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20. Apr. 2017

Wahrheit und Misstrauen

Eine französische Geschichte

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Der Begriff ‚Wahrheit‘ in der aktuellen Kampagne

Fakten, Lügen und Versprechen – diese Dialektik gehört zu jedem Wahlkampf, und die Kampagne zur Präsidentschaftswahl in Frankreich macht hier keine Ausnahme. Während sich Skandale häufen, überbieten sich Kandidaten mit dem Versprechen, die Wahrheit zu sagen – was auch immer sie darunter verstehen. Die Chefin des Front National hat diese Forderung sogar zum Markenzeichen gemacht. Schon letztes Jahr, als sie ihre Kandidatur offiziell ankündigte, stellte Marine Le Pen sich als „Kandidatin der Wahrheit“ dar.

Seitdem wird der FN nicht müde, das Recht der französischen Bevölkerung auf „die“ Wahrheit zu betonen, sei es in Bezug auf die Eurozone, die Migrationskrise oder das transatlantische Handelsabkommen. Hier wie auch in anderen Feldern hat das Agenda-Setting des Front National funktioniert. Aufgrund seiner starken Position in der politischen Landschaft Frankreichs hat er eine strukturierende Rolle inne. Anders gesagt: Viele Parteien definieren ihre Positionen in Bezug auf ihn, ob es darum geht, sich von seinen Forderungen zu distanzieren oder im Gegenteil einen Teil seiner Wählerschaft anzusprechen. Insofern ist ihr Umgang mit dem Begriff ‚Wahrheit‘ ein guter Hinweis auf ihre Profilierung im Parteienwettbewerb.

Versteckspiel mit der Wahrheit

Ähnlichkeiten mit dem Wahlkampf in Amerika sind dabei nicht zu übersehen. Auch in Frankreich vergrößert sich die Kluft zwischen der politischen Elite und einem Teil der Bevölkerung, die sich im Stich gelassen fühlt; auch dort prägt eine Antisystem-Rhetorik den Wahlkampf. Doch das Versteckspiel mit der Wahrheit ist nicht nur Ausdruck eines postfaktischen Zeitgeists, der inzwischen die meisten westlichen Demokratien erreicht hat. Im Nachbarland reichen die Wurzeln dieses Phänomens in eine alte Tradition hinein: Es ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung, in welcher der rechtsextreme FN eine zentrale Rolle spielt.

Wie der Vater, so die Tochter

Wer heute Le Pens Rhetorik inspiriert, ist weniger Donald Trump als ihr Vater, Jean-Marie. In den 80er-Jahren, als seine Partei ihre ersten Wahlerfolge feierte, posierte er auf Wahlplakaten mit einer Knebelbinde, begleitet von einer klaren Botschaft: „Le Pen sagt die Wahrheit, sie knebeln ihn“. „Sie“ waren damals Journalisten, Politiker und Intellektuelle, kurzum: Die Vertreter eines gehassten und seitdem ununterbrochen angeprangerten Systems.

Marine Le Pen mag sich für eine Strategie der Entdämonisierung entschieden haben und Politiker, die den Holocaust leugnen, aus der Partei ausschließen. An der Tradition der Verschwörungstheorie hält sie fest – und an der Behauptung, die Wahrheit zu sagen. Es ist auffällig, wie viele ihrer Sätze mit „Die Wahrheit ist …“ beginnen. Je nach Thema werden sie in einer Schleife durchdekliniert – so zum Beispiel: „… dass die Regierung die Bevölkerung nicht schützen kann“ oder „… dass die Personen, die Sie hören, andere Personen vertreten“. Regelmäßig drehen Journalisten den Spieß um und nehmen die Fakten des Front National unter die Lupe. So verfolgte das Nachrichtenmagazin L’Obs im Februar die Spur der „undurchsichtigen Netzwerke und Scheinbeschäftigungen“ des FN. Auf dem Titelbild war ein Porträt Marine Le Pens in Schwarz-Weiß zu sehen. Über dem Mund klebt ein Post-it – eine klare Anspielung auf die damalige Knebelbinde ihres Vaters. Auf dem Post-it steht: „Was sie euch nicht sagt“.

Die anderen Kandidaten spielen mit

Der Erfolg eines Begriffs lässt sich daran messen, ob er von anderen übernommen wird.

Fillon

Wer zu Beginn des Wahlkampfs am offensivsten mit ‚Wahrheit‘ umging, war der Kandidat der konservativen Partei, François Fillon. Schon 2006 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Frankreich kann die Wahrheit verkraften“ (La France peut supporter la vérité). Mit dem Anspruch, sich als ehrgeizigen Reformer darzustellen, besetzte er das Thema selbstbewusst. Allerdings verwendete er dabei eine ganz andere Definition als Le Pen. Beim „Mut zur Wahrheit“, wie Fillons Wahlslogan bis vor einigen Wochen noch lautete, ging es in erster Linie um die Reform des Sozialstaates und tiefe Einschnitte in öffentliche Ausgaben.

Inzwischen laufen gegen den Republikaner Ermittlungen wegen des Verdachts der Scheinbeschäftigung. Seitdem veränderten sich nicht nur seine Situation als Favorit, sondern auch sein Diskurs. Der angeschlagene Kandidat sprach zwar weiterhin von Wahrheit, aber verstand darunter etwas völlig anderes als in den Monaten davor. Von nun an ging es um „seine“ Wahrheit, die er den Französinnen und Franzosen erzählen möchte – wie er es Anfang Februar in einem Pressebeitrag schrieb. In einer Opferhaltung, die an Le Pens anklagende Töne erinnert, setzt er seine Wahrheit der „des Systems“ entgegen. Inzwischen versucht Fillon mit einem neuen Wahlslogan zu punkten: „Wille für Frankreich“. Von Wahrheit keine Spur mehr.

Hamon

Im linken Lager hingegen hat sich Begriff nicht etabliert. In der Sozialisten-Vorwahl appellierte zwar der Kandidat und ehemalige Premierminister Manuel Valls an den „Mut zur Wahrheit“. Wie Fillon in der ersten Phase des Wahlkampfs positionierte er sich damit als pragmatischer und verantwortungsvoller Politiker. Doch der Gewinner der Vorwahl, und inzwischen offizieller Kandidat der Sozialistischen Partei, hielt davon nichts. Um sich von seinem Hauptgegner und von den Kandidaten der anderen Parteien zu unterscheiden, lehnt Benoît Hamon den Anspruch auf Wahrheit explizit ab: „Ich bin nicht in Besitz der Wahrheit, aber ich will einen Weg vorschlagen. Es geht um den Weg des Mutes und des Erfindungsreichtums.“ Statt von Wahrheit zu sprechen, will der linke „Frondeur“ (Abweichler) und Hollande-Kritiker „Frankreichs Herzen schlagen lassen“ – so sein Wahlslogan. Dieser Wortkampf sagt viel über die aktuelle Spaltung der Sozialisten.

Macron

Keine Stellungnahme ist auch eine Stellungnahme. Der unabhängige Kandidat und Chef der Bewegung „En marche!“, der sich „weder links noch rechts“ sieht, spricht einfach nicht von Wahrheit. Im Gegensatz zu Hamon lehnt er den Begriff nicht ab, aber er verwendet ihn auch nicht. Als würde er seinen Ruf als Gegenbild von Le Pen stärken wollen, ignoriert er ihn. Er beschränkt sich darauf, die FN-Kandidatin anzugreifen, indem er sie „Lüge auf zwei Beinen“ nennt.

Bis zur Stichwahl, und sicherlich auch darüber hinaus, wird das Versteckspiel mit der Wahrheit in der französischen Politik weitergehen. Wer sich mit seiner Strategie durchsetzt, wird am 7. Mai bekannt. Wahrscheinlich werden in erster Linie Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung davon profitieren.

Bibliografische Angaben

Demesmay, Claire. “Wahrheit und Misstrauen.” April 2017.

Artikel aus dem Frankreichwahl-Blog der DGAP, 19. April 2017