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16. Febr. 2016

„Am Ende eines notwendigen Reformprozesses werden wir eine andere EU haben als heute“

Ein Gespräch mit Professor Günter Verheugen

Wie wird die EU ihre Krisen meistern? Wie können ihre Beziehungen zu Russland wieder normalisiert werden? Diese und andere Fragen zur zukünftigen Gestaltung Europas stellte Irina Ghulinyan, Alumna des Carl Friedrich Goerdeler-Kolleg für Good Governance, an Günter Verheugen, Direktor des Kollegs und ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission.

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Herr Verheugen, die EU-Staaten streiten sich über die Lösung der Flüchtlingskrise, eine gemeinsame Entscheidung steht noch immer aus. Die Krise zeigt, dass die EU Schwachstellen hat – was läuft falsch?

Die EU befindet sich in der schwersten Krise ihres Bestehens. Es liegt daran, dass es eine Mehrfachkrise ist. Es ist eine politische Krise, in der die Bürgerinnen und Bürger Europas dem Versprechen der europäischen Integration auf Frieden und Wohlstand nicht mehr in ausreichendem Maß vertrauen. Wir haben in Europa eine Wachstumsschwäche mit dem Ergebnis zu hoher Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungerechtigkeit, wir haben eine Finanz- und Schuldenkrise, die die Grundlagen der Währungsunion erschüttert. Hinzu kommt noch eine außenpolitische Krise in unseren Beziehungen zu Russland und durch den Krieg in Syrien. Und als Letztes haben wir die Flüchtlingskrise, die gezeigt hat, dass europäische Werte und europäisches Handeln nicht notwendigerweise dasselbe sind. Alle drei Säulen der europäischen Integration wanken zurzeit: die Freizügigkeit, der Binnenmarkt und die Währungsunion. Auch die politische Stabilität ist durch wachsenden Populismus, Nationalismus, insgesamt europafeindliche Strömungen quer durch ganz Europa gefährdet.

Das Ganze geschieht vor dem Hintergrund schwacher Führungen sowohl auf der nationalen als auch supranationalen Ebene. Wir haben heute eine Situation, in der das egoistische Partikularinteresse, das nationale Interesse der einzelnen Regierungen vor dem Gemeinschaftsinteresse rangiert. Der Gemeinschaftsgedanke innerhalb der EU ist im Augenblick zu schwach. Das Jahr 2016 kann sehr entscheidend für die Zukunft der europäischen Integration werden: In diesem Jahr wird zu allem Überfluss auch noch entschieden, ob zum ersten Mal ein Mitglied der EU austritt oder nicht. Und ich halte das Risiko, dass Großbritannien die EU verlässt, für sehr hoch.

Und wenn Großbritannien einen Dominoeffekt auslöst?

Das ist das Risiko. Ich bin überzeugt, dass im Falle eines britischen Austritts der Druck in einer ganzen Reihe von anderen Mitgliedstaaten sehr hoch werden wird. Die Regierungen werden möglicherweise gezwungen, vergleichbare Prozesse über den Verbleib in der EU in Gang zu setzen. Durch den britischen Austritt käme das Nachbarland Irland in eine sehr schwierige Lage.

Die osteuropäischen Mitgliedstaaten tun sich besonders schwer, in der Flüchtlingskrise zu einem gemeinsamen europäischen Handeln beizutragen. Sehen Sie auch unter ihnen mögliche Aussteiger?

Um es kurz zu fassen: Die Vorteile der EU für diese Länder sind so massiv, dass kaum jemand daran denken würde, das aufs Spiel zu setzen. Das Grundproblem liegt auf nationaler Ebene. Die Lösung kann nur erfolgen, wenn ein fundamental anderes Denken auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs einsetzt und sie ihre Verantwortung erkennen und ihre Führungsaufgabe wahrnehmen. Das kann durch eine Politik erfolgen, die Sorgen und Befürchtungen der Menschen ernst nimmt, die wieder Vertrauen in die Zukunft der europäischen Integration herstellt. Wir müssen integrationsbereite, integrationswillige Mehrheiten in den Mitgliedstaaten haben. Mir geht es um die Grundsatzfrage: Wie kommen wir wieder in einen Zustand, wo die in Europa Verantwortlichen bereit sind, ihre nationalen Interessen an den gesamteuropäischen zu orientieren?

Wird die EU diese Situation meistern können, und wenn ja, wie?

Ja, das glaube ich schon. Es wird schmerzhaft werden und wir werden am Ende eines notwendigen Reformprozesses eine andere EU haben als heute. Die bisherige Methode der Integration – immer alle gleichzeitig und immer nur die Schritte, die für alle gleichzeitig möglich sind – ist eindeutig an ihr Ende gekommen. Wir werden eine variablere EU mit unterschiedlicher Dichte der Integration haben. Ich glaube nicht, dass die Menschen in Europa so töricht und geschichtsvergessen sein werden, um das Wichtigste und Beste aufzugeben, was sie in der bisherigen Geschichte unseres Kontinents zustande gebracht haben.

Die Flüchtlingskrise hat die Krise mit Russland von der Tagesordnung gedrängt. Wie lange kann es noch ohne eine Normalisierung der Beziehungen weitergehen?

Ja, diese Krise ist in den Hintergrund getreten, obwohl die Probleme vollkommen ungelöst sind. Ich habe keinen Zweifel, dass alle wieder auf den Tisch kommen. Im Grundsätzlichen möchte ich sagen: Der europäische Kontinent hat keine Zukunft, wenn es nicht zu einer stabilen und langfristigen Partnerschaft zwischen der EU und der Russischen Föderation kommt. In Brüssel darf man nie vergessen: die EU ist nicht ganz Europa, und sie hat auch nicht das Recht, für das ganze Europa zu sprechen.

Wir sind schon mal sehr viel weiter gewesen, was diesen gesamteuropäischen Ansatz angeht: In der Charta von Paris in 1990, wo Gorbatschows Idee vom gemeinsamen Haus Europa mit den vielen Wohnungen in eine Art politisches Bündnis umgewandelt wurde. Aber dieses politische Bündnis ist nicht von allen wirklich ernst genommen worden. Ich denke, dass wir auf der russischen Seite gerade in den letzten Jahren eine wachsende Enttäuschung, ja sogar Frustration darüber erleben, dass Russland eben nicht als gleichberechtigter Partner wahrgenommen und einbezogen wird.

Die Art und Weise, wie das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine entstanden ist – unabhängig davon, dass niemand anders als die Ukraine selbst darüber entscheiden darf, ob sie mit der EU assoziiert sein will oder nicht – war eine Ursache für die Krise in den Beziehungen der EU mit Russland. Über die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Assoziierung wurde nicht mit dem Hauptbetroffenen – Russland – gesprochen.

Hätte man Russland darauf angesprochen, wären seine Einstellung und Handlungen anders gewesen?

Diese Chance gab es. Wir haben das bei der Osterweiterung bereits erlebt. Russland war auch betroffen von der Osterweiterung, es war der wichtigste Handelspartner der osteuropäischen Länder. Wir haben damals offen miteinander geredet und Lösungen gefunden, auch für politische Fragen: Die Stellung der russischen Minderheiten in diesen Ländern, speziell im Baltikum. Auch für die extrem schwierige Frage des Zugangs zur russischen Exklave Kaliningrad. Das geschah auf Grundlage von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt.

Bei der Konzipierung der Nachbarschaftspolitik 2003 wurde klar gesagt, dass wir keine regionalen Gruppen bilden wollen. Wir wollten nicht den postsowjetischen Raum oder die Mittelmeerstaaten als eine Gruppe betrachten, sondern es war konzipiert als eine vollkommen individualisierte, bilaterale Politik. Wir wollten die Beziehungen zu jedem einzelnen unserer Nachbarstaaten so gut entwickeln, wie es überhaupt nur möglich ist. Unterschiedliches Tempo, unterschiedliche Reichweite sollte ohne Weiteres möglich sein. Die Veränderung dieser Politik, die Etablierung der Östlichen Partnerschaft hat in Moskau den Eindruck entstehen lassen, dass die EU jetzt den gesamten postsowjetischen Raum als ihr künftiges Einflussgebiet betrachtet. Damit kam eine geopolitische Dimension in die Politik, die vorher überhaupt nicht da war, und zwar ganz bewusst nicht: Die EU ist kein Imperium und sie will keine Einflusszone.

Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass wir zu normalen Beziehungen mit Russland zurückkehren müssen, um auf deren Grundlage die langfristige strategische Partnerschaft wiederherzustellen.

Wie sollte das unter den jetzigen Umständen geschehen?

Wir sollten Russland zwei große Perspektiven anbieten. Das eine ist die Perspektive eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass die Idee eines solchen gesamteuropäischen Wirtschaftsraums, eines kontinentalen Binnenmarktes, nicht in Moskau entstand, sondern in Brüssel. Diese Idee war Bestandteil des Konzepts der Nachbarschaftspolitik aus dem Jahr 2003. Es war ein fataler Fehler, dass die großen Mitgliedstaaten nicht bereit waren, diese Politik aktiv zu verfolgen. Die Reaktion auf der russischen Seite war damals überaus positiv. Darauf können wir zurückgreifen.

Was die mittelfristige, langfristige Zukunft angeht, so haben die Russische Föderation (jetzt könnte man sagen, die Eurasische Union, die in der Zwischenzeit entstanden ist) und die EU dasselbe Problem: Wir sind alleine nicht groß genug, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Dieser Wettbewerb wird von Jahr zu Jahr schärfer werden. Wenn man die Bevölkerungszahlen und die enormen Potenziale anschaut, mit denen wir in der Welt von morgen zu tun haben, erkennt man, dass es absolut in unserem und Russlands Interesse ist – auch in dem der mit ihm kooperierenden Staaten –, unsere Potenziale zusammenzufassen.

Das Nächste ist die Sicherheitspolitik. Wie gerade erwähnt, in der Charta von Paris war die Perspektive eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems bereits angelegt. Das haben wir im Kern auch mit der OSZE. Ich wünschte mir, dass Deutschland während seiner OSZE-Präsidentschaft 2016 die Gelegenheit nutzen würde, um den Gedanken der OSZE als Kern eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems wieder voranzutreiben. Klar ist jedenfalls, dass wir bei der Lösung der internationalen Sicherheitsfragen als EU keine Rolle spielen werden, solange wir nicht außenpolitisch mit einer Stimme sprechen können, und selbst dann reicht es nicht aus. Aber wenn ganz Europa als ein weltpolitischer Faktor auftreten könnte, das könnte einen Unterschied machen. Auch die ungelösten Sicherheitsprobleme, die wir heute in Europa noch haben, werden nicht gelöst, wenn es nicht zur dieser grundlegenden Verständigung zwischen der EU und Russland kommt. Denken sie an die zahlreichen Konflikte im Baltikum und Kaukasus, in Moldau, in der Ukraine, auf dem Balkan …

Heißt das, dass man die bisherigen Meinungsverschiedenheiten mit Russland über die Ukrainekrise und den Krieg in Syrien lieber dabei belassen und Angebote machen sollte?

Wir müssen in der Ukraine Fortschritte sehen, das ist klar. Das heißt: Das Minsk 2-Abkommen muss vollständig erfüllt werden. Und das ist auch eine dringliche Aufforderung an die ukrainische Regierung. Kiew tut bei weitem nicht alles, was es tun könnte, um das Minsker Abkommen tatsächlich durchzusetzen.

Eine Kooperation in Syrien zwischen dem Westen und Russland könnte die Grundlagen für die Normalisierung und Lösung anderer Konflikte legen. Dieser Krieg kann nur dann beendet werden, wenn alle, die in dieser Region Einfluss haben, ein gemeinsames Ziel haben. Und dazu braucht man eine Vorstellung davon, was danach kommen soll. Krieg in dieser Region zu führen ist eine Sache, aber dann eine stabile politische Ordnung zu finden, ist viel, viel schwieriger. Man muss erst wissen, was man eigentlich will, bevor man mit militärischen Mitteln eingreift. Ich muss ganz offen gestehen: Ich habe den Eindruck, dass die Russen die Lage in Syrien richtiger eingeschätzt hatten.

Der Assoziierungsprozess lief nicht nur in der Ukraine schief. Kurz zuvor machte Armenien einen Rückzieher und trat der Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan bei. Ist es trotzdem noch möglich, einen wirksamen Rahmen für die Zusammenarbeit zu finden?

Es war eine armenische Entscheidung, die EU-Assoziierung am Ende doch nicht zu akzeptieren. Das wurde auch in Brüssel ruhig hingenommen und ist eine Entscheidung, die wir akzeptieren müssen. Gemeinsam müssten wir darüber nachdenken, wie wir unsere Beziehungen gestalten. Vielleicht sind wir in der Lage, hier ein Modell der Kooperation zu finden, das dann auch für die anderen Teilnehmer der Zollunion, der Eurasischen Union gelten könnte. Ich halte es für absolut notwendig, dass die EU auf die Eurasische Union zugeht und Gespräche anfängt, wie man zusammenarbeiten kann. Beispielsweise in Fragen der Rechtsangleichung, des Abbaus von Handelshemmnissen und Zöllen. Schritt für Schritt, um am Ende zu einer gesamteuropäischen Wirtschaftskooperation zu kommen.

Wir müssen in der EU erkennen, dass die ökonomische Integration des Raumes östlich von uns für uns kein Problem und keine Konkurrenz darstellt. Integration im Osten macht die gesamteuropäische Zusammenarbeit leichter und bietet außerdem noch die Chance, über die Mitwirkung von Kasachstan in den zentralasiatischen und ostasiatischen Raum hinein zu wirken. In dieser Situation stecken eine Menge Chancen, und Armenien ist jetzt das Land, wo sich als erstes zeigen kann, ob wir diese Chancen nutzen können.

Sie haben mit Armeniern nicht nur in der EU-Zusammenarbeit Umgang gehabt, als Direktor des Carl Friedrich Goerdeler-Kolleg erleben Sie seit Jahren Nachwuchsführungskräfte aus Armenien. Welche Eindrücke haben Sie?

Es ist auffällig, dass die Bewerbungen aus Armenien im Verhältnis zur Größe des Landes zahlreich und sehr qualifiziert sind. Was ich erlebt habe bei den jungen Armenierinnen und Armeniern ist eine große Offenheit, sie sind sehr freimütig und diskussionsbereit. Was mich auch sehr freut, wir haben im Kolleg niemals erlebt, dass es zwischen den Teilnehmern aus Armenien und Aserbaidschan zu irgendwelchen Spannungen kam. Das hat eine alte Erfahrung bestätigt: Trifft sich man auf der menschlichen Ebene, ist die Verständigung meistens sehr leicht. Das ist einer der gewünschten Effekte des Kollegs, dessen Hauptziel ist, den künftigen Entscheidern zu ermöglichen, sich im Feld Verwaltungsmodernisierung und Good Governance weiterzubilden, ihr Wissen über politische Zusammenhänge in Deutschland und in der EU, über die internationale Zusammenarbeit zu vertiefen. Ich hoffe sehr, dass wir auch in diesem Jahrgang viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Armenien im Kolleg dabei haben werden.

Das Gespräch führte Irina Ghulinyan für die armenische Onlinezeitung „Lragir.am“. Irina Ghulinyan ist Alumna des Carl Friedrich Goerdeler-Kolleg für Good Governance.