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28. Aug. 2019

Eine Innenansicht der Hongkonger Proteste

Die Regierung in Peking verleumdet die Demonstranten in Hongkong als „Terroristen“. Das ist womöglich eine selbsterfüllende Prophezeiung.

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Ganz gleich, ob es jetzt passiert oder in 28 Jahren, wenn die Regelung „Ein Land, zwei Systeme“ auslaufen soll: Millionen von Menschen in Hongkong wollen das Unvermeidliche abwehren – die Zwangsintegration mit Festlandschina. Und doch besteht innerhalb von Hongkong tiefe Uneinigkeit darüber, wie sich dieses Ergebnis vermeiden lässt.

Auf der einen Seite stehen jene wie Hongkongs von Peking gestützte Regierungschefin Carrie Lam, die lieber irgendeine Art von Einigung mit der chinesischen Regierung erreichen möchten, auf der anderen diejenigen, die in diesem Sommer auf die Straße gegangen sind. Jede Seite glaubt, Grund zu haben, die andere als Verräter zu beschimpfen. Lam ist dabei eine bekannte Größe: die vorbildliche imperiale Gouverneurin, die den Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, aber letztlich tun muss, was diejenigen, die sie ernannt haben, ihr auftragen. Die jungen Demonstranten jedoch repräsentieren etwas Einzigartiges. Ich verbrachte in diesem Monat zwei der bisher intensivsten Episoden unter ihnen – am 11. August, als die Polizei eine junge Frau am Auge verletzte, und später, als maskierte Demonstranten im Angesicht brutaler Polizeigewalt zwei Tage lang den Hongkonger Flughafen besetzt hielten.

Auf den ersten Blick scheinen die Demonstranten in einer Situation zu sein, die der der Protestierenden auf dem ukrainischen Maidan vor fünf Jahren ähnelt. In beiden Fällen gibt es eine „aufrührerische Provinz“ und einen größeren Nachbarn mit der Macht, die Demonstrationen gewaltsam zu unterdrücken. Und in beiden Fällen heuerte die Regierung der größeren Macht das lokale Lumpenproletariat und verschiedene kriminelle Elemente an, um die Demonstranten zu attackieren.

Doch unter wichtigeren Aspekten sind die Proteste von Hongkong dem Euromaidan völlig unähnlich. Die Protestierenden in der Ukraine hatten anerkannte Führer, eine Organisationsstruktur und eine klare Agenda, was auch der Grund war, warum sie zu gegebener Zeit mit den Behörden verhandeln konnten. Die Proteste von Hongkong dagegen laufen weitgehend führungslos und um eine innovative Form von zivilem Ungehorsam herum ab, die an hybride Kriegsführung grenzt. Die zwischen Gewaltlosigkeit und Gewalt oszillierenden Proteste haben eine fließende Form angenommen und haben noch immer nicht einmal einen Namen.

Die Demonstranten werden schlicht als die „Leute in Schwarz“ bezeichnet. Weil sie Masken tragen, sind sie gesichtslos. Und weil sie selbst nicht wissen, was sie als Nächstes tun werden, sind sie völlig unberechenbar. Sie können an mehreren Stellen auf einmal auftauchen, sich rasch versammeln und dann wieder zerstreuen. Die Polizei kann sie weder fangen noch gar zählen oder identifizierbare Führer festnehmen. Die Behörden können weder mit ihnen verhandeln noch versuchen, sie zu spalten, weil sie bereits gespalten sind. Sie sind selbst einander unbekannt. Sie kommunizieren durch die verschlüsselte Messaging-App Telegram und treffen Entscheidungen spontan auf Mehrheitsbasis.

Trotzdem haben die Protestierenden in Hongkong eine Menge gemeinsam. Sie sind überwiegend zwischen 20 und 30, sprechen Kantonesisch und wuchsen in der freien Welt auf (und weil verdeckt ermittelnde Polizisten kein Kantonesisch sprechen, werden sie problemlos enttarnt). Und sie haben ihre Taktik hybrider Kriegsführung nicht aus freien Stücken gewählt, sondern weil die friedliche, zentral geführte „Regenschirm-Bewegung“ in der Stadt 2014 keine Ergebnisse erzielte. Ihre Führer wurden verhaftet, und die Bewegung zerstreute sich rasch.

Ohne Führer, die sie ins Visier nehmen konnten, zogen sich die Behörden diesmal zurück, sobald sie die Steine in den Händen der Protestierenden sahen. Doch obwohl Lam den kontroversen Gesetzentwurf, der die Demonstrationen auslöste – und die Auslieferung mutmaßlicher Straftäter aus Hongkong auf das chinesische Festland erlaubt hätte –, ausgesetzt hat, hat sie ihn nicht zurückgezogen. Auch kann es sich die chinesische Regierung nicht leisten, dass es aussieht, als hätte sie nachgegeben, da dies lediglich zu weiterem „Terrorismus“ seitens anderer potenziell unbotmäßiger Provinzen einladen würde.

Stattdessen hat die chinesische Propagandamaschinerie, nachdem sie die Proteste in Hongkong zunächst weitgehend ignorierte, nun begonnen, sie als Bedrohung darzustellen, um die chinesische Bevölkerung gegen die Demonstranten aufzuwiegeln. Und am 17. August hielten pro-chinesische Aktivisten in Hongkong eine Demonstration ab, an der nach Angaben der Veranstalter fast 500.000 Menschen teilnahmen (laut Polizeiangaben waren es eher 100.000). Diese Propagandabemühungen waren derart himmelschreiend, dass Facebook und Twitter rund 1000 festlandschinesische Accounts schlossen, die Falschmeldungen verbreiteten.

Diese Bemühungen, den chinesischen Nationalismus anzuheizen, zielen klar darauf hin, den Boden für eine Intervention und den Einsatz von Gewalt zu bereiten. Chinas Medien haben Videos von in Shenzen, in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Hongkong, mobil machenden chinesischen paramilitärischen Truppen verbreitet. „Die Wahrscheinlichkeit, dass [der chinesische Präsident] Xi [Jinping] sich entschließt, die Volksbefreiungsarmee loszuschicken, damit sie die Unruhen unterdrückt, steigt mit jedem Tag“, schrieb Jamil Anderlini in der Financial Times, „und ich vermute, sie liegt bereits bei über 50%.“

Doch selbst wenn die Proteste in Hongkong nachlassen sollten, würden sie bald wieder zunehmen. Wie ein Demonstrant gegenüber der Hong Kong Free Press äußerte: „Wir werden fortfahren, für Unruhe zu sorgen und Bewegungen zum zivilen Ungehorsam zu starten, bis die Regierung reagiert.“ Niemand in Hongkong kann sich auch nur vorstellen, dass die halbautonome Region einfach wie jede andere chinesische Stadt wird – wohlhabend, aber der Zensur unterworfen. Den jungen Leuten der Stadt im Besonderen erscheint es absurd, dass jemand, der beruflich vorankommen möchte, der Kommunistischen Partei Chinas beitreten muss.

Doch kann die KPCh nicht einfach nachgeben. Hongkong mag Chinas Geschäftsinteressen dienen und ausländische Investoren anlocken, doch solange die Stadt frei ist, wird sie für die Menschen auf dem Festland eine unannehmbare Versuchung darstellen. Daher hat die chinesische Regierung versucht, die Protestierenden als „Terroristen“ zu verleumden. Doch weiß jeder, der die Demonstrationen selbst beobachtet hat, dass das billige Propaganda ist. Die überwältigende Mehrheit sind junge Idealisten, die lieber etwas anderes täten, aber die durch die zunehmend autoritäre Haltung der chinesischen Regierung auf die Straße getrieben wurden.

In 2014 demonstrierte Hongkongs Jugend friedlich und wurde ignoriert. Jetzt greift sie manchmal nach Steinen. Wenn die chinesische Regierung ihr weiterhin keine andere Wahl lässt, könnten sich ihre falschen Behauptungen über die jungen Leute zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln. So war das mit der IRA in Nordirland und der baskischen Separatistengruppe ETA in Spanien. Falls in Hongkong etwas Ähnliches passiert, hat sich die KPCh das allein selbst zuzuschreiben.

Bibliografische Angaben

Sierakowski, Sławomir. “Eine Innenansicht der Hongkonger Proteste.” August 2019.

Copyright: Project Syndicate, 21. August 2019; Aus dem Englischen von Jan Doolan.

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