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16. Mai 2012

„Die Raketenabwehr ist eine Kernaufgabe der NATO“

Thomas Hambach, Leiter des NATO-Referats im Bundesministerium der Verteidigung

Anfang Mai verschärfte Russland den Ton gegenüber dem westlichen Bündnis. Zu einer Kooperation bei der Raketenabwehr ist es bislang nicht gekommen. Dennoch wird die NATO beim Gipfel in Chicago bekannt geben, dass sie über erste Bausteine eines Abwehrschilds verfügt, mit dem sie das Bündnisgebiet vor Raketenangriffen schützen will. „Mit diesem Schritt setzt die NATO ein wichtiges politisches Signal und zeigt, dass es ihr Ernst ist mit diesem Projekt,“ sagt Thomas Hambach.

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Die NATO hat sich zum Ziel gesetzt, das gesamte Bündnisgebiet gegen ballistische Raketen jeder Reichweite zu schützen. Sie wird auf dem Gipfeltreffen in Chicago voraussichtlich eine Anfangsbefähigung für die territoriale Raketenabwehr verkünden. Wie sieht diese Anfangsbefähigung aus? Was genau kann die NATO dann damit?

Die sogenannte „NATO Interim Ballistic Missile Capability“ stellt eine noch sehr eingeschränkte Fähigkeit dar. Sie besteht aus der Anbindung weniger, bereits stationierter Elemente der USA an die im Aufbau befindliche NATO-Führungsfähigkeit der Raketenabwehr im Allied Air Command Ramstein. Das ist zum einen ein Kreuzer der AEGIS-Klasse im Mittelmeer, der sowohl mit einem Radar als auch mit Abfangraketen ausgestattet ist. Zum anderen handelt es sich um ein in der Türkei stationiertes Radargerät.

Im Kern kann die NATO damit in Teilen den Luftraum auf ballistische Raketen hin überwachen und sehr begrenzt mit sogenannten SM 3-Flugkörpern von dem Kreuzer aus bekämpfen. Das Entscheidende ist, dass die NATO damit erste, weiter ausbaufähige Strukturen entwickelt und zeigt, dass es der Allianz Ernst ist mit dem Projekt Raketenabwehr.

Welche Entscheidungen stehen nach Chicago noch aus, um die Abwehr zu komplettieren?

Wir sind mit der jetzt erreichten Anfangsbefähigung noch weit von dem eigentlichen Ziel, einen territorialen Schutz für alle europäischen Verbündeten aufzubauen, entfernt. Die Führungsfähigkeit, das heißt die technische Anbindung, die Computersysteme, aber auch die Einsatzpläne und -regeln müssen noch verfeinert oder erst aufgebaut werden.

Die USA werden aber mit ihrem Projekt, dem European Phased Adaptive Approach, weitere, eigene Systeme bereitstellen. Zudem werden weitere Mitgliedsländer Beiträge im Bereich der Sensoren oder der Effektoren leisten, also bei der Erkennung von Flugkörpern und bei Abfangflugkörpern, die dann ihrerseits in das System integriert werden müssen. Es ist also noch viel Arbeit sowohl an technischen, an operationellen aber auch an politischen Fragen zu leisten.

Das Thema Raketenabwehr war innerhalb der NATO stets mit erheblichen Konflikten verbunden. Ist jetzt die Zeit der Kontroversen vorbei oder gibt es noch Streitpunkte?

Wesentlich ist für uns, dass die Allianz mit dem Gipfeltreffen in Lissabon den Aufbau einer gemeinsamen Raketenabwehr beschlossen hat und diesen Beschluss nun mit der NATO Interim BMD Capability glaubwürdig unterstreicht. Der gemeinsame Wille ist also da. Aber man sollte die Komplexität eines solchen Systems nicht unterschätzen. Natürlich gibt es Bereiche, in denen weitere Verhandlungen geführt werden müssen.

Um nur einige zu nennen: Welche Systeme werden gebraucht und wer wird sie am Ende bereitstellen und dafür bezahlen? Wie lassen sich Drittstaaten, die ja auch geschützt werden könnten oder aber von herabfallenden Trümmerteilen getroffen werden, einbinden? Wie müssen die Bereitschaftsgrade organisiert sein?

Aber ich denke man kann festhalten: Die Sache ist auf den Weg gebracht, und das politische Signal, das nun von Chicago ausgeht, wird die Geschlossenheit und Entschlossenheit der Allianz, eine Raketenabwehr aufzubauen, unterstreichen.

Raketenabwehr gilt im Wesentlichen als eine amerikanische Technologie und Fähigkeit. Warum sind die Europäer auf diesem Gebiet bisher so wenig aktiv? Immerhin sind Teile von Europa bereits jetzt durch iranische Raketen bedroht, nicht aber der amerikanische Kontinent.

Die Amerikaner haben sich bekanntermaßen schon seit den 1980er Jahren mit Fragen der territorialen Raketenabwehr auseinander gesetzt und bereits damals beträchtliche Ressourcen in diese Technologie gesteckt. Zudem sind sie in der taktischen Raketenabwehr traditionell führend. Schließlich hat die Erfahrung der Verwundbarkeit durch 9/11 dem Projekt Raketenabwehr weitere Impulse gegeben.

Am Ende muss man aber festhalten, dass wir mit dem Beschluss von Lissabon eine gemeinsame, auch durch Europäer getragene Fähigkeit aufbauen. Auf einen Wettkampf „wer macht mehr als die anderen“ sollten wir uns nicht einlassen. Jedes Land hat für das Maß seines Engagements gute Gründe. Wichtig ist am Ende, dass das Bündnis als Ganzes über diese Fähigkeit verfügt.

Welche Fähigkeiten können Europa – und insbesondere Deutschland – einbringen?

Die Möglichkeiten, Fähigkeiten einzubringen, sind vielfältig. Entscheidend ist am Ende aber, was gebraucht wird. Das ermitteln die Stäbe der NATO bis Ende 2012. Einige europäische Staaten haben bereits Beiträge im Bereich der Sensorik angekündigt, beispielsweise Frankreich mit einem Frühwarnsatelliten oder die Niederlande mit einer Radarerweiterung ihrer Luftverteidigungsfregatten. Es gibt Diskussionen über die Möglichkeit, Fregatten einiger europäischer NATO-Mitglieder mit der SM 3-Abfangrakete auszustatten.

Auch wir in der Bundeswehr prüfen gerade, wie wir zu dem System beitragen können, sei es durch Sensoren oder Effektoren, durch die Anpassung vorhandener Systeme, den Kauf verfügbarer Systeme oder deren Entwicklung. Die amerikanischen Systeme decken dabei, zumindest nach eigenen Angaben, Europa territorial bereits gegen Raketen, die im sogenannten oberen Höhenband, also in der oberen bzw. außerhalb der Atmosphäre anfliegen, voll ab.

Insofern ist in der NATO genau zu hinterfragen, was noch an weiteren Fähigkeiten benötigt wird und national müssen wir prüfen, was zu welchem Zeitpunkt umsetzbar ist und welche Auswirkungen und Verdrängungseffekte vertretbar sind.

Der NATO-Generalsekretär hat das Raketenabwehrprojekt kürzlich als eines der besten Beispiele für das Konzept „Smart Defense“ bezeichnet. Was genau ist an dem Projekt smart?

Ehrlich gesagt müssten Sie das den Generalsekretär fragen. Klug aus deutscher Sicht scheint mir aber, sich bereits heute gegen eine zwar noch nicht aktuelle, aber schon absehbare Bedrohung zu wappnen.

Russland bleibt unzufrieden mit der NATO-Raketenabwehr. Welche Auswirkungen hat Kritik aus Moskau auf das Projekt?

In der Tat hat es seit dem Gipfel von Lissabon kaum Fortschritte gegeben. Damals hatte die NATO beschlossen, beim Thema Raketenabwehr mit Russland zu kooperieren. Andererseits hören wir aber auch deutlich aufgeschlossenere und konziliantere Töne, auch von hochrangigen Vertretern in der russischen Administration.

Die Radio-Interviews des russischen Generalstabschefs Nicolai Makarow und seine Einlassungen bei dem Treffen der NATO-Generalstabschefs in Brüssel Ende April sind hierfür ein gutes Beispiel. Er erkennt darin erstmals die Bedrohung an und zeigt Verständnis dafür, dass man sich dagegen schützen kann. Das ist ein großer Fortschritt und auch ein Zeichen dafür, dass ein gemeinsames Interesse vorliegt.

Die Ambivalenz der russischen Aussagen ist für mich vor allem Ausdruck dafür, dass eine Kooperation Russlands mit der NATO auf diesem sensiblen Gebiet eben nur dosiert und in auch innenpolitisch verdaubaren Schritten kommuniziert werden kann. Mittelfristig ist ein Durchbruch also nicht unrealistisch. Wir brauchen dazu Transparenz, Vertrauen, Kreativität und Geduld.

Der Aufbau eines Raketenabwehrsystems zum Schutz unserer Bevölkerung bleibt unabhängig davon allerdings eine der Kernaufgaben der kommenden Jahre in der NATO.

Die Fragen stellte Lucas Lypp, Online-Redakteur

Oberst i.G. Thomas Hambach, Leiter des NATO-Referats in der politischen Abteilung im Bundesministerium der Verteidigung, folgte einer Einladung des Berliner Forum Zukunft (BFZ) des Forschungsinstituts der DGAP zu einer Sitzung der Veranstaltungsreihe „Atlantisches Abendbrot“ am 23. April 2012 zum Thema Raketenabwehr.

Bibliografische Angaben

Hambach, Thomas. “„Die Raketenabwehr ist eine Kernaufgabe der NATO“.” May 2012.

DGAP-Interview, 16. Mai 2012

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