Externe Publikationen

06. Sep 2016

Innerstaatliche Konflikte

Die innere Logik der Konflikte im postsowjetischen Raum

In den Territorialkonflikten im postsowjetischen Raum sind innere Ursachen zentrale Hindernisse für die Konfliktlösung. Das Streben nach staatlicher Souveränität in Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien und Transnistrien verhindert eine Föderation innerhalb des Mutterstaates. Dabei steht für die lokalen Eliten Machterhalt vor Konfliktlösung.

PDF

Share

Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine haben die Territorialkonflikte im post-sowjetischen Raum wieder zurück in die internationale Aufmerksamkeit gebracht. Da Russland in alle Konflikte direkt oder indirekt involviert ist, liegt der Fokus der politischen Debatte auf den russischen Interessen und Zielen. Jedoch sollte bei der Analyse beachtet werden, dass innere Ursachen ganz wesentlich für das Scheitern aller bisherigen Konfliktlösungsversuche sind. Schwache Staatlichkeit, die Instrumentalisierung der Konflikte durch die bestimmenden Eliten zur Legitimation ihrer Herrschaft sowie die Marginalisierung der Zivilgesellschaften spielen dabei eine zentrale Rolle. 

Alle Ansätze zur Konfliktlösung sind bisher gescheitert. Stattdessen versuchen die von Russland unterstützten Konfliktparteien, Tatsachen zu schaffen. So haben sich mit Transnistrien, Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien vier abtrünnige Regionen zu De-facto-Staaten entwickelt, die fast alle Merkmale von Staatlichkeit aufweisen. Sie sind zwar international fast vollständig isoliert, existieren aber trotz umfassender interner Probleme und externer Gefahren seit nunmehr über zwanzig Jahren. 

Die Krim ist völkerrechtswidrig per Annexion direkt Teil Russlands geworden. Dagegen stehen die beiden selbsternannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine zwar in einer engen Abhängigkeit von Russland, jedoch hat Moskau kein Interesse, diese Gebiete zu annektieren und in die Russische Föderation zu integrieren. Stattdessen sollen sie aus Moskauer Sicht, mit weitreichenden Autonomierechten ausgestattet, Teil der Ukraine bleiben (Föderalisierung).

Ursachen und Muster postsowjetischer Konflikte

Zentral für die Entstehung der o.g. Territorialkonflikte sind die Staatsbildungsprozesse im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Neben den Konflikten in der Republik Moldau, Georgien und Aserbaidschan war es vor allem der Bürgerkrieg in Tadschikistan im Übergang zur Eigenstaatlichkeit, der Befürchtungen vor einer unkontrollierbaren regionalen Instabilität in Zentralasien aufkommen ließ. Der Staatsverfall konnte trotz der massiven Kämpfe zwischen verschiedenen regionalen Elitegruppen verhindert werden. Unter Vermittlung Russlands, der GUS und der UNO gelang es, den Bürgerkrieg zu beenden, einen Waffenstillstand zu vermitteln und einen politischen Übergang zu organisieren. 

Der tadschikische Bürgerkrieg von 1992-1997 fordert ca. 40.000 Tote. Ca. 600.000 Menschen waren im Land auf der Flucht, ca. 100.000 flohen ins Ausland, hauptsächlich nach Afghanistan und Russland. Der übergreifende Konsens zwischen den Konfliktparteien darüber, dass Tadschikistan als Staat mit seinem Territorium, seinen Grenzen und Bürgern erhalten bleiben müsse, bildete die Grundlage sowohl für die Beendigung des Bürgerkrieges als auch für den Friedensprozess. Während die Opposition das Ziel erreichen konnte, an der Macht beteiligt zu werden, akzeptierte der geschwächte Präsident Rachmonov die Notwendigkeit politischer Kompromisse. 

Im Unterschied dazu trafen in den Konflikten um Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Tschetschenien und Berg-Karabach unvereinbar erscheinende Interessen und Positionen im Hinblick auf die politische und ethnische Identität der neuen Staaten aufeinander. Angesichts eines massiven Nationalismus in Moldau, Georgien und Aserbaidschan befürchteten die Minderheiten in Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach, ihre ethnische und kulturelle Autonomie und Identität zu verlieren. Deshalb galt die Abspaltung vom Mutterstaat schon früh als alternativlos. Die politische und kulturelle Selbstbestimmung für die eigene ethnische Gemeinschaft bildet bis heute das Hauptargument bei der Rechtfertigung des Ziels, staatliche Souveränität zu erreichen. Deshalb gestaltet sich die Lösung der Konflikte so schwierig. 

Nach der Abspaltung zahlreicher nichtrussischer Sowjetrepubliken stand Mitte der 1990er Jahre die Russische Föderation selbst vor dem Problem, die eigene Desintegration aufzuhalten, vor allem mit Blick auf den Nordkaukasus und Tschetschenien. Tschetschenien wurde trotz eines Friedensabkommens, das nach dem ersten Tschetschenien-Krieg (1994-96) geschlossenen worden war, in einem zweiten Krieg (1999-2009) wieder in die Russische Föderation integriert. Dabei wurden der pro-russischen tschetschenischen Führung weitreichende Vollmachten gewährt, die durchaus Elemente von Staatlichkeit aufweisen. 

De-facto-Staaten und ihre Legitimität

Mit Unterstützung Russlands haben sich die vier abtrünnigen Regionen Transnistrien, Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien zu De-facto-Staaten entwickelt, die fast alle Merkmale von Staatlichkeit aufweisen. Sie sind zwar international fast vollständig isoliert, existieren aber trotz umfassender interner Probleme und externer Gefahren seit nunmehr über zwanzig Jahren. 

Im Bemühen um Rechtfertigung ihrer Staatlichkeit stützen sich die vier De-facto-Staaten auf die Konvention von Montevideo über die Rechte und Pflichten von Staaten aus dem Jahr 1933. Die Konvention definiert einen Staat als ein Gebilde mit (1) beständiger Bevölkerung, (2) einem festgelegten Territorium, (3) einer Regierung und (4) der Fähigkeit, in Beziehungen zu anderen Staaten zu treten. Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien und Transnistrien erfüllen die ersten drei Kriterien. Ihre staatliche Funktionsfähigkeit ändert jedoch nichts an der fehlenden internationalen Anerkennung und Legitimität. 

Um ihre internationale Anerkennung voranzutreiben, streben die Machthaber in den separatistischen Gebieten absolute Souveränität gegenüber den Mutterstaaten an und rechtfertigen dies mit rechtlichen, historischen und moralischen Argumenten: 

  1. Alle De-facto-Staaten berufen sich auf die Souveränitätsdefinition in der Konvention von Montevideo. Nach ihrer Interpretation wird Staatlichkeit als Folge empirisch nachgewiesener Souveränität verstanden und nicht als Ergebnis internationaler Anerkennung: Sie haben eine Regierung, die durch Wahlen legitimiert ist, grundlegende staatliche Dienstleistungen zur Verfügung stellt und ein festgelegtes staatliches Territorium über eine bestimmte Zeit kontrolliert.
  2. Nach dem Verständnis der Führungen der vier De-facto-Staaten gründet ihre Legitimität auf dem Recht auf Selbstbestimmung.
  3. Des Weiteren basiert die Rechtfertigung der eigenen Staatlichkeit auf dem Argument, dass sie das Ergebnis einer langen und folgerichtigen historischen Entwicklung darstelle.
  4. Schließlich wird das Recht auf Unabhängigkeit damit begründet, dass der jeweilige Mutterstaat den Konflikt mit Gewalt lösen wollte und damit jegliches moralische Recht verwirkt habe, über die abtrünnigen Gebiete zu herrschen.

Interne Hindernisse zur Konfliktlösung

Dieses Beharren auf absoluter Souveränität scheint jegliche Konfliktlösung im Rahmen eines gemeinsamen Staates auszuschließen. Auch ein Kompromiss in Form einer föderalen Machtteilung ist damit praktisch nicht zu erreichen. Das Maximum, was auf absehbare Zeit als möglich und realistisch erscheint, ist die Neuverhandlung der Beziehungen zwischen den separatistischen De-facto-Staaten und den Mutterstaaten mit dem Ziel einer Konföderation. Moldau, Georgien und Aserbaidschan haben diese Vorschläge bislang stets abgelehnt, auch aus der Befürchtung heraus, dass die Umsetzung ihre eigene schwache Staatlichkeit und Souveränität noch zusätzlich in Frage stellen könnte. Für die Mutterstaaten ist es deshalb zentral, dass die De-facto-Staaten nicht international anerkannt werden, um sich so das Recht zu erhalten, mit allen Mitteln – gegebenenfalls auch mit Gewalt – die staatliche Einheit wiederherstellen zu können. Russlands Vorgehen gegenüber Tschetschenien dient hier als Vorbild. 

Das Beharren auf absoluter Souveränität hat zahlreiche politische, wirtschaftliche, soziale und humanitäre Probleme zur Folge. Ein Beispiel ist der Umgang mit Flüchtlingen. So hatte Abchasien vor dem Krieg eine georgische Bevölkerungsmehrheit. Ihre Vertreibung war ein zentrales Ziel des Konfliktes. Laut sowjetischer Volkszählung von 1989 waren in Abchasien von 525.000 Einwohnern ca. 17% Abchasier, 47% Georgier, 14% Armenier, 13% Russen und 10% andere Volksgruppen. Die Verbindung zwischen Ethnizität und Territorium lässt die De-facto-Staaten in Bezug auf die Rückkehr der Flüchtlinge ausgesprochen restriktiv verfahren. Im Berg-Karabach-Konflikt gilt dies in geringerem Maße, da die Armenier hier bereits vor dem Krieg eine deutliche Mehrheit stellten. Allerdings wurden auch aus den von Armenien besetzten aserbaidschanischen Gebieten, die zwischen beiden Staaten als Pufferzonen dienen, Aseri vertrieben. 

Die latente Unsicherheit ist ein weiteres Problem, das das Leben in den separatistischen Gebieten prägt. Die politischen Führungen der De-facto-Staaten nutzen die latente Gefahr eines erneuten Krieges dazu, um die Bevölkerungen auf ihren Kurs einzuschwören und von ihrer schlechten Politik abzulenken. Alle De-facto-Staaten sind letztlich fragile oder sogar gescheiterte Staaten, denn sie könnten ohne die z.T. massive Hilfe aus Russland bzw. Armenien nicht überleben. Sie sind nicht in der Lage, eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung hervorzubringen. Der Alltag ist durch hohe Korruption, fehlende Rechtsstaatlichkeit, autoritäre und personalisierte Regierungsführung und Misswirtschaft gekennzeichnet. Schmuggel und Schattenwirtschaft sind allgegenwärtig. Eine starke Abwanderung, besonders der jungen und flexiblen Bevölkerung, geht einher mit einer alternden Gesellschaft. 

Zusammenspiel zwischen De-facto-Staaten und Mutterstaaten – ein Ausblick

Sowohl in den De-facto-Staaten als auch in den Mutterstaaten bilden autoritäre Eliten ein großes Hindernis für die Konfliktlösung. Sie nutzen gezielt den Status quo und das Muster "sie gegen uns", um ihre Herrschaft zu sichern und zu stabilisieren. Hier wie dort hat sich die Staatsbildung in engem Zusammenhang mit den gewaltsamen Konflikten vollzogen. So mythologisieren die Führungen in Aserbaidschan und Armenien die Bedeutung Berg-Karabachs für die eigene Nation und instrumentalisieren den Krieg zu einem zentralen Narrativ der post-sowjetischen Nationsbildung. Für Georgien und Moldau kommt die Abgrenzung gegenüber dem "Aggressor Russland" hinzu, ohne den es – so die Überzeugung – die Abspaltung Abchasiens und Südossetiens nicht gegeben hätte. 

Die Eliten haben sich auf beiden Seiten mit den Konflikten arrangiert. Die äußeren Feinde dienen als Rechtfertigung für interne Probleme. Geschlossene Grenzen begünstigen die Bildung wirtschaftlicher Monopole. Größere Veränderungen des Status quo würde das gegenwärtige Machtgefüge in Frage stellen und zu einer Neuverteilung von wirtschaftlichen Pfründen führen. Unter dem Strich bedeutet dies, dass die herrschenden Eliten auf beiden Seiten die Priorität ihres Handels nicht darin sehen, die Konflikte zu lösen, sondern an der Macht zu bleiben. Nur wenn sich Machterhalt und Fortschritte bei der Konfliktlösung vereinbaren lassen, könnte es zu einer substanziellen Bewegung in den Verhandlungen kommen. 

In Bezug auf den Konflikt in der Ostukraine ist die von den Separatisten betriebene territoriale Abspaltung weder durch die historische Entwicklung noch durch ethno-politische Spannungen zu rechtfertigen. Dieser Konflikt ist ebenso wenig aus einem ethnischen Konflikt zwischen Russen und Ukrainern wie aus einer inneren Rivalität der ukrainischen Eliten entstanden; er wurde vielmehr von außen durch Russland initiiert. Viel wird davon abhängen, inwieweit Russland ein Interesse darin sieht und die internationale Gemeinschaft es zulassen wird, die kriminellen, von Russland finanzierten Strukturen in Donezk und Luhansk weiter zu unterstützen und zu legitimieren. 

Literatur

Merlin, Aude (2011): Relations between the North and South Caucasus: Divergent Paths?, in: Caucasus Analytical Digest, 27, 27.5.2011. »http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CAD-27-2-4.pdf«

Fischer, Sabine (Hrsg.) (2016): Nicht eingefroren! Die ungelösten Konflikte um Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach im Lichte der Krise um die Ukraine, SWP-Studie, 13, Berlin.»http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2016S13_fhs.pdf«

O'Loughlin, John/ Kolossov, Vladimir/ Toal, Gerard (2015): Inside the post-Soviet de facto states: a comparison of attitudes in Abkhazia, Nagorny Karabakh, South Ossetia, and Transnistria, in: Eurasian Geography and Economics, 27.02.2015. 

Lynch, Dov (2002): Separatist states and post-Soviet conflicts, in: International Affairs Vol. 78, No. 4, S. 831-848.

Bibliografische Angaben

Meister, Stefan. “Innerstaatliche Konflikte.” September 2016.

Bundeszentrale für politische Bildung, 6. September 2016, Creative Commons (by-nc-nd/3.0/de/)