Policy Brief

22. Nov. 2022

Konflikt auf zwei Kontinenten?

Europäische Fehleinschätzungen im asiatisch-pazifischen Raum
Map of Asia Pacific Region

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 gilt als Moment der strategischen Wahrheit für die Europäer, die nun nicht ­länger die Augen vor der Wiederkehr revisionistischer Machtpolitik ­verschließen könnten. Zwar gilt ihre Hauptsorge weiterhin ­Russland. Wer aber strategisch denkt, sorgt sich auch um eine zweite Gefahrenquelle: den gewaltsamen Revisionismus im asiatisch-pazifischen Raum. Die sich zusammenbrauenden ­Konflikte erfordern eine Antwort aus Europa.

Share

zusammenfassung
Europa hat ein großes Interesse an Stabilität in der asiatisch-pazifischen Region. Daher sollte die breite Öffentlichkeit den regionalen Akteuren dort differenzierte Aufmerksamkeit widmen.
Die Europäer werden die Konfliktrisiken nur dann richtig ­einschätzen können, wenn sie die revisionistischen Signale, die regionale Sicherheitsarchitektur und die Rolle der Mittelmächte verstehen.
Dieses Papier baut auf Fallstudien über Australien, Japan, Südkorea und Taiwan auf. Alle vier Länder sind für die regionale Sicherheit prägend.
Europäische Akteure – die NATO, die EU und einzelne Staaten – können zur Abschreckung des gewalttätigen Revisionismus beitragen, indem sie ihre Beziehungen zu asiatisch-pazifischen Partnern vertiefen.

Lesen Sie alle Länderberichte des Projektes auf Englisch hier:

Taiwan: Deterring, Denying, and Defending
Japan: Defense Planning in Transition
Australia: A New Frontline State?

 

Der russische Einmarsch in die Ukraine im ­Februar 2022 löste eine Diskussion über ein „Zwei-Fronten-Szenario“ aus: Analysten in Europa befürchteten, China könnte die Situation in Osteuropa ausnutzen, um Taiwan zur „Wiedervereinigung“ zu zwingen. Dies würde die USA in einen zweiten Konflikt hineinziehen und eine europäische Reaktion erforderlich machen. Staatschef Xi Jinpings Rede auf dem 20. Parteitag mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der gewaltsamen Vereinigung mit Taiwan sowie Chinas Militärübungen im August 2022 – die größten Manöver in der Straße von Taiwan seit 1995/96 – haben diese Befürchtungen verstärkt. 

Die koreanische Halbinsel ist der zweite Krisenherd der Region: Sollte das paranoide Regime in Pjöngjang als Reaktion auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Umsturzversuch der USA einen nuklearen Präventivschlag durchführen, droht ein Krieg großen Ausmaßes. Anfang November erhöhte die Vielzahl von Raketentests und großflächigen Militärübungen auf beiden Seiten der innerkoreanischen Grenze das Konfliktrisiko durch mögliche Unfällen oder Fehlinterpretationen. Auf der koreanischen Halbinsel und in der Straße von Taiwan stehen fundamentale strategische Interessen auf dem Spiel: Ein Konflikt dort wird sich nicht lokal begrenzen lassen, sondern auch die USA und ihre Partner in der Region involvieren und zugleich der Weltwirtschaft massiven Schaden zufügen.

Im Fall der Ukraine hatte sich US-Präsident Joe ­Biden deutlich gegen eine direkte Einmischung der USA ausgesprochen. Was Taiwan anbelangt, hat er ­dagegen erklärt, dass die Vereinigten Staaten das Land bei einem Angriff durch China verteidigen ­würden. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Aus US-Sicht muss Taiwan unabhängig bleiben, um ­Chinas Einfluss zu begrenzen und ihm den direkten Zugang zum westlichen Pazifik zu versperren. Der ungleiche Umgang mit der Ukraine und Taiwan – mit keinem der beiden Länder hat Washington ein Verteidigungsabkommen geschlossen, und doch wären die USA bereit, Taiwan zu verteidigen – spiegelt dessen höheren strategischen Wert wider.

Im Bewusstsein dieser Zusammenhänge ­könnte die chinesische Führung versucht sein, aus dem ­Ukraine-­Konflikt eine simple Schlussfolgerung zu ziehen und das Schreckgespenst eines Atomkriegs für ein wirksames Mittel zu halten, um die USA im Falle einer Invasion vom Eingreifen abzuhalten. Diese Sorge bleibt, auch wenn Xi Jingping zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Einsatz von Nuklearwaffen in „Eurasien“ warnte. In Pjöngjangs Kalkül stellen Atomwaffen eindeutig den ultimativen Schutzschild gegen eine Invasion dar. Dies ist ein Problem von weltweiter Tragweite.

Aber auch wenn es nicht zum Atomkrieg kommt, stellt die sich verschlechternde Sicherheitslage im asiatisch-pazifischen Raum Europa vor eine große Herausforderung: Die Europäer sind für ihre eigene Abschreckung und Verteidigung nach wie vor auf die USA angewiesen; zugleich erkennen sie aber, dass sich der Schwerpunkt des strategischen Wettstreits und somit der amerikanischen und globalen Sicherheitspolitik in den asiatisch-pazifischen Raum verlagert hat. Die Europäer müssen also nicht nur der Ukraine militärische Unterstützung leisten und die Territorialverteidigung innerhalb der NATO stärken. Sie kommen nun auch noch unter Druck, mindestens eine symbolische militärische Präsenz in den asiatisch-pazifischen Raum zu entsenden, um ihr Engagement für einen freien und offenen Indo-Pazifik zu unterstreichen.

Allerdings sollten die Europäer der Versuchung wider­stehen, die Lehren aus der Ukraine und dem transatlantischen Geschehen eins zu eins auf den asiatisch-pazifischen Raum zu übertragen. Dies gilt, obwohl der japanische Premierminister Fumio Kishida warnte: „Was heute die Ukraine ist, kann morgen Ostasien sein.“ Einen Krieg auf einem maritimen Schauplatz wie dem asiatisch-pazifischen Raum zu führen, erfordert weitaus größere militärische Fähigkeiten und mehr Planung als ein Einsatz auf dem europäischen Festland. Russland konnte problemlos über mehrere Monate hinweg Bodentruppen entlang seiner eigenen und der weißrussischen Grenze zur Ukraine sammeln. Die chinesischen Streitkräfte haben zwar die Einkreisung und Blockade Taiwans geübt, aber unter Kriegsbedingungen würde ihnen dies weitaus schwerer fallen. Taiwan ist Teil der „ersten Inselkette“ vor Chinas Küste, in deren Nähe unter anderem Aufklärungseinheiten des US-Militärs stationiert sind. Sollte China ausländischen Militärschiffen und -flugzeugen die Durchfahrt durch die enge Straße von Taiwan verwehren, würde dies sofort einen Krieg auslösen. ­Außerdem ist nicht gewiss, ob China tatsächlich bereits über hinreichende amphibische Fähigkeiten für die ­Invasion und Eroberung Taiwans verfügt.

Dieses Papier soll die politischen Eliten und die ­Öffentlichkeit in Europa bei ihrer Bewertung des Konflikt­risikos im asiatisch-pazifischen Raum vor drei möglichen Fehleinschätzungen bewahren:

  • Dass es China und Nordkorea es mit ihren lautstarken Erklärungen tatsächlich in jedem Fall ernst meinen,
  • Dass die Institutionen und Staaten in ihrer Nachbarschaft zu schwach für eine wirksame Abschreckungspolitik sind,
  • Und dass sich Europas Engagement fast ausschließlich auf die Vereinigten Staaten richten sollte.

Revisionistische Signale im asiatisch-pazifischen Raum

China sendet verstärkt Signale, die im Einklang mit seinem Mantra der nationalen Erneuerung bis 2050 stehen, zu deren Zielen auch die Vereinigung mit Taiwan gehört. Chinesische Flugzeuge drangen zwischen September 2021 und Januar 2022 über 300mal in Taiwans Luftraum-Überwachungszone ein. Ebenso dienten die chinesischen Militärübungen im August 2022 der Demonstration des von Peking inzwischen als normal angesehenen neuen Selbstbewusstseins. Unterdessen setzt ­Nordkorea seine konventionellen Streitkräfte zwar seltener als früher ein, forciert aber die ­Entwicklung von Atomwaffen und Raketen. Zwischen Januar und Anfang November 2022 erreichten die Raketentests ein neues Höchstmaß an Quantität, Intensität und Risikobereitschaft.

China und Nordkorea senden also beide laut­starke revisionistische Signale aus. Wichtig ist allerdings der Kontext: Chinas kriegerische Rhetorik spiegelt zum großen Teil den innenpolitischen Druck wider, unter dem die Kommunistische Partei agiert. Im ­August 2022 feierte die Volksbefreiungsarmee den 95. Jahrestag ihrer Gründung, im Oktober ließ sich Präsident Xi Jinping im Amt bestätigen, und parallel dazu ist eine umfassende Reform des Militärs im Gang. ­Alle drei Elemente dürften das Ausmaß der chinesischen Militärübungen im August bestimmt haben. Der Besuch der Sprecherin des US-Kongresses, ­Nancy Pelosi, auf Taiwan lieferte nur einen willkommenen Vorwand. Chinas Manöver in der Straße von Taiwan sollten als politische Signale und Testoperationen betrachtet werden, nicht als General­probe für einen Krieg. Das bedeutet zwar nicht, dass die Gefahr eines Krieges gleich Null ist, aber immerhin hat Peking seine Militärübungen rechtzeitig angekündigt, um Missverständnisse zu vermeiden. Und auch die Vereinigten Staaten ließen Vorsicht walten, als sie ihre Kriegsschiffe anwiesen, in den Gewässern östlich von Taiwan „auf Station“ zu bleiben.

Nordkorea übt sich gerne in der Pose eines unerschrockenen und nervenstarken Provokateurs. Tatsächlich steuert das Land aber die Risiken sehr sorgfältig, indem es zum Beispiel genau darauf achtet, wie seine Raketen fliegen und wo sie landen. So vermied es Nordkorea trotz der hohen Anzahl an ­Raketentests fünf Jahre lang, seine Nachbarstaaten zu direkt zu provozieren. Anfang Oktober 2022 überflog allerdings eine Langstreckenrakete japanisches Territorium; Mitte November landete eine Rakete in Japans nördlicher maritimer Wirtschaftszone. Anfang November landete dann erstmals überhaupt eine Kurzstreckenrakete südlich der ­de-facto-­maritimen Grenze zu Südkorea. Das Regime in Pjöngjang hat lange betont, dass seine Atomwaffen der Abschreckung und der Selbstverteidigung dienen. Selbst als es erklärt hat, es behalte sich den frühzeitigen ­Einsatz von Atomwaffen zur vorbeugenden Eskalation vor, diente dies vor allem der Abschreckung. Zur nordkoreanischen Propaganda gehören durchaus revisionistische Forderungen nach einer Wiedervereinigung der Halbinsel unter der Herrschaft Pjöngjangs. Doch da das Regime dem eigenen Überleben unbedingten Vorrang gibt, liegt nichts mehr im Interesse Nordkoreas als die Aufrechterhaltung des Status quo. Gleiches gilt im Übrigen für Südkorea, Japan und die Vereinigten Staaten.

Militärmanöver können zwar eine Intention signalisieren, bedingen aber keinen Handlungsautomatismus. Weder China noch Nordkorea können offene Schritte zur Veränderung des Status quo unternehmen, ohne dass dies immense Kosten nach sich ziehen würde – und dies bei keineswegs sicherem Erfolg. Daher ist es wahrscheinlicher, dass die beiden Länder sich weiterhin auf graduellen Revisionismus fokussieren und zu diesem Zweck ­Cyber­aktivitäten, Desinformationskampagnen und Zwangsmaßnahmen unterhalb der Gewaltschwelle nutzen. Mit dieser Grauzone der hybriden Kriegsführung sind China und Nordkorea schließlich schon eng vertraut.

Sicherheitsvereinbarungen im asiatisch-pazifischen Raum

Verteidigungsbündnisse tragen dazu bei, Länder vor gewalttätigem Revisionismus abzuschrecken, weil sie die Kosten eines Angriffs erhöhen und seinen Erfolg erschweren oder sogar unmöglich machen. So waren die Sicherheitsgarantien der NATO mutmaßlich ein wichtiger Faktor für Russlands Entscheidung, einen militärischen Konflikt mit den baltischen Staaten zu vermeiden. Aus derselben Überlegung heraus halten Australien, Japan und Südkorea verstärkt Militärmanöver und Einsätze ab, um die Glaubwürdigkeit ihrer auf Verabredungen mit den USA basierenden Abschreckungspolitik zu stärken. Insbesondere Japan und Südkorea bemühen sich, die Zuverlässigkeit der nuklearen Abschreckung, die Washington für sie übernommen hat, herauszustellen.

Die USA pflegen in Asien und im indopazifischen Raum ein Netz von bilateralen Bündnissen und Partnerschaften. Auf den ersten Blick erscheint dieses Geflecht von Sicherheitsvereinbarungen nicht sehr belastbar. In Wirklichkeit aber ist diese Sicherheitsarchitektur sehr belastbar, und zwar aus zwei Gründen: Erstens bietet sie Raum für Wachstum und tiefgreifende Kooperation, ohne dass institutionelle Hürden überwunden werden müssen. Man denke nur an die AUKUS-Vereinbarung, mit der ­Australien, Großbritannien und die USA ihre Verteidigungszusammenarbeit intensivieren. Dies reicht bis zur gemeinsamen Entwicklung strategischer Waffen. Ähnliche Vorhaben wären im Rahmen der EU oder der NATO mit weitaus mehr Akteuren und bürokratischem Aufwand verbunden.

Zweitens können flexible Vereinbarungen Ländern helfen, im Interesse der Kooperation auch grundlegende Meinungsverschiedenheiten zurückzustellen. So funktioniert der Vierer-Sicherheitsdialog zwischen Australien, Indien, Japan und den USA trotz Indiens abweichender Haltung zu Russland recht gut. Vor kurzem wurde die Zusammenarbeit auf den Bereich der maritimen Sicherheit und Aufklärung ausgeweitet. Sogar Japan und Südkorea arbeiten trotz tiefsitzender Ressentiments auf beiden Seiten in Sicherheitsfragen zusammen.

Auch ohne formelles Verteidigungsabkommen steht Taiwan unter dem aktiven Schutz der USA gegen ­eine chinesische Invasion. Ähnliches gilt für das Verhalten der Nachbarstaaten, die Taiwan wegen ihres überragenden Interesses an der Eindämmung ­Chinas ebenfalls zu Hilfe kommen dürften. Japan und Australien sind sich bewusst, dass sie schon allein wegen des in ihren Ländern stationierten US-Militärs mit großer Wahrscheinlichkeit in einen Konflikt in der Straße von Taiwan hineingezogen werden dürften. Darüber hinaus ist Japan besorgt, dass China die Okinawa-Inseln aufgrund ihrer Nähe zu Taiwan angreifen könnte. Anders ist die Situation in Südkorea, wo der größte Teil der US-Streitkräfte wahrscheinlich auf seinen Stützpunkten bleiben würde, um für Eventualitäten auf der koreanischen Halbinsel verfügbar zu sein. Im Gegensatz zu einem formellen Mitgliedschaftsverband wie der NATO gibt es im asiatisch-pazifischen Raum keine harte Trennlinie zwischen denen, die geschützt sind, und denen, die es nicht sind. Strategische Ambiguität gehört hier zur Politik.

Die Bedeutung der regionalen Akteure

In diesem Geflecht von Beziehungen, bei denen es an klaren Verpflichtungen fehlt, hat jeder Akteur - und sei er noch so klein - das Potenzial, regionale Sicherheitsvereinbarungen zu stören, wie die Kooperation der Salomonen mit China zeigt. Aber auch China hat damit zu kämpfen, dass Länder in der Region das Potenzial haben, seine Pläne zu durchkreuzen. China ist von „Freundfeinden“ umgeben – teils freundlich, teils feindlich gesonnenen Ländern.  Australien, Japan und Südkorea pflegen einerseits gute Handelsbeziehungen zu China, achten aber andererseits mit Nachdruck auf ihre wirtschaftliche und militärische Sicherheit. Australien, Japan, Südkorea und Japan spielen zudem eine immer wichtigere Rolle für die Sicherheit und Verteidigung in der Region, weil sie ihre militärischen Fähigkeiten erweitern und mehr Ressourcen für Etats, Planungen und die Stärkung ihrer Verteidigungsbereitschaft aufwenden. Aus diesem Grund hat die DGAP detaillierte Berichte zu allen vier Länder in Auftrag gegeben, die hier in sehr kurzen Zusammenfassungen vorgestellt werden:

Australien bekennt sich zu seiner Bedeutung für die regionale Sicherheit. Seit 2016 legt die ­australische Regierung den Schwerpunkt wieder auf die territoriale Verteidigung. Dabei stützt sie sich auf zwei Erkenntnisse: Die erste ist, dass Australiens traditioneller Vorteil – die große Entfernung von jedem möglichen Gegner – durch den technologischen Fortschritt in der Waffentechnik ausgehöhlt wird. Die zweite Erkenntnis ist, dass Chinas wachsendes Selbstbewusstsein und seine militärische Modernisierung inzwischen auch für Australien eine direkte Bedrohung darstellen. Deshalb erwirbt ­Canberra strategische Waffen zur Abschreckung und Aufklärung. Außerdem setzt es verstärkt auf ­lokale Produktionskapazitäten und diversifiziert seine Verteidigungsbeziehungen.

Japan bemüht sich, die richtigen Konsequenzen aus seiner Rolle als Frontstaat zu China, Nordkorea und Russland zu ziehen. Die Regierung scheint das Land auf eine selbstbewusstere Haltung in der Verteidigungs- und Abschreckungspolitik einstimmen zu wollen. Das zeigt sich an dem Vorschlag der Regierungspartei, militärische Kapazitäten aufzubauen, die für einen Vergeltungsschlag gegen militärische Einrichtungen des Gegners geeignet sind. Für Japan bleibt die enge Zusammenarbeit mit der US-Verteidigungsindustrie von entscheidender Bedeutung, zugleich drängt die Regierung aber auch auf mehr gemeinsam entwickelte und im Inland hergestellte Systeme. Außerdem diversifiziert das Land seine Verteidigungsbeziehungen innerhalb der Region.

Südkorea macht weltweit als aufstrebender Waffenexporteur auf sich aufmerksam. Seoul hat die einheimische Rüstungsindustrie seit langem gefördert, um bei Forschung, Entwicklung und Produktion eines breiten Spektrums von Waffensystemen ohne ausländische Partner auskommen zu können. ­Eine solche Rüstungsindustriepolitik ist Teil des süd­koreanischen Programms zur umfassenden Stärkung und Reform seiner Streitkräfte. Seoul konzentriert sich weiterhin auf Nordkorea als wichtigste militärische Bedrohung, hat aber auch China im Blick, wenn es von „omnidirektionalen ­Herausforderungen“ spricht. Angesichts seiner gefährlichen Nachbarschaft bleiben die gemeinsame Abschreckung und die Verteidigungszusammenarbeit mit den USA von entscheidender Bedeutung für Südkorea.

Taiwan konzentriert sich nach wie vor darauf, eine Eskalation mit China zu verhindern und Peking von der Anwendung von Gewalt abzuschrecken. Zugleich sucht es für den Fall, dass es doch zu einem Konflikt kommt, die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Die Diskussionen drehen sich in erster Linie darum, was für militärische Fähigkeiten Taiwan kaufen oder entwickeln sollte – ob es eher in große und spektakuläre Fähigkeiten zur Abschreckung investieren oder kleinere, mobilere Mittel zur Territorialverteidigung bevorzugen sollte. Chinas jüngste Militärmanöver liefern den Befürwortern einer Stärkung der Luftverteidigungssysteme des Landes sowie seiner Küstenverteidigung mittels asymmetrischer Fähigkeiten, beispielsweise unbemannter Luftfahrzeuge, weitere Argumente.

Empfehlungen für den Umgang mit Konflikten im asiatisch-pazifischen Raum

Wie lässt sich der größte Nutzen aus diesen Länder­analysen ziehen? Australien, Japan, Südkorea und ­Taiwan sind wichtige Akteure im asiatisch-­pazifischen Raum. Sie haben kein Interesse daran, selbst zu Störquellen für die regionale Sicherheit zu werden, und sie versuchen, andere regionale Staaten ebenfalls von solchem Verhalten abzuhalten. Diese regionalen Akteure – neben den Vereinigten Staaten – sind es, die das Beziehungsgefüge und damit die Strukturen in der Region prägen. Jedes der vier Länder versucht sich an einem schwierigen Balanceakt gegenüber China, um seine nationalen Sicherheitsinteressen zu wahren. In der Summe ergibt sich ein komplexes Geflecht aus wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interessen. Was also können die Europäer angesichts ihrer begrenzten Ressourcen und ihrem Fokus auf den Konflikt in Europa tun, um die Stabilität in der Region zu stützen?

Erstens sollten die europäischen Regierungen auf das Senden lautstarker militärischer Signale verzichten. Die Teilnahme an Übungen in der Region lädt zu Gegensignalen ein und ist kontraproduktiv, wenn das Ziel darin besteht, das Konfliktrisiko zu verringern und die Stabilität im asiatisch-pazifischen Raum zu stützen. Statt sich auf militärische Symbolik einzulassen, sollten die Europäer China damit konfrontieren, vor welche Herausforderungen das chinesische Handeln die internationale Gemeinschaft stellt. Genau das ist im jüngsten Strategischen Konzept der NATO geschehen. Ein ähnlicher Ansatz sollte für die von Nordkorea ausgehenden Drohungen gewählt werden. Auf diese Weise lässt sich mehr erreichen, insbesondere wenn Europa gleichzeitig den Weg für ein konstruktives Engagement offenlässt. Deswegen sollte Europa auch Maßnahmen vorschlagen, die die Kommunikation im Falle einer Krise erleichtern und die Eskalationsgefahr verringern.

Zweitens sollten die europäischen Regierungen ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu den asiatisch-pazifischen Staaten intensivieren. Die Verflechtung hilft den US-Verbündeten auf beiden Kontinenten, ihre Abhängigkeit von China zu verringern. Dies kann auch die Resilienz gegenüber wirtschaftlichen Druckmitteln erhöhen und bietet eine gewisse Abschreckung gegen tatsächliche Gewaltanwendung. Auch wenn engere Beziehungen für die europäischen Regierungen mit Risiken verbunden sind, steigert die bewusste Akzeptanz dieser Risiken die Glaubwürdigkeit des europäischen Engagements für die Stabilität im asiatisch-pazifischen Raum – anders als die gelegentliche Entsendung einer Fregatte oder eines Eurofighter in den Pazifik. Die NATO plant bereits, in konkreten Fragen verstärkt mit ihren asiatisch-pazifischen Partnern zu kooperieren. In ähnlicher Weise kann die EU ihre bilaterale Zusammenarbeit mit Australien, Japan, Südkorea und Taiwan in Fragen wie der Nutzung von ­Wasserstoffenergie, der Klima-Resilienz und der Cyber­sicherheit ausbauen. Auch über Konfliktrisiken und andere Aspekte der militärischen Sicherheit könnte sich die EU mit ihren Partnern austauschen. Einzelne europäische Staaten könnten diesem Beispiel folgen. Schließlich ist es wünschenswert, auch private Akteure in den  Stakeholder-Austausch über Wissenschaft und Technologie einzubeziehen.

Drittens brauchen Europas Akteure – sowohl die Regierungen als auch die internationalen Gremien – eine Planung für den Notfall. Sie sollten darüber nachdenken, wie ein Konflikt im asiatisch-­pazifischen Raum ausbrechen und eskalieren könnte und wie in diesem Falle die voraussichtlichen ­Reaktionen der NATO, der Europäischen Union und einzelner europäischer Staaten aussehen würden. Wie schon am Einmarsch Russlands in die ­Ukraine deutlich geworden ist, müssen die politischen Entscheidungsträger in Europa die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Abschreckung im asiatisch-­pazifischen Raum scheitert und ein Konflikt eskaliert. Um eine aktuelle Einschätzung der ­Situation zu erhalten, sollten die europäischen Akteure ihre bestehende Präsenz in der Region nutzen und Beziehungen zu weiteren Staaten aufbauen. Bislang haben die Europäer diese Gespräche weitgehend unter sich und innerhalb der NATO mit den ­Vereinigten Staaten geführt. Ein Multi-Stakeholder-Ansatz bei der Entwicklung von Szenarien und Wargaming wird eine komplexere Sicht ermöglichen und das Verständnis Europas für die Bedingungen und Auswirkungen eines Konflikts im asiatisch-pazifischen Raum verbessern.

 

ÜBER DAS PROJEKT

Das DGAP-Projekt „Risikobegrenzung und Rüstungskontrolle im asiatisch-pazifischen Raum“ soll eine umfassende Analyse der Sicherheitsdynamiken in einem Teil des indopazifischen Raumes ermöglichen, wobei der Fokus auf den zentralen Akteuren Australien, China, Japan, Nordkorea, Russland, Südkorea, Taiwan und den Vereinigten Staaten liegt. Ziel ist es, in Deutschland und Europa zum Verständnis der Konfliktrisiken im asiatisch-pazifischen Raum beizutragen und Schritte zur Risikobegrenzung und zur Sicherung der Stabilität in der Region und darüber hinaus vorzuschlagen. Den Auftakt bildet eine Bestandsaufnahme der sicherheitspolitischen Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum.

Alle Informationen und die Länderberichte können unter https://dgap.org/de/forschung/programme/programm-sicherheit-und-verteidigung/risikoreduzierung-und-ruestungskontrolle abgerufen werden.

 

 

Bibliografische Angaben

Suh, Elisabeth. “Konflikt auf zwei Kontinenten?.” German Council on Foreign Relations. November 2022.

Die englische Fassung dieses Policy Briefs wurde am 19. September 2022 im Rahmen des Projekts „Risikoreduzierung und Rüstungskontrolle in der Region Asien-Pazifik“ veröffentlicht. Die deutsche Fassung dient als Rahmenpapier für mehrere Länderberichte, die auf Englisch hier auf der Projektseite zu finden sind.

Themen & Regionen

Verwandter Inhalt