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01. Sep 2021

Smarte Souveränität

Setzt die neue Bundesregierung außenpolitisch nur auf Kontinuität, fügt sie dem Land schweren Schaden zu. Wie Deutschland trotz weniger Macht mehr erreichen kann.

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Bild: Luftaufnahme des Kanzleramts
Isolierte Politikansätze ohne 360-Grad-Blick werden nicht mehr die ­nötigen Effekte erzielen – auch und gerade aus dem Kanzleramt.
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Wenn die neue Bundesregierung zum Jahreswechsel ihre Arbeit aufnimmt, wird sie außenpolitisch mit hoher Wahrscheinlichkeit wenig ändern. Der Koalitionsvertrag wird betonen, wie wichtig es ist, die europäische und transatlantische Zusammenarbeit und den Multilateralismus zu stärken. Er wird den Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen anerkennen und die Notwendigkeit zum Dialog mit China, Russland und anderen autoritären Staaten benennen. Er wird betonen, dass Deutschland mehr für Stabilität in unserer Nachbarschaft tun muss, denn Washington nimmt uns diese Aufgabe nicht mehr ab.



All das ist richtig – und doch würde eine neue Regierung, die in der Außen- und Sicherheitspolitik über eine Wahrung des Status quo kaum hinausdenkt, Deutschland sehr schaden. Dass aber genau das passiert, ist gut möglich, weil drängende innere Aufgaben so viel wichtiger erscheinen. Exakt hier liegt der Trugschluss: Keine der wichtigsten Zukunftsaufgaben – wie die Digitalisierung zu gestalten, unsere Wirtschaft nachhaltig und wettbewerbsfähig zu machen, den Klimawandel zu bremsen und mit seinen Folgen umzugehen und bei alledem unsere Demokratie zu schützen – kann bewältigt werden, ohne die internationale Dimension jeder Aufgabe konsequent einzubeziehen.



Denkt Deutschland nicht grundlegend um, wird es seine Kerninteressen nicht schützen können. Keine der wesentlichen Staatsaufgaben kann heute noch primär über innenpolitische Entscheidungsfindung erfüllt werden. Was wird anders? Auf den ersten Blick nicht viel. Die Regierung hat nach wie vor gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern drei große Aufgaben zu erfüllen: Sie sorgt für Wohlstand, für Sicherheit des Einzelnen und für die demokratische politische Ordnung. Das sind die klassischen inneren Aufgaben des Staates. Hinzu kommen die Außen-, die Verteidigungs- oder die Außenwirtschaftspolitik. Nur – diese getrennte Betrachtung funktioniert nicht mehr.



Erstens lassen sich Innen und Außen längst nicht mehr sauber trennen: Innere und äußere Bedrohungen verschwimmen. Die großen nationalen Herausforderungen, Klimawandel und Digitalisierung, kann Deutschland nur bewältigen, wenn es die globale Dimension mitgestaltet. Was Deutschland national entscheidet, ist in vielerlei Hinsicht nur von Bedeutung, wenn es internationalen Einfluss sicherstellen kann. Souveränität im Inneren, also die Lösung der politischen Probleme Deutschlands entlang der eigenen Interessen, ist nur noch durch Souveränität im Äußeren zu haben: durch einen signifikanten Beitrag zur Lösung globaler Probleme, der deutsche Interessen und Ansätze aufnimmt.



Zweitens ist Verwundbarkeit der neue Normalzustand, solange wir an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Offenheit, gepaart mit internationaler Vernetzung und Interdependenz, festhalten. Sektor- und grenzüberschreitende Schocks – auch durch gezielte externe Einflussnahme bis ins Herz unserer Demokratie – kann Deutschland nicht vollständig verhindern. Staatliches Handeln muss unter diesen Bedingungen die Resilienz von Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie stärken, im Inneren wie im Äußeren. Europäische Zusammenarbeit ist dabei wichtig, keine Regierung allein kann ihre Bürgerinnen und Bürger vor dem Hintergrund ideologischer Systemkonkurrenz, globaler Vernetzung, transnationaler Risiken und fortschreitender Technologisierung schützen.



Drittens sind viele Veränderungen der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Systeme, in die Deutschland eingebettet ist, irreversibel. Risiken sind zu Schäden (Klimasysteme) oder handfesten Bedrohungen (gesellschaftlicher Frieden) geworden. Die Rückkehr zum Status quo ante ist unmöglich. Das gilt für den Klimawandel wie für die Transformation unseres Wirtschaftssystems, auf dessen Erfolg Deutschlands internationales Gewicht beruhte.



In den vergangenen Jahren sind Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Ökologie so sehr in gegenseitige Abhängigkeit geraten, dass isolierte Politikansätze ohne 360-Grad-Blick nicht die nötigen Effekte erzielen. Ein neuer Politikansatz ist notwendig, der den Gesamtkomplex der internationalen Beziehungen als Priorität sieht, statt einzelne, aus dem Gesamtkontext gerissene Politikfelder zu betrachten und selektive Interessen zu verfolgen. Deutschlands internationales Handeln muss in den Dienst der inneren Souveränität gestellt werden. Gestaltet Berlin die zentralen Veränderungen seines Umfelds nicht mit, verschlechtern sich die Lebensbedingungen hierzulande erheblich. Der Einfluss der Bundesrepublik beim Definieren von Zielen und Regeln wird sinken, wenn sie nicht mehr als schnell entscheidungs- und handlungsfähiger Partner gesehen wird.



Das Gegenprogramm zu diesem Abstieg heißt smarte Souveränität. Deutschland und auch die EU sollen in zentralen politischen Fragen eigene Ziele setzen und verfolgen können, statt die anderer zu übernehmen. In diesem Sinne sollte die neue Bundesregierung

  • Strukturen für die internationale Dimension deutscher Politiken schaffen, die den strategischen Herausforderungen angemessen sind,
  • im Rahmen einer übergreifenden Strategie gezielt priorisieren, in welchen Feldern Deutschland nach smarter Souveränität strebt, und
  • enge, belastbare Partnerschaften aus einer Position der Weitsicht und Handlungswilligkeit auf- und ausbauen.

Unmittelbar nach der Regierungsbildung sollte der Bundessicherheitsrat (BSR) zu einem strategischen Gremium ausgebaut werden. In einem Kabinettsausschuss würden regelmäßig strategische Themen beraten und verbindliche Entscheidungen gefällt. Seine erste Aufgabe wäre es, innerhalb eines Jahres eine nationale Sicherheitsstrategie zu erarbeiten. Das Gremium braucht eine permanente und arbeitsfähige Unterstützungsstruktur, mit einem Sekretariat und breiter Expertise. Es sollte eine politische und eine wissenschaftliche Ko-Leitung haben, um aus beiden Perspektiven Stellung nehmen zu können. Hälftig sollte es mit Beamten aus den beteiligten Ministerien besetzt werden, der andere Teil mit Wissenschaftlern und auch Praktikern aus der Wirtschaft, etwa bei der Cybersicherheit oder anderen kritischen Infrastrukturen.



Zweitens sollte der Bundestag die Arbeit des Bundesssicherheitsrats intensiv begleiten. Idealerweise werden dort ­wichtige Entscheidungen gefällt oder vorbereitet. Doch die größere Handlungsfähigkeit der Exekutive sollte ihre demokratische Legitimität nicht schmälern. Ein Sicherheitsausschuss oder ein anderes Gremium mit Abgeordneten aus allen relevanten Ausschüssen sollten den neu aufgestellten Bundessicherheitsrat parlamentarisch ­begleiten.



Eine Reihe von Akteuren in der Hauptstadt arbeitet bereits an strategischer Vorausschau. Diese besser in Berlin und mit EU- und NATO-Initiativen zu vernetzen, ist ein erster wichtiger Schritt. Darüber hinaus sollten die Ergebnisse viel konsequenter und nachprüfbarer in die Definition von Aufgaben, die Verteilung von Ressourcen und die Aufteilung der Zuständigkeiten in der Verwaltung, der Zivilgesellschaft und mit privaten Akteuren einfließen. So werden Zukunft und Vorsorge relevanter für Regierungs- und Verwaltungshandeln.



Strategische Prioritäten

Die neue strategische Landschaft erfordert von Deutschland und Europa klare Prioritäten in den eng verschränkten Feldern Technologie und Klima als Kernherausforderungen gesellschaftlicher Transformation; Wirtschaft, Resilienz und Sicherheit sind die drei Felder, auf denen der systemische Konflikt ausgetragen wird; Migration sowie China sind Trends, die alle anderen Felder wesentlich beeinflussen. Um smarte politische Ansätze zu illustrieren, bei denen Maßnahmen in verschiedenen Feldern positiv wirken, greifen wir hier vier Bereiche heraus.



Hieran wird deutlich, wie etwa Sicherheits- und Klimapolitik heute im engen Zusammenspiel mit der Wirtschafts-, Technologie- und Energiepolitik gedacht werden müssen. Derartiges Denken sollte in die vom BSR zu erarbeitende Sicherheitsstrategie einfließen, ebenso wie in das neue strategische Konzept der NATO und die strategischen Diskussionen in der EU. So können unsere Partner frühzeitig verstehen, was sie von der neuen Bundesregierung an Schutz und Solidarität erwarten können und wo Deutschland besonders auf eigene Interessen achtet.

Neue und größere Beiträge zur europäischen Sicherheit brauchen demokratische Legitimation. Deshalb sollten Regierung und Parlament die Zivilgesellschaft einbinden, insbesondere bei der Sensibilisierung für Risiken, der Entwicklung kurzfristiger politischer Optionen und langfristiger Zukunftsvisionen. Es sollte einen öffentlich diskutierbaren Stresstest der gesamtstaatlichen Sicherheitsstrukturen und der Prozesse von Bund, Ländern und Kommunen nach dem Vorbild zum Beispiel skandinavischer Staaten geben.



Technologie: In einem Masterplan Technologie und Innovation sollte die Bundesregierung koordiniert mit europäischen Partnern Schlüsseltechnologien festlegen, in denen Deutschland führend sein oder bleiben möchte, bei welchen man ein EU-europäisches oder transatlantisches Ökosystem fördern will, und in welchen Bereichen man Abhängigkeiten von anderen Akteuren akzeptiert. Der Preis dieser Abhängigkeit – auch in Worst-Case-Szenarien eines Konflikts – sollte klar benannt werden. Eigene Ressourcen sollten derweil nicht nur für Forschung, sondern auch für die Nachwuchsförderung und eine attraktive Innovationslandschaft aufgewendet werden. Hierzu gehört ein gesetzlicher Rahmen, der notwendige Risikobereitschaft in der Innovation und die Finanzierung – etwa auch durch die Europäische Kapitalmarktunion – fördert.



Ein Digital- und Technologieministerium sollte den Breitbandausbau, die Verwaltungsdigitalisierung, Regulierungsfragen in der Digitalwirtschaft und Innovationsförderung verantworten und für die außen- und europapolitische Dimension von Technologiepolitik zuständig sein. Zudem ist die rasche und umfassende Digitalisierung des öffentlichen Sektors eine Grundbedingung für Innovation und für das Funktionieren des Staates. Damit einher geht aber eine höhere Verwundbarkeit. Deshalb sollte die Bundesregierung einen neuen und verbindlichen Plan für die Digitalisierung von Bund, Ländern und Kommunen mit einheitlichen Cybersicherheitsstandards verabschieden und die Außenpolitik gegenüber den Haupt­aggressoren Russland, China oder Iran aufs Engste mit Partnern wie EU und NATO sowie einigen anderen Staaten wie Aus­tralien und Japan abstimmen.



Klima: Die Bekämpfung des Klimawandels und der Umgang mit seinen Folgen werden die nächste Bundesregierung innen-, europa- und außenpolitisch stark fordern. In kaum einem anderen Themenfeld ist ähnlich deutlich, dass eine noch so ambitionierte nationale Politik keinen Unterschied machen wird, wenn die europäischen Partner und die internationale Gemeinschaft nicht mitziehen, weshalb die Klimapolitik ab sofort ganz oben auf die Agenda etwa mit den USA, China oder Indien gehört. Kaum eine andere Entwicklung birgt ein derartiges gesellschaftliches und politisches Spannungs- und Bedrohungspotenzial. Deshalb müssen Klimafolgen und die Seiteneffekte von Politiken zur Bekämpfung des Klimawandels konsequent mitgedacht werden. Maßnahmen zur Konfliktprävention sollten auf EU- und UN-Ebene um Klimasensibilität erweitert werden. Klimaanpassung und Emissionsvermeidung sollten bei der Entwicklung von Instrumenten und Expertise für Aktivitäten und Missionen zur Konfliktprävention, Stabilisierung und Wiederaufbau verankert werden. Die Ausgaben für nachhaltige Entwicklungspolitik sollten daher auf 1 Prozent des BIP steigen.



Die Bundesregierung sollte sich auch dafür einsetzen, die EU zum Zentrum der Klimawissenschaften zu machen. In vielen Bereichen können Wissen und Daten Maßnahmen effektiver machen. Ein nationales Forschungsprogramm Klima sollte in die Entwicklung eines neuen europäischen Kompetenzschwerpunkts mit der Ambition weltweiter Wirkung gesteckt werden.



China: Den notwendigen Wandel ihrer China-Politik sollte die neue Bundesregierung durch die Entwicklung einer China-Strategie signalisieren, die Zusammenarbeit weiter anstrebt, aber Erpressbarkeit reduziert und so eigene Interessen besser schützt und Deutschland im Eintreten für Ziele wie die Bekämpfung des Klimawandels und die Einhaltung von Menschenrechten stärkt. Der oben beschriebene Ansatz etwa in der Technologiepolitik unterfüttert dieses Bestreben in einem der Kernbereiche, in dem sich der Systemkonflikt abspielen wird. Die Leitlinien der Bundesregierung zum Indo-Pazifik von 2020 weisen in die richtige Richtung. Nationale Aufgaben und Prinzipien müssen geklärt und gleichzeitig die Förderung einer stärker einheitlichen China-Politik der EU bei den zentralen Themen Technologie, Klima und Sicherheit neben der Einbindung regionaler Partner abgesteckt werden.



Sehr nüchtern muss die neue Bundesregierung anerkennen, dass China bereits eine zentrale Rolle in Deutschlands Wirtschaft, Politik und Gesellschaft spielt. Diese Rolle wird wachsen. Deshalb müssen Entscheidungsträger den Umgang mit ­China lernen, ob als Regierung, private Unternehmer, Schulen oder zivilgesellschaftliche Einrichtungen. Die Bundesregierung sollte ein zielgruppenspezifisches Informations- und Beratungsangebot als Vorreiter einer entsprechenden europäischen Initiative schaffen. China nutzt seinen Einfluss in einigen EU-Staaten bereits jetzt massiv aus, um gemeinsames Handeln zu verhindern oder in seinem Sinn zu lenken.



Partner: Als Handelsmacht in der Mitte Europas mit ihrer wirtschaftlichen Offenheit und Vernetzung ist die Bundesrepublik auf Zusammenarbeit mit der Welt angewiesen. Die EU ist in all dem weiterhin essenziell. Sie ist Deutschlands engste politische Partnerschaft, die Macht und Wohlstand mehrt, und zugleich der politische Rahmen seiner geopolitischen Position. Deshalb muss auch die nächste Bundesregierung die EU als den konstitutiven politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmen Deutschlands stärken und gegen Angriffe von innen und außen verteidigen. Darüber hinaus ist die Pflege bewährter Partnerschaften und Allianzen essenziell, die über die EU hinaus gehen, besonders mit den USA, aber auch mit Großbritannien. Zusätzlich muss sich Deutschland in neuen themenspezifischen Netzwerken und Allianzen etablieren, um global vernetzten Politikherausforderungen wie dem Klimawandel begegnen zu können, etwa im Indo-Pazifik und in Afrika, wo andere Regierungen weit früher aktiv wurden. Dafür muss sich Berlin aus seiner abwartenden, reaktiven oder oft von Risikovermeidung getriebenen Haltung lösen, sonst wird Deutschland als Partner in neuen Netzwerken keine gestaltende Rolle spielen und innerhalb der EU, im transatlantischen Verhältnis, in der NATO, der WHO oder anderen Organisationen und Allianzen unattraktiv.



All diese Herausforderungen sind analytisch schon lange verstanden. Geschehen ist viel zu wenig. Die neue Regierung und der neue Bundestag haben die Chance, verantwortungsvoll mit zwei Dilemmata umzugehen: Sie müssen erstens Macht neu verteilen, um Macht zu erhalten und wieder auszubauen. Sie müssen zweitens vorausschauender und schneller handeln, obwohl gerade in Zeiten drohenden Machtverlusts die Bereitschaft dazu sinkt.



Die Welt zeigt derzeit für jeden sichtbar, was die Alternative ist. Die Kosten des Nichthandelns trägt nicht mehr eine diffuse nächste Generation – die Kosten tragen schon heute alle Menschen in Deutschland, sei es beim Klima, bei der Wirtschaft oder bei der Sicherheit. Es ist Aufgabe des souveränen und legitimen Staates, für diese Probleme wirkliche Lösungen zu finden – hier und heute.     





Dr. Christian Mölling ist Forschungs­direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Programms Sicherheit und Verteidigung.

Prof. Dr. Daniela Schwarzer ist Executive Director Europe and Eurasia bei den Open Society Foundations.

 

Dieser Text gibt die persönliche Einschätzung der Autoren wieder. Er basiert u.a. auf der Arbeit der von der Stiftung Mercator geförderten Ideenwerkstatt Deutsche Außenpolitik, der die Autoren vorsaßen. Der Bericht der Gruppe erscheint im September 2021 auf www.dgap.org.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 18-23

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