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08. Okt. 2012

„Aus Euroland darf kein separates Kerneuropa werden“

Günter Verheugen, Vizepräsident der EU-Kommission a.D., über das Krisenmanagement der Bundesregierung und der EZB

Eine entscheidende Dekade lang, 1999-2010, hat Günter Verheugen die Europäische Union in Brüssel mitgestaltet. Im DGAP-Interview warnt er vor einer Teilung der EU: „Die Währungsunion ist Bestandteil der Integration.“ Auch für Neumitglieder stehe die Euro-Einführung im Pflichtenheft. Das von Deutschland inspirierte Regelwerk für die Währungsunion aber habe sich als unbrauchbar erwiesen und erschwere eine Lösung der Krise. In der EZB sieht Verheugen den derzeit einzigen handlungsfähigen Akteur.

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DGAP: Herr Verheugen, was Europa derzeit am meisten bewegt, ist immer noch die Schuldenkrise. Griechenland als schwierigster Fall wirft die Frage auf, ob der Euro nicht zu schnell in zu vielen Ländern eingeführt wurde, die dafür noch nicht reif waren. Warum wollte man eigentlich Griechenland damals unbedingt dabei haben?

Verheugen: Die Gemeinschaftswährung ist keinen Tag zu früh eingeführt worden – eher  zu spät. Die Diskussion über die Währungsunion reicht ja bereits bis ins Jahr 1969 zurück. In Deutschland ist zudem die Annahme weit verbreitet, der Euro sei der Preis für die deutsche Einheit gewesen – was blanker Unsinn ist. Der Euro war eine absolute wirtschaftspolitische Notwendigkeit, für Deutschland wie für alle anderen Länder auch.

Die Entscheidung aber, Griechenland beitreten zu lassen – trotz der Bedenken, die es gab – war aus heutiger Sicht eine Fehlentscheidung. Griechenland ist aufgrund falscher Annahmen in den Club gekommen. Die damalige Entscheidung ist allerdings dadurch zu erklären, dass die Informationen, die zur Verfügung standen, nicht gründlich genug geprüft worden sind und in einigen Fällen falsch waren. Heute würde man möglicherweise früher merken, dass die geringe Wettbewerbsfähigkeit des Landes Anlass zu schwerster Sorge sein muss. Das hat man viele Jahre lang übersehen.

Ob es über die rein wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen hinaus bei den damaligen Regierungen, insbesondere der deutschen, eine Art positives politisches Vorurteil für Griechenland gegeben hat, kann ich nicht sagen – auszuschließen ist das nicht. Wir hatten eine vergleichbare Situation ja schon einmal, als die Europäische Kommission einen Beitritt Griechenlands zur EWG ablehnte, die Staats- und Regierungschefs sich aber über diese Empfehlung hinweggesetzt haben, aus rein politischen Gründen, und sich dann niemand mehr darum kümmerte, wie der Beitrittsvertrag gestrickt sein muss, damit ein Erfolg aus der Mitgliedschaft wird.

DGAP: Man fragt sich ja heute, ob die EU-Kommission bei der Euro-Einführung dem griechischen Zahlenwerk schlichtweg auf den Leim gegangen ist ...

Verheugen: Nicht nur die Kommission, auch der IWF und die EU-Länder

DGAP: ... oder ob man beide Augen ganz fest zugedrückt hat?

Verheugen: Nein. Ich bin ja bei den letzten Entscheidungen selber dabei gewesen in der EU-Kommission. Seinerzeit ist von dem zuständigen Kommissionsmitglied – als Ergebnis gründlicher Prüfungen der Experten – vorgetragen worden, dass Griechenland die Bedingungen für einen Beitritt zum Euro erfüllt hat. Über diese Einschätzung gab es dann gar keine Debatten mehr. Weder in der Kommission noch im Rat.

Im Nachhinein habe ich mich gefragt, inwieweit sich politische Entscheidungsträger eigentlich auf Experten verlassen dürfen – oder vielmehr die Dinge selbst prüfen müssen. Wie jedoch soll ein normaler Politiker die finanzielle Solidität eines ganzen Landes prüfen? Hier haben wir ein echtes strukturelles Problem. Klar ist aber, dass uns die Experten damals etwas Falsches gesagt haben.

DGAP: Heute geht man mit der Troika in das Land, also mit Fachleuten der Kommission, der EZB und des IWF...

Verheugen: Da stellt sich dasselbe Problem.

DGAP: Welche institutionellen Lehren müssen jenseits der jetzigen „Feuerwehrmaßnahmen“ wie Brandschutzmauern und Rettungsschirmen gezogen werden?

Verheugen: Zunächst müssen wir lernen, dass die in den Neunziger Jahren von Deutschland als eine Art Mantra durchgesetzten Regeln der Währungsunion in der wirtschaftlichen und politischen Praxis auf breiter Front versagt haben. So wie die Deutschen es sich vorgestellt haben: dass die Europäische Zentralbank und der Euro nichts anderes seien als Bundesbank und D-Mark unter anderem Namen – so funktioniert es nicht. Diese Vorgehensweise müssen wir uns abschminken, sonst kommen wir so schnell nicht aus der Krise heraus.

Im Augenblick wird die Entscheidungsunfähigkeit der Politik kompensiert durch das Handeln der EZB; bis möglicherweise einige deutsche Rechthaber auch der EZB in den Arm fallen. Ich finde das, was zur Zeit geschieht, keinesfalls ideal. Es handelt sich um eine Auslegung des Vertrages, zu der man einen gewissen Mut haben muss. Aber angesichts des deutschen Neins zu jeder anderen Lösung gibt es im Moment keine Alternative.

Die derzeitige institutionelle Diskussion halte ich im übrigen für abwegig. Wir werden so schnell keine neuen Institutionen bekommen, weil es in absehbarer Zeit keinen neuen EU-Vertrag geben wird.

DGAP: Man könnte künftig den EU-Beitritt eines Landes von einer Mitgliedschaft in Euroland entkoppeln.

Verheugen: In Berlin, aber auch in Brüssel gibt es bereits Tendenzen, jetzt mit ein paar schnellen Schnitten die Eurozone von der restlichen Union abzukoppeln und in Gestalt von Euroland eine Art Kerneuropa zu schaffen, mit eigenen Institutionen und Verfahren. Ich kann davor nur aufs eindringlichste warnen. Das würde auf eine Teilung der Union hinauslaufen – und eine solche Teilung wäre der Beginn vom Ende der EU.

Und EU-Beitritte ohne das Ziel einer späteren Einführung des Euro sind nach aktueller Rechtslage nicht möglich. Der EU-Vertrag ist in diesem Punkt eindeutig: Die Währungsunion ist Bestandteil der Integration. In den Beitrittsverträgen von 2004/07 haben wir es noch einmal festgeschrieben: Alle neuen Mitglieder sind verpflichtet, den Euro einzuführen, ohne jede Ausnahme.

DGAP: Das heißt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis vor allem wirtschaftlich schwächere EU-Mitglieder schließlich reif sind für eine Übernahme des Euro?

Verheugen: Genau. Das lässt sich natürlich ein bisschen steuern. Um den Euro einzuführen, sind eine Reihe von Bedingungen zu erfüllen. Und niemand wird im Augenblick ein Land dazu drängen wollen, den Euro einzuführen. Aber ich bin beispielsweise den Polen sehr dankbar dafür, dass sie deutlich erklären, dass sie sich trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten weiter auf den Beitritt zum Euro vorbereiten. Sie haben weiter Vertrauen in die Gemeinschaftswährung.

Generell gibt es ja überhaupt keinen Grund, das Vertrauen in die Gemeinschaftswährung zu verlieren. Ich zögere immer noch, den Begriff Euro-Krise zu verwenden. Der Euro ist stabil: Der Außenwert ist im Augenblick ganz günstig, nicht zu hoch und nicht zu niedrig, und nach wie vor über dem Einstandskurs von 1999. Und: Wir haben Preisstabilität in Europa – mehr jedenfalls als zur Zeit der D-Mark. Wir können also zufrieden sein.

Die Währung als solche ist keinesfalls in Gefahr. Eine Gefahr sind vielmehr die Schulden der Mitgliedsländer und die Schwierigkeiten der Staaten, ihre Haushalte zu finanzieren und so ihre Aufgaben zu erfüllen, wenn sie in großem Umfang Haftungen übernehmen müssen für notleidende Länder. Das birgt Risiken. Nach Abwägung aller Gesichtspunkte komme ich deshalb zu dem Ergebnis, dass das, was die EZB getan und angekündigt hat, notwendig war, insbesondere um den Druck von Italien und Spanien zu nehmen.

DGAP: Die Anziehungskraft der EU auf Nachbarländer ist ungebrochen. Gleichzeitig geht es um den Zusammenhalt der Union, sozusagen um Bestandssicherung. Wie bekommt die Union den Spagat zwischen Konsolidierung und neuen Erweiterungsschritten hin? Kroatien wird 28. Mitglied, weitere Kandidaten stehen vor der Tür...

Verheugen: Das eine schließt das andere doch überhaupt nicht aus. Der Prozess der europäischen Integration ist von zwei gleichermaßen dynamischen Strömungen gekennzeichnet: Die eine Dynamik ist die der Vertiefung: Immer mehr politische Bereiche gehen in europäische Verantwortung über; es gibt auch Gegenstände die aus EU-Verantwortung in die nationale zurücküberwiesen werden könnten; das würde sicher zu einer besseren Balance beitragen. Die andere Dynamik ist die der Erweiterung um neue Mitglieder.

Sinn und Zweck der EU-Integration im 21. Jahrhundert besteht doch darin: Einerseits sollten wir das ursprüngliche Ziel der Friedenssicherung nicht aus den Augen verlieren. Das aber gilt es heute zu verbinden mit einer weiteren Zielsetzung: der Bewahrung unserer Lebens- und Freiheitschancen in einer sich rasant verändernden Welt. Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir zweierlei: politische Handlungsfähigkeit, aber auch das nötige Gewicht in der Welt, eine gewisse kritische Masse, um gegenüber den Konkurrenten, mit denen wir es zu tun haben, die über Milliarden Menschen verfügen, zu bestehen. Wir können daher nicht auf die Integration neuer Mitglieder verzichten. Bestes Beispiel ist die Türkei, das Land in Europa mit dem stärksten ökonomischen Potenzial.

DGAP: Wie kann man die Bevölkerung vom Wert der europäischen Integration und der Notwendigkeit weiterer Integrationsschritte überzeugen?

Verheugen: Die nationale Politik muss die europäische Dimension viel ernster nehmen als bisher, ja sie sogar als Maßstab nationalen Handelns betrachten. In Deutschland ist Europapolitik leider traditionell eine Angelegenheit von Experten, völlig abgekoppelt von der nationalen Politik und Öffentlichkeit. Gerade in Deutschland geben sich die politischen Parteien und Institutionen jenseits von Sonntagsreden nicht wirklich Mühe, den Bürgern zu erklären, was die europäische Einigung für sie bedeutet. Das läuft so völlig falsch. Die nationale Politik ist in der Bringschuld. Es gehört zur politischen Verantwortung eines jeden, vom Abgeordneten des Europaausschusses im Bundestag bis zum Bürgermeister, den Menschen Europa nah zu bringen und zu erklären.

DGAP: Was sind die drei Überlebensfragen für die Union?

Verheugen: Ohne das als Hierarchie zu verstehen: Erstens muss die EU ihre internationale Handlungsfähigkeit sichern und mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ihre Interessen in der Welt vertreten. Zweitens gilt es das Demokratiedefizit in der EU zu überwinden. Die Union muss aus einem Projekt der Regierungen und Beamten zu einem Projekt der Bürgerinnen und Bürgern werden. Sonst wird sie überhaupt nicht überleben. Drittens brauchen wir auf europäischer Ebene eine stärkere Einsicht in die Notwendigkeit und Richtigkeit nationaler Unterschiede. Bislang dominiert immer noch eine Art Ideologie der Gleichmacherei, die sich unter dem Begriff der Harmonisierung tarnt. Zu glauben, Europa verwirkliche sich in europäischen Regeln, ist ein ganz großer Irrtum. Wir sollten im Gegenteil unsere enorme Vielfalt nicht als Schwäche betrachten, sondern als einen ganz großen Reichtum.

DGAP: Herr Verheugen, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Lucas Lypp, Online-Redakteur

Günter Verheugen – von 1999 bis 2010 Mitglied der Europäischen Kommission – war zuständig für die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU. In seiner zweiten Amtszeit war er Vizepräsident der Kommission und Kommissar für Unternehmen und Industrie. Günter Verheugen ist Honorarprofessor an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt/Oder und hat eine Reihe von Büchern und Aufsätzen zur Europapolitik verfasst. Der Nachwuchsförderung widmet er sich auch als Kollegdirektor des Carl Friedrich Goerdeler-Kollegs der Robert Bosch Stiftung, das in Kooperation mit der DGAP durchgeführt wird.

Bibliografische Angaben

Verheugen, Günter . “„Aus Euroland darf kein separates Kerneuropa werden“.” October 2012.

DGAP-Interview, 24. September 2012

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