Kommentar

29. Juni 2015

Politisierung versus Pragmatismus

Kooperation zwischen Europäischer Union und Eurasischer Wirtschaftsunion

Alle Bereiche in den Beziehungen zwischen der EU und Russland sind inzwischen politisiert und mit Blick auf die Ukraine versicherheitlicht. Das verengt die Kommunikation mit Russland auf wenige problematische Themen und beschränkt die Austauschmöglichkeiten. Demnach sollte eine Kooperation zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion nicht durch eine Politisierung weiter aufgewertet werden, sondern sich auf eine pragmatische, ökonomische Angleichung von technischen Standards und Normen konzentrieren.

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Sinn und Zweck der Eurasischen Wirtschaftsunion

Vor dem Hintergrund der Ukraine- und Russlandkrise hat sich eine deutsche Debatte über die Notwendigkeit von neuen Dialogforen mit Moskau entwickelt, um in „weichen“ Bereichen Kooperationsmöglichkeiten mit der russischen Führung auszuloten und auf diese Weise die Differenzen über die gemeinsame Nachbarschaft abzubauen. Ein zentraler Vorschlag ist dabei, durch einen Dialog zwischen Eurasischer Wirtschaftsunion und EU neue Kommunikationskanäle mit Russland zu öffnen. So sollen unter anderem Verhandlungen darüber ermöglicht werden, wie man Differenzen zwischen der Zollunion/EAWU einerseits und dem vertieften Freihandelsabkommen (DCFTA) zwischen EU und Ukraine andererseits abbauen könnte. Das heißt, ökonomische Institutionen sollen dazu genutzt werden, die Kontakte mit Russland zu verbessern und den politischen Konflikt um die Ukraine zu entschärfen.

Von Anfang an konzipierte Russland die 2010 initiierte Zollunion zwischen Belarus, Kasachstan und Russland, die zum 1. Januar 2015 Teil der EAWU wurde, als ein Gegenmodell zur EU und ihren ökonomischen Instrumenten der Nachbarschaftspolitik. Ursprünglich war die Idee des russischen Präsidenten Wladimir Putin, einen von Russland dominierten alternativen Wirtschaftsraum in der postsowjetischen Region zu schaffen, welcher dann auf Augenhöhe mit der EU einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok nach Lissabon aushandeln sollte. Die Ukraine als der bevölkerungsmäßig zweitwichtigste Staat der Region galt als Schlüsselland für diesen eurasischen Integrationsprozess. Gleichzeitig wurde deutlich, dass diese Zollunion den Gründungsstaaten Belarus, Kasachstan und Russland begrenzte ökonomische Entwicklungsperspektiven bietet; in erster Linie schafft sie Vorteile durch ein bilaterales russisches Anreizsystem, bei gleichzeitiger Akzeptanz der russischen Hegemonie.

Die russische und die kasachische Wirtschaft basieren beide hauptsächlich auf dem Export von Rohstoffen und zeichnen sich durch wenige technologische Innovationen aus. Belarus hat wohl den größten ökonomischen Vorteil durch einen besseren Zugang zum russischen Markt und denen der anderen beteiligten Staaten; aber aufgrund der bereits bestehenden engen Verknüpfung mit der russischen Wirtschaft im Rahmen des bilateralen Unionsstaats ist auch dieser Vorteil begrenzt. Hier wird zudem ein grundlegender Unterschied zur EU deutlich, deren Integration durch Freiwilligkeit erfolgt, und nicht wie bei Russland durch Zuckerbrot und Peitsche. Während Belarus in einer ökonomisch schwierigen Lage vor allem vergünstigte Öl- und Gaspreise sowie zusätzliche Zollerlöse aushandeln konnte, sicherte sich Armenien mit seinem Beitritt in erster Linie die weitere sicherheitspolitische Unterstützung Russlands hinsichtlich des Konflikts mit Aserbaidschan.

Geopolitik versus Integration

Im Kontext des Konflikts um die Ukraine wurde die Zollunion/EAWU immer mehr zu einem geopolitischen Projekt gegen EU-Einfluss in der Region entwickelt und immer weniger zu einem Baustein für einen gemeinsamen wirtschaftlichen Raum mit der EU. Die russische Argumentation für die Vorteile der Zollunion für die Ukraine im Gegensatz zum DCFTA und die Entweder-oder-Entscheidung zwischen beiden „Integrationsräumen“ ist stark politisch aufgeladen, basiert aber auf keinem ökonomischen Fundament. Kiew kann sowohl mit Russland Handel im Rahmen des GUS-Freihandelsabkommens betreiben (die Ukraine ist seit 2011 Mitglied) als auch mit der EU im Rahmen des DCFTAs.

Es erscheint naiv zu glauben, dass die russische Führung mit der EAWU eine multilaterale Institution geschaffen habe, um mit der EU einen Interessenausgleich über die gemeinsame Nachbarschaft oder gar die Ukraine zu finden. Die EAWU zum gleichwertigen Partner der EU aufzuwerten würde letztlich nicht nur russische Praktiken legitimieren, auf andere Staaten Druck auszuüben, sondern auch Russlands Hegemonie in der Region anerkennen. Gleichzeitig wird insbesondere angesichts der russischen Annexion der Krim und des von Moskau maßgeblich initiierten Krieges in der Ostukraine deutlich, dass die Teilnehmerstaaten dieser Integration, allen voran Belarus und Kasachstan, auf Distanz zu Moskau gehen und jeglicher politischen Integration eine Absage erteilt haben. Russland hat versucht, die EAWU zu nutzen, um die geopolitische Funktionsfähigkeit der neuen Institution zu testen. Dabei ist es darin gescheitert, Unterstützung von den anderen beiden Gründungsstaaten bei Sanktionen gegen den Westen und die Ukraine 2014 zu erhalten und hat als Reaktion Importe aus diesen beiden Ländern zumindest zeitweise eingeschränkt. Russlands unilaterale Politik und wachsende geopolitische Instrumentalisierung der EAWU schwächt die Zollunion als bisher wichtigsten Erfolg der eurasischen Integration.

Bedeutung für die EU

Dass Zollunion und EAWU den bisher erfolgreichsten von Russland betriebenen Integrationsprozess in der postsowjetischen Region seit dem Ende der Sowjetunion darstellen, muss auch die EU anerkennen. Die Schaffung einer multilateralen Institution inklusive eines Gerichtshofes und die Angleichung der Zölle und einer Vielzahl von Standards befördern die ökonomische Integration der beteiligten Staaten. Selbst wenn es wohl dauerhaft noch viele Differenzen zwischen den Teilnehmerstaaten gibt und der politische Integrationsdruck durch Russland der institutionellen Unterfütterung hinterherhinkt, ist es im Interesse Deutschlands und der Europäischen Union, graduell die Beziehungen mit der EAWU zu entwickeln, da diese wiederum die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen ihren einzelnen Mitgliedstaaten und der EU beeinflusst. Für die EU könnte dies sogar Vorteile haben, da sie nicht mit jedem Staat einzeln Handelsabkommen abschließen müsste, sondern mit nur einer Institution.

Ebenso wird deutlich, dass trotz russischer ökonomischer und politischer Dominanz die Institutionen der Zollunion/EAWU eine gewisse Eigendynamik entwickelt haben und die russische Führung ihre Interessen nicht vollständig durchsetzen kann. Insbesondere Kasachstan hat aufgrund seiner relativen politischen Stabilität und rohstoff-finanzierten ökonomischen Potenz mehr Spielraum gegenüber Russland und pflegt Beziehungen zu sämtlichen Nachbarstaaten. Trotz aller Konflikte ist Russland bereits Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) und Kasachstan steht kurz davor. Dies wird den Druck auf die anderen Teilnehmerländer erhöhen, ebenfalls diesen Beitritt anzustreben und so ihre Integration in die Weltwirtschaft zu befördern. Die EU sollte den WTO-Beitritt aller EAWU-Mitglieder aktiv fördern und diese hierdurch als multilaterale Institutionen stärken. Demgegenüber steht die relativ geringe Wirtschaftskraft dieses gemeinsamen Wirtschaftsraumes, der bevölkerungsmäßig begrenzte Markt, das niedrige Innovationspotenzial und die Abhängigkeit von einem russischen Markt, der in einer tiefen Rezession steckt.

Politisierung versus Pragmatismus

Angesichts der Ukrainekrise und der folgenden Politisierung sämtlicher Bereiche in den Beziehungen zu Russland sollten Deutschland und die EU nicht den Fehler begehen, auch die EAWU in ihrer Bedeutung durch eben diese Politisierung aufzuwerten, sondern stattdessen pragmatische, technische Beziehungen suchen: In der Aushandlung von technischen Standards und dem Abbau von Barrieren zwischen der EU als Wirtschaftsraum und der von Russland dominierten Zollunion liegt die Stärke der EU – und nicht im politischen Feilschen mit Moskau. Bei einer Angleichung der Standards zwischen der Ukraine und der EU im Rahmen des vertieften Freihandelsabkommens könnte diese Strategie langfristig das Kompatibilitätsproblem mit der EAWU lösen, ohne diese Institution dabei politisch aufzuwerten. Viele mögliche Konflikte um die Ukraine zwischen dem DCFTA und der Zollunion könnten im Rahmen der WTO geklärt werden, wenn die beteiligten Parteien daran Interesse hätten.

Kasachstan und Belarus haben ein Interesse daran, Russland innerhalb der EAWU auszubalancieren und ihre Beziehungen zur EU und zu anderen Partnern auf der multilateralen wie auf der bilateralen Ebene weiterzuentwickeln. Die Dominanz des Ukraine-Themas in den Beziehungen zwischen EAWU und EU würde diesen Zielen zuwiderlaufen und in Russland die Kräfte stärken, die eine weitere Versicherheitlichung und Begrenzung aller Beziehungen mit der EU anstreben. Hierdurch würden Deutschland und die EU einen weiteren Kommunikationskanal in einem Bereich von gemeinsamem Interesse durch falsche Aufwertung politisieren und somit schwächen. Viel sinnvoller erscheint es, der Sprachlosigkeit in den Beziehungen durch pragmatische Institutionalisierung entgegenzuwirken – dies jedoch in diesem Fall den Experten und nicht der großen Politik zu überlassen.

Dieser Text wurde am 23. Juni bei Cicero als Gastbeitrag veröffentlicht. 

Bibliografische Angaben

Meister, Stefan. “Politisierung versus Pragmatismus.” June 2015.

DGAPstandpunkt 4, 23. Juni 2015, 3 S.

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