sich Staaten künftig entscheiden müssen, mit wem sie in den Bereichen 5G und KI zusammenarbeiten wollen, mit China oder mit den USA?
Triolo: Gute Frage. Ich denke, dass auch KI zu der internationalen Spaltung beitragen wird, die wir bereits sehen. Die Debatte um Huawei und 5G zeigt deutlich, dass Regierungen sich bereits für eine Seite entscheiden müssen. Beim Thema 5G üben die USA Druck auf andere Staaten aus, Stellung zu beziehen. Bei KI sieht es noch anders aus, da wird international in Forschung und Entwicklung noch mehr zusammengearbeitet. Eine breite Community profitiert von wissenschaftlichem Austausch. Es ist sehr schwierig für die USA, diese Technologie zu kontrollieren. Im vergangenen Jahr wollte das US-Handelsministerium den Export von KI-Technologien stärker kontrollieren. Die Unternehmen haben das heftig kritisiert. Sie haben argumentiert, dass diese Technologien und die zugrunde liegenden Algorithmen frei verfügbar sein sollten und für verschiedene Zwecke genutzt werden können. Man könne nicht eindeutig sagen, dass eine spezifische Technologie oder ein bestimmter Algorithmus einen militärischen Nutzen habe.

IP: KI stärker zu regulieren, ist also momentan nur schwer möglich?
Triolo: Ja, was aber nicht heißt, dass die USA es nicht versuchen. Schlussendlich werden wir wohl doch einige Schritte erleben. Die USA könnten etwa chinesische Unternehmen sanktionieren, die eine Gesichtserkennungssoftware zur Überwachung von Muslimen in Xinjiang einsetzen. Solche Sanktionen könnten auch auf Europa einen Einfluss haben. Viele europäische Firmen nutzen zum Beispiel Überwachungskameras von HikVision (einem chinesischen Anbieter für Videoüberwachungssysteme, d. Red.). Sollten die USA HikVision auf ihre schwarze Liste setzen, werden auch europäische Unternehmen in den Konflikt hineingezogen. Die USA sind aufgrund ihrer Macht in der Lage, in diesen Bereichen unilateral vorzugehen. Europa gerät dann in diesen strategischen Konkurrenzkampf, der bereits in vollem Gange ist. Es ist fraglich, wie die Staatengemeinschaft damit künftig umgehen wird. Was KI angeht, sind wir noch ganz am Anfang dieser Entwicklung. Bei 5G ist die Situation schon eskaliert.

IP: Diese Thematik spaltet die Welt auf technologischer Ebene in mindestens zwei Teile, in zwei Einflusssphären. Droht uns da eine Art Anti-Globalisierung?
Triolo: Das ist eine der entscheidenden Fragen. Momentan scheinen die Beziehungen zwischen den USA und China eingefroren zu sein. Vor Kurzem sah es bei den Handelsgesprächen noch gut aus, man hatte das Gefühl, kurz vor einem Durchbruch zu stehen. Dann herrschte auf einmal Stillstand. Hinzu kommt, dass die amerikanische Halbleiterindustrie in großem Maße vom Zugang zum chinesischen Markt profitiert hat. Kaum jemand spricht darüber, wie abhängig amerikanische Innovationen in dieser Branche von China sind. US-Unternehmen machen viel Umsatz in China, den sie dann wieder in Forschung und Entwicklung investieren und dadurch Innovationen voranbringen.

IP: Bei strengeren Regulierungen durch die US-Regierung wird es also in der Wirtschaft einen großen Aufschrei geben?
Triolo: Den gibt es bereits. Die Industrie kritisiert die staatlichen Bestrebungen, Wertschöpfungsketten zu entkoppeln. Drei Jahrzehnte lang wurden diese Wertschöpfungsketten optimiert, es ist schwierig, sie jetzt einfach so aufzubrechen. Chinesische Unternehmen wie Huawei sind global vernetzt. Es wird schwierig sein für die US-Regierung, alle Verbindungen zu chinesischen Firmen zu kappen.

IP: Was würde in einem Worst-Case-Szenario passieren, wenn China eigene Standards und Wertschöpfungsketten entwickelt?
Triolo: Dann finden wir uns in einer verrückten Welt wieder, in welcher der Nutzen von Technologien wie 5G, die die globale Vernetzung ja verbessern sollten, grundsätzlich infrage gestellt wird. Wie schon gesagt, bis vor Kurzem hatte diese Problematik niemand auf dem Schirm. Wir betreten hier völliges Neuland. Wie können sich Unternehmen auf diesem unbekannten Terrain zurechtfinden? Es gibt dafür keinen Plan, niemand ist darauf vorbereitet. Das wäre eine schwierige Situation.

IP: In der US-Regierung gibt es derzeit niemanden, der sich für die Rettung der Globalisierung stark macht.
Triolo: Dort herrscht die Auffassung, dass China zu lange einen Freifahrtschein hatte und dass dies auf lange Sicht gefährlich für die USA ist. Die nationale Sicherheit sei in Gefahr, wenn die USA es zulassen würden, dass China 5G und KI dominiert. Dies würde einer existenziellen Bedrohung gleichkommen. Auch dieses Narrativ überdeckt derzeit in Washington die lange verbreitete Ansicht, dass die Globalisierung überwiegend Vorteile habe.

IP: Die Herausforderung liegt also jetzt darin, wieder zu der Haltung zu kommen, dass Globalisierung eigentlich eine gute Sache ist?
Triolo: Unter dieser US-Regierung? Mit einem demokratischen Präsidenten wäre das vielleicht möglich, aber Trump und seine Regierung werden noch eine Zeit lang im Amt bleiben. Es wird dann schwierig werden, diese Entwicklung wieder umzukehren.

IP: Wenn wir uns die Geschwindigkeit des Technologiewettlaufs ansehen – ist die Staatengemeinschaft darauf vorbereitet?
Triolo: Nein, das denke ich nicht. Das ist ein Teil des Problems. Die USA versuchen, auch andere Regierungen in Europa und Asien davon zu überzeugen, nicht mehr mit China zu kooperieren. Einige Staaten wie Japan können sich damit besser anfreunden. Japan ist schon lange besorgt wegen Chinas Aufstieg, daher ist seine Regierung vermutlich am besten darauf vorbereitet.

IP: Und was ist mit Europa?
Triolo: In Europa gibt es dazu unterschiedliche Ansichten. Europas Gewicht ist nicht mit dem der USA vergleichbar. Europa würde hier gerne eine neutrale Position einnehmen. In Europa ist man sich nicht einig darüber, ob China eine Gefahr darstellt. Die niederländische Regierung etwa findet das nicht. Die europäischen Regierungen wurden überrascht davon, wie schnell es zur Eskalation zwischen den USA und China kam. Sie hatten nicht erwartet, dass sie sich so bald entscheiden müssen, ob sie etwa chinesische Unternehmen boykottieren wollen oder nicht. Es ist eine schwierige Situation, weil es keinen Plan gibt.

IP: Viele Experten haben einen eher dystopischen Blick auf die Zukunft, wenn es um die Konsequenzen von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung geht. Teilen Sie das oder zählen Sie zu den Optimisten?
Triolo: Ich bin eher optimistisch und vertraue darauf, dass Regierungen und Unternehmen zusammenarbeiten und Lösungen finden werden.

IP: Gibt es etwas, das Sie beunruhigt?
Triolo: Ich bin besorgt über die Nutzung von KI zu militärischen Zwecken. Digitalisierung und neue Technologien waren in der Vergangenheit immer stark mit dem Militär verbunden. So wurden Technologien zum Entschlüsseln von Codes eingesetzt, und auch die Nutzung Künstlicher Intelligenz geht auf einen militärischen Kontext zurück. Diese enge Verbindung sollte ein Ende haben. KI sollte nicht damit assoziiert werden, dass sie dazu beiträgt, dass einfacher getötet werden kann. KI und das Militär müssen stärker voneinander getrennt werden, sonst sehe ich eine große Gefahr für die Zukunft. Mit Hilfe von KI können ja zum Beispiel in der Medizin Diagnosen besser gestellt oder Patienten individueller versorgt werden. Das große Potenzial der KI liegt darin, in solchen Bereichen Probleme zu lösen. Das macht mir Hoffnung.
 

Paul S. Triolo leitet in der ­Eurasia Group in Washington D.C. die Forschungen für globale Technikfragen, Cybersicherheit und Künst­liche Intelligenz.

Das Interview führte Martin Bialecki.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2019, S. 14-18

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