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29. Juni 2018

„Eine Art kaltes Australien“

Russlands künftige Rolle in der Weltwirtschaft: Michael Harms im Gespräch

Weniger Staat, mehr Wettbewerb, freier Mittelstand, unabhängige Gerichte, Export-Diversifizierung: Die Liste der Wirtschaftsreformen, die Russland braucht, ist lang. Dann wäre einiges möglich, erklärt der Geschäftsführer des Ostausschuss – Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft im IP-Interview. Auch, dass Russland Deutschland bis 2050 wirtschaftlich überholt.

IP: Herr Harms, nach Jahren der Krise wächst Russlands Wirtschaft wieder. Doch Wachstumsraten von 1 bis 2 Prozent sind für ein Land, das Augenhöhe mit den entwickelten Industrieländern sucht, ein spärlicher Wert. Um Russlands Wachstum stärker zu entfesseln, müsse sich der Kreml „aus der Mehrheit seiner Industriebeteiligungen zurückziehen und mehr Wettbewerb zulassen“, hat der Vorsitzende des Ost-Ausschuss – Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele, gefordert. Was wäre darüber hinaus nötig?
Michael Harms: Dass Russland stärker wachsen muss, dass man alles tun muss, um dieses Wachstum anzukurbeln, ist auch den Politikern in Moskau bewusst. Die Forderungen von Herrn Büchele sind nicht nur die der deutschen Wirtschaft – das finden Sie in fast jeder Rede Wladimir Putins, und das schon seit 20 Jahren. Es sind allerdings einige fundamentale Reformen ausgeblieben, und so bleibt die Wirtschaft gefesselt. Was das Land braucht, wäre ein Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, klare, verlässliche institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen, mehr freien Mittelstand, mehr freien Wettbewerb, unabhängige Gerichte. Also die klassischen institutionellen Rahmenbedingungen – das ist meines Erachtens der zentrale Punkt, und dann würde die Wirtschaft auch schneller wachsen. Andererseits ist natürlich auch schon Einiges passiert. Die Rahmenbedingungen haben sich verbessert, und einige Reformen, die angekündigt worden sind, sind auch umgesetzt worden. Wenn man sich in letzter Zeit den Geschäftsklimaindex der Weltbank anguckt, hat da Russland große Fortschritte gemacht.

IP: Was hat denn diesen Sprung im Geschäftsklimaindex bewirkt? Russland hat sich ja in wenigen Jahren erstaunlich verbessert, von Rang 123 auf Rang 35.
Harms: Dazu muss man erst einmal wissen, dass diese Messungen immer in den Hauptstädten vorgenommen werden. So hat die Regierung sich darauf konzentriert, vor allem in Moskau und St. Petersburg die Punkte zu verbessern, die im Weltbankindex abgefragt werden. Aber das ist nicht nur Show. In vielen Bereichen, etwa bei der Steuergesetzgebung, ist Russland viel besser aufgestellt als etwa Deutschland – sowohl bei den Steuersätzen als auch in Bezug auf die Verständlichkeit des Systems. „Das ist ja auch keine große Kunst“, werden Spötter jetzt vielleicht sagen, aber auch beim Thema Schnelligkeit von Gerichtsentscheidungen hat Russland wirklich etwas zu bieten. Es gibt einen besonderen Zweig der Wirtschaftsgerichtsbarkeit, die so genannten Arbitrage-Gerichte. Diese Gerichte sind nahezu frei von Korruption und politischem Einfluss, sie entscheiden meist fair und vor allem – es geht schnell. Sie können in einem Jahr durch drei Instanzen gehen und Ihr Urteil bekommen.

IP: Schlägt sich das auch bei den Investitionen nieder?
Harms: Die offiziellen Zahlen der Bundesbank zeigen, dass die deutschen Investitionen sichtbar angestiegen sind. In den vergangenen beiden Jahren hatten wir einige Leuchtturmprojekte – sowohl von großen Firmen als auch von Mittelständlern. Einige Firmen, die sehr gut in Russland verkaufen, werden irgendwann feststellen, dass das Verkaufen nicht ausreicht. Die Zölle bestehen noch, die Logistikwege sind weit, es gibt immer mehr Forderungen nach lokaler Produktion etc. Und wenn man dann gleichzeitig glaubt, man müsse die Währungsrisiken senken, dann kommt man vielleicht zum Schluss, dass man jetzt einmal im Land investiert. Meines Erachtens spricht viel dafür, dass sich dieser Trend noch verstärkt. Allerdings könnte es auch passieren, dass die Konjunktur wieder einbricht, so dass sich viele Firmen fragen, ob sich das noch lohnt. Zudem fürchte ich angesichts neuer US-Sanktionen, dass mittlerweile das Reputationsrisiko erheblich ist, wenn man ein Riesenprojekt in Russland startet – gerade für die großen Firmen.

IP: Was gibt es da für typische Leuchtturmprojekte?
Harms: Zum einen hat Mercedes sich entschlossen, ein Werk in der Nähe von Moskau zu bauen. Dann gab es einige Sonderinvestitionsverträge, wo die Firmen den Status eines lokalen Produzenten erhalten haben, wie etwa der Landmaschinenkonzern Claas oder der Pumpenhersteller WILO. Das Baumaschinenunternehmen Liebherr hat eine neue Produktion in Westsibirien eröffnet, der Heizungsbauer Viessmann hat ein Werk in der Sonderwirtschaftszone Lipezk errichtet. Vossloh hat im Ural-Gebiet eine Firma eröffnet. Insgesamt eine schöne Mischung aus Großunternehmen und Mittelstand. Natürlich, die Zeit der absoluten Goldgräberstimmung ist vorbei, wo man nur aus dem Westen kommen und eine angesagte Technologie dabei haben musste, und dann haben sie einem das Zeug aus den Händen gerissen. Der Markt ist in allen Bereichen hochkompetitiv. Wenn Sie nach Russland kommen, müssen Sie nicht nur gut sein, Sie brauchen auch einen langen Atem, denn den schnellen Erfolg werden Sie nicht haben. Sie müssen eine vernünftige Vertriebsstruktur aufbauen und die entsprechenden Partner finden. Und wenn Sie richtig Volumen in Russland generieren wollen, dann müssen Sie lokal tätig sein und eine Win-win-­Situation für die Partner kreieren. Dann ist das Geschäft in Russland ausgesprochen nachhaltig und hochprofitabel.

IP: Sie selbst kennen das Moskauer Geschäftsleben aus eigener Anschauung. Was zeichnet Russland als Wirtschaftsstandort, als Geschäftsplatz aus?
Harms: Zunächst einmal ist Russland in manchen Sektoren durchaus eine moderne Marktwirtschaft, von der wir einiges lernen können. Das gilt besonders da, wo Wettbewerb herrscht, in der Telekommunikation etwa. Und es fängt mit hochqualifizierten Unternehmern an, geht bei den wirklich tollen Dienstleistungsangeboten weiter und hört bei der technischen Infrastruktur noch lange nicht auf. Nehmen Sie nur einmal die Moskauer Metro und die Verfügbarkeit von Wlan in der ganzen Stadt. Russland ist übrigens eines der wenigen Länder der Welt, die eine eigene Suchmaschine haben – „Yandex“ schlägt in Russland Google bei weitem.

IP: Ein großes Problem der russischen Exportwirtschaft bleibt die Abhängigkeit von Rohstoffexporten. Sehen Sie irgendwelche Bemühungen, die Wirtschaft aus dieser einseitigen Orientierung zu befreien?
Harms: Dass man wegkommen muss von dieser Rohstoffabhängigkeit, die sehr stark zyklisch ist und einen den Preisschwankungen am Weltmarkt unterwirft – das ist Putin und seinen Regierungsbeamten völlig klar. Zumindest müsste man die Rohstoffe stärker im Inland veredeln; das geschieht leider noch viel zu wenig. Allerdings gibt es mittlerweile einige Großprojekte, auch mit Beteiligung deutscher Unternehmen. Das betrifft Flüssiggasterminals oder ein großes Gasverarbeitungswerk, das die Linde-Gruppe im Fernen Osten baut. Gaz­prom plant an der Ostsee ebenfalls ein riesiges Gasverarbeitungswerk. Da ­passiert eine ganze Menge.

IP: Auf die Wirtschaftssanktionen hat die russische Regierung mit Lokalisierung und Importsubstitution reagiert. Glauben Sie, dass die Autarkie-Strömungen, sich vom Westen komplett abzukoppeln, die Oberhand gewinnen könnten?
Harms: Eine gewisse Tendenz zu einer, nennen wir es mal, stärker lokal ausgerichteten Wirtschaft gab es schon länger; sie hat sich im Gefolge der Sanktionen lediglich verstärkt. Das hat mit Fragen der nationalen Sicherheit zu tun – weil man festgestellt hat, dass man in einem gefährlichen Ausmaß abhängig von bestimmten Importprodukten ist. Die Sanktionen hat man dann als politische Chance gesehen, diesen Trend noch zu verstärken. Grundsätzlich haben wir gar kein Problem mit dieser Ausrichtung …

IP: Aber?
Harms: Wir kritisieren, dass das überwiegend nicht durch Anreize geschieht, sondern durch Zwang und Vorschriften. Wir glauben, dass so etwas schlecht funktioniert, weil es Wettbewerb ausschließt und meist mit einer Verschwendung von Geld und Arbeitskräften einhergeht. Und ich glaube auch, dass grundsätzlich allen klar ist, dass man mit einer reinen Autarkiestrategie heute nicht mehr erfolgreich sein kann. Aber speziell in letzter Zeit hat man gemerkt, dass russische Wirtschaftspolitik in Amerika gemacht wird. Sogar innerhalb Russlands haben viele Unternehmen Angst, mit den im April von der US-Regierung sanktionierten Firmen Geschäfte zu machen. Washington kann quasi mit einem Fingerschnippen ganze Wirtschaftsbereiche in Russland lahmlegen. Da habe ich ein gewisses Verständnis dafür, dass man sich da in Moskau schon überlegt, wie man ganz sensible Bereiche der Industrie von diesen Einflüssen abschotten kann. Ob sich diese Tendenz zur Autarkie weiter verstärkt, wird also von den weltpolitischen Entwicklungen abhängen. Hier greifen Politik und Wirtschaft sehr, sehr eng ineinander.

IP: Politik und Wirtschaft – das ist ja auch bei Nord Stream 2 das große Thema. Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa sieht die Pipeline nicht mehr ausschließlich als rein wirtschaftliches Projekt. Sie verlangt als Bedingung für den Bau, dass die Ukraine nicht vom Gasstrom aus Russland isoliert wird.
Harms: Der politische Aspekt hat in der Tat eine Bedeutung erhalten, die nur noch ganz schwer nachzuvollziehen ist. Selbst die Umweltfragen spielen im Vergleich dazu keine große Rolle mehr. Der politische Gegenwind ist ausgesprochen stark.

IP: Was ist Ihre Position?
Harms: Wir unterstützen Nord Stream 2. Wir glauben, dass es nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa ein sehr sinnvolles Projekt ist. Die Förderung in der Nordsee geht eindeutig zurück, Europa braucht neue Erdgasquellen. Gas ist unter Klimagesichtspunkten eine wichtige Brückenenergie. Wir haben mittlerweile einen liberalisierten Gasmarkt in Europa, mit Gasströmen von Ost nach West und umgekehrt, was ja auch dazu führt, dass die Ukraine vom Westen mittlerweile komplett mit Gas versorgt wird. Wir glauben, dass Nord Stream 2 zu mehr Versorgungssicherheit führt, nicht zu einer größeren Abhängigkeit. Bei Gas haben Sie ohnehin mittlerweile einen eindeutigen Käufermarkt. Gazprom ist stärker abhängig von den europäischen Märkten als wir. Das ist nur eine unter vielen Bezugsquellen, die wir haben. Wie gesagt, ich sehe fast nur Vorteile. Natürlich muss die Ukraine aus politischen Gesichtspunkten – Energiesicherheit in der Ukraine und wirtschaftliche Stabilisierung – als Transitland erhalten werden. Das war auch eigentlich immer unsere Position. Ich glaube, der große Streit wird sich eher darum drehen, wie umfangreich dieser Transit durch die Ukraine sein wird.

IP: Wie würden Sie denn allgemein den Zustand der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen beschreiben? Russland ist ja in der Rangliste der deutschen Exportländer von 2012 bis 2016 weit zurückgefallen. 2017 ging es trotz bestehender Sanktionen wieder deutlich aufwärts. Worauf führen Sie das zurück, und was erwarten Sie für die Zukunft?
Harms: Wir hatten in der Tat 2012 ein Rekordhandelsvolumen von 80 Milliarden Euro. Das ist dann auf knapp über 50 Milliarden gefallen und jetzt wieder auf 57 Milliarden im vergangenen Jahr gestiegen. Wir haben für dieses Jahr eine Steigerung von 10 Prozent vorausgesagt – allerdings bin ich aufgrund der politischen Probleme mit den US-Sanktionen geneigt, das wieder etwas runterzuschrauben. Ansonsten wären die Voraussetzungen ganz gut. Der steigende Ölpreis, ein deutlich verstärktes Investitionsverhalten in Russland vor allem im Maschinen- und Anlagenbau und ein sichtbarer Zuwachs bei den Autokäufen – auch so ein klassischer deutscher Exportartikel. Mal sehen, wie stark sich die Politik darauf auswirkt; das ist jetzt noch ein bisschen früh zu sagen.

IP: Was hemmt denn den Handel am stärksten? Sind es die Finanzsanktionen? Ist es die damit einhergehende Unsicherheit?
Harms: Die russischen Banken schwimmen derzeit im Geld, die wissen gar nicht, wohin damit. Vor allem im Zuge der Rubelabwertung ist ausgesprochen viel Cash ins Land gekommen – und die Exporteinnahmen werden in Dollar bezahlt. Die Finanzierung im Land ist also eigentlich kein großes Problem. Allerdings sind die Zinsen zu hoch und die Risiken zu groß. Außerdem gibt es aus Sicht der Banken zu wenige Projekte, in die man sinnvollerweise investieren könnte. Hinzu kommt, und auch hier spielt wieder die Politik eine entscheidende Rolle, der „Kreml-Bericht“. Washington hatte Anfang dieses Jahres 210 russische Milliardäre, Politiker und Beamte aufgelistet, die angeblich in enger Beziehung zu Präsident Putin stehen. Seitdem haben die Oligarchen damit begonnen, ihre privaten Vermögen nach Russland zurück zu transferieren, weil sie schlicht Angst haben, dass die Vermögen im Westen eingefroren werden. Wie die Fälle Wekselberg und Deripaska zeigen, mit Recht. Das hat nochmal Milliarden nach Russland gespült, und die Oligarchen versuchen jetzt natürlich, dieses Geld einigermaßen langfristig anzulegen. Der amerikanische Kongress hat also gewissermaßen Putin geholfen, das Problem der Kapitalflucht zu bekämpfen.

IP: Wenn wir darüber sprechen, dass Russland langfristig nicht mehr so abhängig von Rohstoffexporten sein möchte: Was sind da die Exportschlager der Zukunft? Und was führen wir nach Deutschland neben Öl und Gas überhaupt noch ein?
Harms: Neben den Rohstoffen sind das beispielsweise „Halbzeuge“, vorgefertigte Rohmaterialien. Auch Spezialrohstoffe, die man etwa für die Elektromobilität braucht, beispielsweise Lithium. Natürlich Agrarprodukte, Russland ist ja mittlerweile größter Weizenexporteur der Welt. Daneben Kunstchemikalien, etwa Kalidünger – darin sind die Russen weltweit führend. Airbus kauft zum Beispiel sehr viel Titan. Was praktisch fehlt, sind verarbeitete Produkte mit richtig tiefer Wertschöpfung. Dafür ist das Land bei IT-Dienstleistungen ganz vorne dabei, und auch die Rüstung müssen wir nennen – zweitgrößter Exporteur weltweit, mit steigendem Wachstum und wachsender Nachfrage. Auch die Luft- und Raumfahrt entwickeln sich ganz erfreulich.

IP: Aber so ein unverwechselbares russisches Produkt, das gibt es zurzeit nicht?
Harms: Zurzeit nicht, aber ich würde es nicht grundsätzlich ausschließen, dass sich das in Zukunft ändert. Die Russen haben hervorragende Mathematiker, Naturwissenschaftler und Ingenieure. Theoretisch kann man da einiges auf die Beine stellen, aber das muss in internationaler Arbeitsteilung geschehen. Ideal wäre eine Kombination von Grundlagenforschung, Ingenieurs-Know-how und IT mit westlicher, eher angewandter Produktionstechnologie.

IP: Viele der begabten Mathematiker, von denen Sie sprechen, sind ja mittlerweile im Silicon Valley oder anderswo im Westen gelandet, weil sie in Putins Autokratie keine Zukunft für sich sehen.
Harms: Natürlich sind freies Unternehmertum, freier Wettbewerb und das Fehlen von Korruption wichtige Erfolgsfaktoren, um Mittelständler und Wissenschaftler im Land zu halten. Idealerweise müsste dann noch eine Unterstützung der Finanzierung und des Exports dazukommen – allerdings ohne dass sich der Staat über Gebühr einmischt. Aber das sind alles Probleme, die auch Brasilien und andere Schwellenländer haben.

IP: Gibt es aus Ihrer Sicht ein Putin-Wirtschaftsprogramm für die kommenden fünf Jahre? Oder steht da nur ein großes Fragezeichen?
Harms: Bislang eher ein Fragezeichen. Nach seiner Wahl 2012 hatte Putin in mehreren Zeitungsartikeln ein ausgesprochen liberales Wirtschaftsprogramm vorgestellt; umgesetzt worden ist es aber nur zum Teil. Ersten Einschätzungen zufolge soll das kommende Wirtschaftsprogramm einen sehr stark sozialpolitischen Touch haben; man legt hier offenbar große Aufmerksamkeit auf ­Armutsbekämpfung, auf Bildung, auf das Gesundheitswesen. Das sind alles absolut richtige Ansätze. Die Frage ist nur, wie weit das Programm zur Wachstumsförderung beiträgt.

IP: Wir haben viel über die Defizite der russischen Wirtschaft gesprochen, vielleicht schauen wir jetzt noch einmal stärker auf die Potenziale. Wie könnte langfristig ein Modell für Russlands Ökonomie aussehen?
Harms: Die Potenziale sind natürlich gewaltig. Es ist immer schwierig, am grünen Tisch Wirtschaftsmodelle zu entwerfen. Aber ich glaube schon, dass man mit der Kombination aus diesem unglaublichen Rohstoffreichtum und der enormen Größe des Landes ein Modell schaffen könnte – Förderung, Verarbeitung und Export von Rohstoffen plus Agrarindustrie plus Logistik, Transit und Infrastruktur. Dazu einige Hochtechnologien wie IT, wo man an die Traditionen anknüpft – so ungefähr könnte das Modell aussehen, das Russland einen sehr, sehr guten Platz in der weltweiten Arbeitsteilung sichern dürfte.

IP: Halten Sie die Eurasische Wirtschaftsunion für zukunftsfähig oder ist das eher ein politisch motiviertes Konzept, mit anderen Worten: Geht es letztlich darum, das sowjetische Imperium mit anderen Mitteln wiederherzustellen?
Harms: Wir halten die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) für ein sehr gutes Konzept und würden für einen intensiven Austausch zwischen EU und EAWU plädieren. Wenn man jetzt keinen politischen Dialog will, sollte man ihn zumindest im wirtschaftlichen Bereich führen, zum Beispiel über Zollabbau und Annäherungen bei den technischen Regulierungen. Dazu sollte man den Versuch wagen, gemeinsame strategische Projekte zu starten, Stichwort Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok, was ja sogar im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht. Bislang allerdings funktioniert es auch innerhalb der EAWU nicht optimal. Russland hat natürlich ein Übergewicht, steht praktisch für über 80 Prozent der Wirtschaftsleistung in der EAWU und agiert auch gerne einmal unilateral. Jetzt fällt in Russland der Milchpreis und die russische Milchlobby sagt, daran sind die Weißrussen schuld, die importierte Ware aus Europa einfach illegal weiterleiten oder schlechte Qualität liefern. Mit der Folge, dass man den Milchimport aus Weißrussland sperrt, was man eigentlich innerhalb der Zollunion gar nicht machen dürfte. Also, so richtig rund läuft es nicht.

IP: Welche Partner bleiben Russland ansonsten? China?
Harms: Natürlich, China ist der größte Handelspartner Russlands, aber die Handelsumsätze mit dem Reich der Mitte sind nach 2014 ähnlich zurückgegangen wie die mit Westeuropa. Wenn man offen mit den russischen Gesprächspartnern redet, dann hört man, dass diese nicht besonders zufrieden mit den Wirtschaftsbeziehungen zu China sind. Man hat sich da viel mehr erhofft. Die Chinesen sind sehr interessiert am russischen Markt, aber die sind natürlich viel weniger gewillt als die Europäer, Technologietransfer, Lokalisierung oder Wertschöpfung in Russland zu betreiben. Sie kommen im Zweifel mit einer unschlagbar günstigen Finanzierung, aber eben auch mit den eigenen Leuten, den eigenen Technologien, und sie sind dann nicht besonders daran interessiert, gemeinsame Projekte zu betreiben. Da sind die deutschen Firmen schon etwas anders aufgestellt. Es ist bei weitem nicht so, dass China Europa da komplett abgelöst hätte.

IP: Was den Handel zwischen Europa und Russland ja durchaus gewollt beeinträchtigt, sind die Sanktionen, die von amerikanischer Seite kürzlich noch verschärft worden sind. Sie haben gesagt, die Sanktionen von EU-Seite mit einer gewissen Routine alle sechs Monate zu verlängern, das sei zu wenig, man bräuchte eine größere Dynamik in den Verhandlungen. Geht das in die Richtung der Position des Ex-Außenministers Sigmar Gabriel: schrittweise Lockerung der Sanktionen gegen schrittweise Fortschritte bei der Umsetzung des Minsker Abkommens?
Harms: Ja. Wir haben diese Position immer für richtig gehalten – ähnlich hat sich ja auch schon Frank-Walter Steinmeier als Außenminister geäußert. Das Problem ist ja nicht nur, dass es in den Minsker Verhandlungen bestenfalls marginale Fortschritte gibt. Mittlerweile ist der Minsker Prozess auch noch überlagert von vielen anderen Differenzen, die wir mit Russland haben. Man kann nicht sagen, dass die Sanktionen ein Umdenken in Russland bewirkt hätten. Und darum müssen wir das Gesamtkonzept nochmal überdenken. Wir halten den Ansatz, dass erst Russland Minsk umsetzen muss und es erst danach einen Abbau der Sanktionen geben kann, für falsch. Wir sollten hier Schritt für Schritt vorgehen und Russland einen stärkeren Anreiz bieten, sich zu bewegen.

IP: Was erwarten Sie von der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland?
Harms: Wirtschaftlich ist es ein Minusgeschäft, das brauche ich Ihnen aber nicht zu erzählen. Deutschland konnte sich das noch einigermaßen leisten, weil die Stadien anschließend nicht leer standen und einigermaßen wirtschaftlich betrieben werden. Das ist in Russland kaum möglich. Wenn Sie in Kaliningrad, das keine Erstligamannschaft hat, ein Stadion für 40 000 Leute bauen, dann kann das nur ein Minusgeschäft sein. Aber für das Image Russlands wird das Turnier nützlich sein, die Organisation wird perfekt sein, und unterm Strich wird es sich ausgesprochen positiv für Russland auswirken.

IP: Wo sehen Sie die russische Wirtschaft im Jahre 2050?
Harms: Grundsätzlich bin ich optimistisch. Außer der Demografie, die eine alternde, schrumpfende Bevölkerung zeigt, sind die Fundamentaldaten eigentlich vielversprechend. Damit meine ich nicht nur den Rohstoffreichtum oder die Größe, sondern auch Faktoren wie Bildung – ein ausgezeichnetes Bildungssystem und eine bildungshungrige Bevölkerung. Viele Institute prognostizieren, dass Russland 2050 Deutschland wirtschaftlich überholt haben wird, als dann viert- oder fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Nach Kaufkraftparität ist Russland jetzt schon die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Langfristig könnte Russland so eine Art kaltes Australien werden.

IP: Mit einer weniger gelenkten Demokratie?
Harms: Ja, warum nicht?

Das Interview führten Henning Hoff und Joachim Staron.

Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 2, Juli - Oktober 2018, S. 12 - 19

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