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04. Sep 2017

Für einen wertegeleiteten Realismus

Deutschland muss mehr Verantwortung in der Welt übernehmen

Sicherheit, Klima, Entwicklung – wir stehen vor riesigen Herausforderungen. Doch unser Handlungsspielraum ist begrenzt, denn die Krise der Demokratie schwächt die liberale globale Ordnung und unsere traditionellen Bündnisse. Deutschland braucht daher eine realistische Außenpolitik, die unsere Werte in den Vordergrund rückt.

Eine neue Bundesregierung wird im Herbst 2017 vor großen Problemen in ­einer hoch volatilen internationalen Lage stehen.1 Außenpolitik wird daher eine zentrale Rolle in der Politikgestaltung der nächsten Legislatur spielen. Wir werden auf globaler Ebene vor allem mit drei strukturellen Herausforderungen konfrontiert: Sicherheit, Klimaschutz und Entwicklung. Ihre Ursachen sind eng miteinander verknüpft, was auch heißt: Wir werden sie nicht getrennt von­einander bewältigen können.

Kein anderes Thema verdeutlicht den Zusammenhang zwischen diesen drei Herausforderungen so sehr wie das Thema Flucht:2 Es kommen mittlerweile zwar weniger Menschen bei uns in Deutschland an als 2015, aber der weltweite Trend zeigt in eine andere Richtung: 65 Millionen sind zurzeit auf der Flucht, so viele wie noch nie. Nimmt man diejenigen dazu, die gerne fliehen würden, müssten wir diese Zahl noch viel höher ansetzen. Denn viele Menschen haben gar nicht die Mittel oder die Gelegenheit, sich aufzumachen, um anderswo ein neues Leben aufzubauen.

Die meisten Menschen fliehen vor Krieg und Gewalt. Der Klimawandel ­befördert Flucht, auch wenn er meist nicht der Hauptgrund dafür ist. Daher ist es so wichtig, Perspektiven vor Ort zu schaffen – durch Entwicklungs­zusammenarbeit, durch Sicherheitszusammenarbeit, aber auch durch visio­näre Klimapolitik.

Wir müssen die Krise der Demokratie überwinden

Die Größe und Komplexität dieser Herausforderungen verhält sich diametral zu dem politischen Spielraum, den wir haben, um sie anzupacken. Daher ist es ­essentiell, unseren Handlungsspielraum zu erweitern. Die strategischen Ansätze der zu Ende gehenden Legislatur – der Review-Prozess des Auswärtigen Amtes und das Weißbuch des Bundesministeriums für Verteidigung – können als erste Versuche einer strategischen Reflexion dieses Sachverhalts gelesen werden.

Um unseren Spielraum zu erweitern, müssen wir unsere Außenpolitik in Deutschland und Europa darauf ausrichten, die Krise der Demokratie zu überwinden. Denn die offene Weltordnung, die seit Jahrzehnten wesentlich von Demokratien getragen wurde, wird wie noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg herausgefordert. Unsere traditionellen Partner sind geschwächt. Renationalisierung ist in vielen Staaten wieder zur Verheißung geworden, multilaterale Zusammenarbeit wiederum hat an Attraktivität verloren.

Der Druck auf unser Wertegerüst wächst innerhalb des westlichen Bündnisses, in Europa und in den USA, genauso wie von außen. Neue Herrschaftsmodelle, vom menschenverachtenden Islamismus bis hin zu den autokratischen Regimen Wladimir Putins oder Recep Tayyip Erdogans, präsentieren sich als Alternativen zur pluralistischen Demokratie. Wir beobachten weltweit das Phänomen des „shrinking space“. Der Raum für zivilgesellschaftliche Arbeit wird in vielen Ländern immer kleiner – nicht nur in Autokratien, sondern leider auch in gefestigten Demokratien wie Indien oder Israel.

Ob die Weltordnung auch in Zukunft maßgeblich von Demokratien gestaltet wird, ist offen. Dass die Demokratie der prägende Ordnungsrahmen wird, wie wir Europäer noch 1990 in der Charta von Paris proklamierten, ist heute keineswegs mehr sicher.

Realpolitik mit Haltung

Wir brauchen gerade vor diesem Hintergrund eine Politik des wertegeleiteten Realismus in Deutschland und in Europa. Eine Außenpolitik mit Haltung, die realistisch und vertrauenswürdig ist. Europa bestimmt nicht die Welt, doch die Welt bestimmt uns, wenn wir ihr nicht sowohl mit einem klaren Wertegerüst als auch mit einer realistischen Einschätzung unserer Möglichkeiten begegnen.

Wir Europäer müssen unsere Werteorientierung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten leben und auf dieser Grundlage mit anderen Akteuren der internationalen Politik kommunizieren und kooperieren – selbst wenn diese unsere Werte nicht teilen oder sogar versuchen, unsere Werte­ordnung zu unterminieren.

Die Achtung der Menschenrechte gehört zu jenem Normengerüst der Weltgemeinschaft, das uns als Deutsche frei leben lässt. Deshalb gehören Achtung und Pflege dieser Normen weltweit zu den Kerninteressen der Bundesrepublik. Menschenrechte und Interessen sind kein Widerspruch, sondern Menschenrechte sind unser ureigenes Interesse. So sind beispielsweise Institutionen, die frei von Korruption sind, nicht nur ein Anliegen der Menschenrechte, sondern sie sind auch die Grundlage für eine vertrauensvolle, effiziente und langfristige Zusammenarbeit. Davon profitiert unsere Wirtschaft ebenso wie unsere Sicherheit.

Eine starke Soft Power kann es ohne Hard Power nicht geben

Jede Demokratie hat eine Vorbildfunktion. Werte sagen viel über uns aus, und sie binden vor allem uns selbst. Wir können sie Anderen nicht einfach überstülpen. Andere sollten sie vielmehr bei uns erkennen und für sich selbst übernehmen, wenn sie das wollen. Das bedeutet Soft Power.

Wir stehen vor einem globalen Wettbewerb um Werte und Ordnungen, und wir müssen für unsere Werte werben. Gerade in Zeiten, in denen diese Werte durch die Vereinigten Staaten und ihren Präsidenten selbst angegriffen werden, sind wir Europäer gefordert. Der junge Parlamentarische Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ralf Dahrendorf hat 1969 das Konzept einer Außenkultur-, Außenbildungs- und Außenwissenschaftspolitik geprägt. Diese dritte Säule unserer Außenpolitik müssen wir in Deutschland und Europa auch heute intensivieren. Eine neue Initiative zur Stärkung unserer Soft Power ist daher unabdinglich. Es muss uns gelingen, um Dahrendorf zu zitieren, „von einer Außenpolitik der Staaten zu einer Außenpolitik der Gesellschaften zu kommen“.3 Dies erfordert eine gemeinsame Verantwortung für gemeinsame Ziele durch Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik.

Zivilgesellschaften müssen im Zentrum unserer außenpolitischen Arbeit stehen. Je mehr Zivilgesellschaften weltweit unter Druck geraten, umso wichtiger ist es, ihnen zur Seite zu stehen – sei es in der Türkei, in Venezuela oder in Russland. Auch zwischen Demokratien müssen wir den zivilgesellschaftlichen Austausch stärken. Wenn die USA sich aus der internationalen Klimapolitik zurückziehen, dann müssen wir intensiver mit Städten, Kommunen und Bundesstaaten zusammenarbeiten. Die „Under2 Coalition“, die Baden-Württemberg und der US-Bundesstaat Kalifornien gemeinsam auf den Weg gebracht haben, ist ein Beispiel für ehrgeizige Klimaschutzpolitik auch auf subnatio­naler Ebene.4

Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und exportiert in alle Erdteile. Jedes deutsche Unternehmen ist im Ausland auch ein Botschafter unseres Landes. Die selbstverschuldete Krise der deutschen Autoindustrie schadet unserem Image weltweit und damit unserer Soft Power. Wir können unsere Werte in der Welt nur dann glaubhaft vertreten, wenn auch unsere Unternehmen sie als Handlungsrahmen ernst nehmen. Werte gehören in die Außenwirtschaftspolitik ebenso wie in die Außenpolitik, schließlich ist Außenwirtschaftspolitik ein Teil der Außenpolitik.

Um Soft Power ausüben zu können, müssen wir jedoch auch über Hard Power verfügen. Dass wir manchmal, im äußersten Notfall, auch militärische Mittel brauchen, haben uns Srebrenica, Kosovo und Afghanistan gelehrt. Diese Erkenntnis ist Grundlage eines wertegeleiteten Realismus.

Ohne Frage brauchen wir in Deutschland eine starke und leistungsfähige Bundeswehr. Aber sie sollte ihre Stärke daraus ziehen, dass sie Teil einer funktionierenden Europäischen Verteidigungsunion ist. Mehr nationale Rüstungsausgaben bedeuten nicht automatisch mehr Sicherheit. Entscheidend für unsere Sicherheit ist nicht, wieviel wir investieren, sondern in was wir investieren. Unsere Rüstungsausgaben sollten sich daran orientieren, was wir brauchen, um gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn Sicherheit für alle in Europa zu schaffen.5

Mit Frankreich mutig Reformen anpacken

Eine deutsche Außenpolitik des wertegeleiteten Realismus muss fest in Europa verankert sein. Dafür muss Deutschland seine Rolle in Europa klar definieren. Europa braucht ein starkes Deutschland ebenso wie Deutschland ein starkes Europa braucht. Als Mitgliedstaat mit der größten Bevölkerung und Wirtschaftskraft tragen wir eine besondere Verantwortung für die Zukunft Europas. Aber ein starkes Deutschland gibt es auf Dauer nur in einem handlungsfähigen Europa. Europas Handlungsfähigkeit zu kräftigen, muss Priorität deutscher Außenpolitik sein.

Der Brexit ist schmerzhaft und äußerst bedauerlich. Aber er wird die Europäische Union nicht umbringen. Eine EU ohne Frankreich – das wäre das Ende. Deswegen müssen wir alles daransetzen, die notwendigen Reformen gemeinsam mit Paris anzugehen, und zwar gleichzeitig. Wir müssen reformieren und investieren. Wie bei den Rüstungsausgaben zählt auch hier weniger, wieviel Geld wir in die Hand nehmen, sondern vor allem, wofür wir dieses Geld ausgeben. Wir brauchen eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft in Europa. Hier müssen die Regierungen in Berlin und Paris gemeinsam vorangehen.

Die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris kann jedoch nur funktionieren, wenn sie auf Augenhöhe stattfindet und Deutschland den Mut hat, institutionelle Reformen gemeinsam mit Staatspräsident Emmanuel Macron anzugehen. Dabei müssen wir die Mitgliedstaaten, die nicht den Euro haben, einbinden. Es müssen nicht immer alle bei jedem Integrationsschritt dabei sein; aber jeder Integrationsschritt sollte allen prinzipiell offen stehen.

Auch unter so widrigen Umständen müssen wir unbedingt versuchen, Warschau wieder stärker in das Weimarer Dreieck mit Paris und Berlin zu integrieren. Dafür brauchen wir eine festere Form der Zusammenarbeit, zum Beispiel, indem wir endlich trilaterale Kabinettstreffen in regelmäßigem Rhythmus realisieren. Idealerweise bezieht ein „Weimarer Dreieck Plus“ noch weitere Staaten wie die Ostsee-Anrainer ein. Das ist wichtig für den Zusammenhalt in Europa.

Klima zur Chefsache im Außenministerium machen

Wenn wir Europa wieder handlungsfähiger machen, und wenn wir unsere Außenpolitik darauf ausrichten, realistische Schritte zu gehen, ohne bei Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Kompromisse zu machen, dann haben wir gute Voraussetzungen, um die drei großen globalen Herausforderungen unserer Zeit – Klima, Sicherheit und Entwicklung – anzugehen.

Die Jahrhundertherausforderung Klimawandel werden wir ohne radikales Umdenken nicht eindämmen können. Die Hauptlast liegt immer noch bei den westlichen Industriestaaten. Wenn alle Menschen weltweit so lebten wie wir in Deutschland, bräuchten wir 3,2 Planeten.

Der Klimaschutz sollte zur ressortübergreifenden Priorität in Deutschlands Beziehungen mit der Welt werden und bei allen bilateralen Gesprächen thematisiert werden. Auf Delegationsreisen sollten nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der alten Industrie mitreisen, sondern auch der Teil der Wirtschaft, der die ökologische Modernisierung bereits umsetzt. Und warum begleitet nicht auch einmal ein Vertreter des Naturschutzbund Deutschland (NABU) oder eines anderen Umweltverbands ein Kabinettsmitglied ins Ausland?

Die Klimapolitik, und damit verbunden das Thema Energie, sollte zur Chefsache des nächsten Außenministers oder der Außenministerin werden. Wir brauchen eine Klima-Außenpolitik. Dafür sollten wir im Auswärtigen Amt einen Staatssekretär bzw. Staatssekretärin für Klimaaußenpolitik schaffen, der oder die daran arbeitet, dieses Thema durch alle Abteilungen und Referate hinweg zu einem festen Bestandteil unserer außenpolitischen Arbeit zu machen. Auch hier gilt natürlich, dass wir allein bei weitem nicht so stark sind wie im europäischen Verbund. Auch ein deutscher Außenminister oder eine deutsche Außenministerin muss sich hier in Brüssel einbringen.

Mit einem CO2-Mindestpreis könnten wir in der Europäischen Union nachhaltige Investitionen fördern. Der Emissionshandel muss dringend reformiert werden, denn in seiner jetzigen Form ist er wirkungslos. Um unsere Klimaziele in Europa zu erreichen, müssen wir nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen EU den Ausstieg aus der Kohleverbrennung einleiten. Die betroffenen Regionen brauchen dabei Planungssicherheit, um den Strukturwandel meistern zu können. Eine europäische Energieunion sollte für alle Mitgliedstaaten ein Gewinn sein. Dann werden wir auch alle mit ins Boot holen können.

Deutschland kann diese Projekte in Europa jedoch nur dann erfolgreich anstoßen, wenn es wieder zum Vorreiter im Klimaschutz wird. Die Umsetzung unserer nationalen Klimaziele ist die Grundlage für eine erfolgreiche Klima-Außenpolitik.

Eine weitere große Entwicklung, die neben dem Klimawandel unsere Welt massiv verändert, ist die Digitalisierung. Das mobile Internet hat Räume eröffnet, die großes wirtschaftliches Wachstum ermöglichen, aber auch politische und gesellschaftliche Grenzen sprengen. Im Rahmen der Vereinten Nationen müssen wir daher die Möglichkeiten einer digitalen Ordnungspolitik ausloten. Es geht darum, Menschenrechte und Bürgerrechte auch online zu verteidigen, Terrorismus und kriminelle Netzwerke zu bekämpfen und Angriffe von staatlichen oder parastaatlichen Akteuren zu vereiteln. Digitale Bürgerrechte müssen weltweit gewahrt werden.

Dem islamistischen Terrorismus die ideologischen Wurzeln ziehen

Die zweite große Herausforderung unsere Zeit ist das Thema Sicherheit. Die Welt ist unruhiger geworden. Unruhe und Veränderung schüren Ängste – das ist menschlich und normal und zunächst auch vernünftig. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist schließlich ein Urinstinkt.

Sicherheitspolitik muss zweierlei können: Sie muss Bedrohungen minimieren, im Idealfall ganz aus der Welt schaffen und das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Mit dem Gefühl der Unsicherheit spielen Terroristen. Ihren Anhängern gegenüber legitimieren sie ihr Bestreben, diese Unsicherheit zu säen, durch eine Ideologie, der ein binäres Weltbild zugrunde liegt. Dieses Weltbild ist das eigentliche Gift des islamistischen Terrorismus. Wir dürfen daher den islamistischen Terrorismus nicht nur militärisch bekämpfen. Um ihn langfristig zu besiegen, müssen wir ihn auch an seiner ideologischen Wurzel packen.

Die Quelle islamistischer Ideologie liegt im saudi-arabischen Wahabismus. Seine Ausbreitung sollten wir in einem ersten Schritt da stoppen, wo wir es können – in Deutschland und Europa. Es darf kein Geld mehr aus Saudi-Arabien in deutsche und europäische Moscheen fließen. An unseren Universitäten müssen wir eine zeitgenössische Interpretation des Islam fördern. Natürlich gehört dazu auch zu überlegen, wie diese Forschung eine Rückwirkung in andere Länder mit muslimischer Bevölkerung haben kann.

Im nächsten Schritt müssen wir andere Staaten dazu bringen, diese Bemühungen in ihren Ländern umzusetzen. Wir brauchen ein breites Bündnis für eine Eindämmungspolitik gegenüber dem islamistischen Extremismus. Die EU-Staaten sollten der Kern dieses Bündnisses sein. Jedoch sollten wir auch die USA dafür gewinnen, um der fehlgeleiteten Saudi-Arabien-Politik der Trump-Regierung entgegenzusteuern. Idealerweise bleibt dieses Bündnis nicht auf die westlichen Staaten beschränkt. Gerade wenn wir muslimisch geprägte Staaten erfolgreich einbinden, können wir eine starke Koalition gegen die Ausbreitung der geistigen Grundlagen des islamistischen Terrorismus bilden.

Schließlich sollten wir auch den Hebel Rüstungsexporte einsetzen. Solange Saudi-Arabien seinen Export des Wahabismus weltweit nicht einstellt, sollte es keine Rüstungsexporte mehr aus Deutschland erhalten. Entscheidungen über Rüstungsexporte sollten wir prinzipiell viel stärker an politische Gegebenheiten, insbesondere die Menschenrechtslage im Empfängerland, binden. Die federführende Zuständigkeit für Rüstungsexportentscheidungen der Bundesregierung sollten wir daher vom Wirtschaftsministerium ins Auswärtige Amt verlagern.

Entwicklungszusammenarbeit auf sozial-ökologische Transformation, mehr Politikexpertise und starke Vereinte Nationen ausrichten

Das dritte große Thema unserer Zeit ist Entwicklung. Es wäre falsch, das ­Thema Entwicklungszusammenarbeit im 21. Jahrhundert ohne das Thema Flucht zu denken. Entwicklung schafft Perspektiven vor Ort und erfüllt damit bei der Fluchtursachenbekämpfung eine humanitäre Aufgabe in doppelter Hinsicht. Wir sorgen nicht nur dafür, dass Menschen die oft traumatische Erfahrung von Flucht erspart bleibt, sondern wir entlasten auch die Nachbarländer beziehungsweise andere Teile der Herkunftsländer. Denn neun von zehn Flüchtlingen weltweit werden von Entwicklungsländern aufgenommen oder sind Binnenvertriebene im eigenen Land.6

Wir müssen insbesondere die sozial-ökologische und die politische Dimen­sion von Entwicklungszusammenarbeit stärken. Denn selbst konservative Schätzungen der Weltbank gehen davon aus, dass mindestens 40 Prozent der heute urbaren Flächen in Subsahara-Afrika durch den Klimawandel vernichtet werden.7 Und der Wiederaufbau von Mossul beispielsweise kann nur dann funktionieren, wenn es eine politische Lösung gibt, die die Vielfalt der Bevölkerung abbildet und eine funktionierende Stadtverwaltung schafft. In der deutschen Botschaft in Bagdad gibt es aber de facto nur zwei Politikfachleute – den Botschafter und einen Fachreferenten. Wir brauchen also deutlich mehr ­Politik-Expertise. Das heißt auch, die Arbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit dem Auswärtigen Amt enger zu verzahnen.

Wichtigster entwicklungspolitischer Akteur weltweit sind und bleiben die Vereinten Nationen. Hier muss Deutschland seinen Einsatz deutlich erhöhen. So beteiligt sich Deutschland immer noch viel zu wenig am Peacekeeping. Aktuell stellt es nur 31 von über 12 000 UN-Polizisten.8

Auch in den Vereinten Nationen muss Deutschland europäisch agieren. Nicht ein ständiger Sitz für Deutschland, sondern ein ständiger Sitz für Europa im Sicherheitsrat sollte langfristiges Ziel deutscher Außenpolitik sein. Kurzfristiges Ziel sollte sein, sich dafür einzusetzen, dass die im Sicherheitsrat bereits vertretenen Europäer ihre Sitze zu einer permanenten europäischen Vertretung ausbauen. Ein gemeinsamer Stab unter Beteiligung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und aller Mitgliedstaaten könnte die Koordinierung übernehmen. Die nächste Bundesregierung könnte ihren europäischen Partnern anbieten, ein solches Modell über den möglichen deutschen Sitz, der mit der bereits laufenden Kandidatur für den Zeitraum 2019/2020 angestrebt wird, auszuprobieren.

Gemeinsam mit Europa muss Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernehmen – mit Haltung und mit Realismus.

CEM ÖZDEMIR ist Spitzenkandidat zur Bundestagswahl von Bündnis 90 /Die Grünen. Dieser Text beruht auf einer Rede, die er am 4.8.2017 in der Mendelssohn-Remise in Berlin gehalten hat.

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1   Vgl. Außenpolitische Herausforderungen für die nächste Bundesregierung. Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, 20.7.2017, https://dgap.org/de/article/getFullPDF/29846. Dort heißt es, es sei zu erwarten, das internationale Umfeld bleibe „krisenhaft und instabil“.

2   Ivan Krastev hat in seinem jüngsten Werk „Europadämmerung“ (2017) eindrucksvoll darauf verwiesen, wie allein für Europa das Thema Flucht diese Herausforderungen verdichtet.

3   Ralf Dahrendorf, 28.11.1969, Rede vor dem Deutschen Bundestag, Bonn.

4   Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg, https://um.baden-wuerttemberg.de/de/klima/klimaschutz/internationaler-k….

7   http://documents.worldbank.org/curated/en/975911468163736818/pdf/784240….

8   http://www.un.org/en/peacekeeping/contributors/2017/jun17_1.pdf.

Bibliografische Angaben

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