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04. März 2019

Jenseits von Bullerbü

Skandinavien, das ewige Vorbild? Schon Shakespeare wusste, dass „etwas faul“ ist im Staate Dänemark. Und nicht nur dort: Fast überall im Norden sitzen Rechtspopulisten in den Parlamenten. Soziale Ungleichheit, Privatverschuldung, Jugendarbeitslosigkeit und verfehlte Integrationspolitik belasten die Volkswirtschaften zusätzlich. Eine Minikrisen-Bilanz.

Der hohe Norden Europas übt seit Jahren eine enorme Faszination aus. Auf Urlauber, die hier ihre Ruhe suchen, auf Fernsehzuschauer, die Ablenkung in den oft düsteren skandinavischen Krimis finden, und auf Politiker, die in den Ländern der Mitternachtssonne politische, wirtschaftliche und soziale Modelle studieren wollen. Ob Umwelt-, Bildungs- oder Sozialpolitik – immer wieder muss der hohe Norden als Modell, als Vorbild herhalten. Aber stimmt das überhaupt? Können die nordischen Länder tatsächlich eine Orientierungshilfe leisten, wenn es darum geht, einen stabilen Sozialstaat gegen negative äußere Einflüsse zu verteidigen?

Tatsache ist, dass sich Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden in den vergangenen Jahrzehnten trotz einiger Krisen recht gut geschlagen haben. Im Global Competitiveness Index des World Economic Forum von 2018 belegt Schweden den neunten Platz, gefolgt von Dänemark und Finnland auf den Plätzen zehn und elf. Norwegen kommt auf Platz 16 und Island auf Rang 24. Und im Geschäftsklima-Index der Weltbank schnitt man noch besser ab: Dänemark liegt auf Platz drei, gefolgt von Norwegen (7), Schweden (12) und Finnland (17). Selbst das kleine Island liegt auf dem 21. Platz und damit vor Deutschland (24).

Unternehmen wie Carlsberg, Ikea, H&M, Mærsk, Nokia und Volvo haben den Norden weltweit bekannt gemacht. Doch lässt sich die Erfolgsgeschichte dieser Konzerne auch auf die jeweiligen Länder übertragen?

Ein gespaltenes Land

Beginnen wir unsere Reise durch den Norden in Dänemark. Seit Jahren wird das kleine Königreich von Minderheitsregierungen geführt. Wirtschaftlich geht es dem Land gut, es hat eine Immobilienkrise abgeschmettert und kam auch relativ unbeschadet durch die Finanzturbulenzen von vor zehn Jahren. Kein Wunder, dass die Dänen in diversen Untersuchungen immer wieder als eines der glücklichsten Völker angesehen werden. Doch das Bild der gemütlichen Dänen ist verzerrt. Es ist nicht alles „Hygge“.

Denn vergessen wird, dass Dänemark ein gespaltenes Land ist. Ein Land, das einerseits durch fortschrittliche Grundeinstellungen wie die Befürwortung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder den liberalen Umgang mit Drogen geprägt ist, auf der anderen Seite aber immer wieder ausländerfeindliche Tendenzen an den Tag legt. Die Regierungen der vergangenen Jahre werden dabei stets von der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei vor sich her getrieben. Diese Partei, die bei den Parlamentswahlen 2015 knapp jede fünfte Stimme auf sich vereinen konnte, ist für die äußerst restriktive Einwanderungspolitik des Landes verantwortlich. Zuletzt machte die Mitte-Rechts-Koalition von Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen mit dem Plan von sich reden, Flüchtlinge, die kriminell geworden sind und deren Asylantrag abgelehnt wurde, bis zu ihrer Abschiebung auf die kleine Insel Lindholmen zu verbannen.

Die dänische Wirtschaft ist von solchen Plänen weniger begeistert. Das Land benötigt qualifizierte Arbeitskräfte und ist somit auf den Zuzug von ausländischen Arbeitnehmern angewiesen. „Die ausländischen Mitarbeiter sind sowohl ein Gewinn für unsere Unternehmen als auch für die Gesellschaft im Allgemeinen“, erklärte der Verband der dänischen Wirtschaft Dansk Industri kürzlich. Bis spätestens Juni wird in Dänemark ein neues Parlament gewählt. Meinungsumfragen sagen einen Regierungswechsel voraus. Ob aber eine von Sozialdemokraten geführte Regierung tatsächlich eine andere Politik betreiben wird, ist angesichts der weiterhin starken Dänischen Volkspartei zweifelhaft.

Rechtspopulisten und Rechtsextreme haben im hohen Norden deutlich früher als in anderen Ländern Einzug in die Parlamente gehalten. Die Schwedendemokraten kamen bereits 2010 in den Reichstag. Bei den Wahlen im vergangenen September machte fast jeder fünfte Schwede ein Kreuz bei dieser aus der Neonazi-Szene entstandenen Partei. Sie will die Zuwanderung radikal begrenzen – und das, obwohl die ­Wirtschaft ­händeringend nach Arbeitskräften sucht. Der Erfolg der Schwedendemokraten hat dazu geführt, dass es nach den Parlamentswahlen im Herbst vier Monate dauerte, bis eine Regierung gebildet werden konnte. Denn die Partei wurde mit 17,5 Prozent der Stimmen zum entscheidenden Faktor. Das Problem: Keiner der Blöcke wollte mit ihr zusammenarbeiten. Mittlerweile haben sich die Liberalen und die Zentrumspartei aus der bürgerlichen Allianz verabschiedet und unterstützen seit Mitte Januar eine rot-grüne Minderheitsregierung unter dem Sozialdemokraten und bisherigen Regierungschef Stefan Löfvén, ohne dessen Regierung anzugehören.

Explosive Mischung

Eigentlich haben die Schweden wenig Gründe, um einer rechten Partei, die ausgesprochen EU-kritisch und ausländerfeindlich ist, auf den Leim zu gehen. Denn wirtschaftlich läuft es bislang gut. Die stark exportorientierte Industrie hat volle Auftragsbücher, und die einst so hohe Jugendarbeitslosigkeit ist auch wieder gesunken. Möglich macht es die unabhängige Geldpolitik der Zentralbank. Schweden ist zwar Mitglied der EU, gehört aber nicht dem Euro-Raum an. Damit kann die Zentralbank eine eigenständige, an die jeweilige Situation angepasste Geldpolitik betreiben. Allerdings hat diese dazu geführt, dass die Kreditzinsen derzeit extrem niedrig sind. Mit der Folge, dass in kaum einem anderen Land in Europa die private Haushaltsverschuldung so hoch ist wie in Schweden. Insgesamt haben die zehn Millionen Einwohner Schwedens mehr als 360 Milliarden Euro Schulden. Damit führt das Land vor Dänemark und Norwegen die europäische Schuldenliga an – zumindest in absoluten Zahlen. Gefährlich ist die Situation insbesondere für die Banken. Denn seit einiger Zeit sinken die Immobilienpreise, nach einer jahrzehntelangen Aufwärtsfahrt. 

Hinzu kommt, dass laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Einkommensschere in Schweden so schnell auseinandergegangen ist wie in keinem anderen OECD-Land. Die soziale Ungleichheit sorgt in einem Land, das sich die Egalität auf die Fahnen geschrieben hat, für eine explosive Mischung, die sich die Populisten zunutze machen.

Und dann sind da noch Pflege und Bildung, zwei Themen, die seit Jahrzehnten die Wahlkämpfe in Schweden beherrschen. In den Krankenhäusern liegen die Patienten auf Korridoren und warten monatelang auf eine Operation. In den Schulen herrscht akuter Lehrermangel, fallen Stunden aus, werden viele Seiteneinsteiger ohne adäquate Ausbildung eingestellt. Das Bild des idyllischen Bullerbü aus der Welt von Astrid Lindgren wird gern von PR-Strategen des schwedischen Fremdenverkehrsamts herangezogen – mit der Wirklichkeit hat es schon lange nichts mehr zu tun. 

Ein weiterer Mythos: Schweden sei ein sehr friedvolles Land. In Wahrheit zählen die Mordraten in einzelnen schwedischen Städten wie Malmö und ­Göteborg, gemessen an der Bevölkerungszahl, zu den höchsten in Europa. Eine verfehlte Integrationspolitik hat zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen geführt. Und: Es gibt kein anderes westeuropäisches Land, in dem in den vergangenen Jahrzehnten gleich zwei Spitzenpolitiker ermordet wurden, Ministerpräsident Olof Palme (1986) und Außenministerin Anna Lindh (2003). 

Wenn es um Bildung geht, steht Finnland immer wieder im Fokus. Das Land belegt in den Pisa-Studien stets einen Spitzenplatz. Doch sonst? Nokia hat seinen alten Glanz schon längst verloren. Der einstige Vorzeigekonzern war zu seinen besten Zeiten mehr als doppelt so viel wert wie Siemens und Daimler zusammen. Der Konzern existiert noch; er ist auch mit Netzwerkausrüstung erfolgreich, doch im Rampenlicht steht er nicht mehr. Zudem ist Russland als einer der wichtigsten Handelspartner wegen der europäischen Sanktionspolitik als Abnehmer weggefallen. Immerhin konnte sich das Land mit seiner Werften-, Elektronik- und Papierindustrie nach der Finanzkrise wieder berappeln.

Politisch sieht es weniger stabil aus. Im April wird ein neues Parlament gewählt. Wie in Dänemark, Schweden und Norwegen sitzen auch in Helsinki Rechtspopulisten im Parlament. Zuletzt erhielt die Partei „Die Finnen“ fast 18 Prozent der Stimmen. Nachdem die bürgerliche Regierung von Premier Juha Sipilä sie in die Koalition mit aufgenommen hat, sind ihre Popularitätswerte auf rund die Hälfte gesunken – auch weil sich die Partei gespalten hat: in einen noch extremeren Teil, der den Austritt aus der EU propagiert, und in die neue Gruppierung „Blaue Zukunft“ von Außenminister Timo Soini. 

Rechtspopulisten regieren auch in Norwegen mit. Die Fortschrittspartei ist Juniorpartner der Mitte-Rechts-Koalition von Ministerpräsidentin Erna Solberg und stellt mit Siv Jensen sogar die Finanzministerin. Bislang bestand ihre Hauptaufgabe darin, den Landsleuten klarzumachen, dass sich die goldenen Zeiten mit scheinbar ewig sprudelnden Ölquellen dem Ende zuneigen. Seit Jahren treibt die Regierung die Diversifizierung der Wirtschaft voran. Heute werden besonders Fischerei- und IT-Industrie gefördert.

Wie Schweden kämpft auch Norwegen mit der privaten Verschuldung. Mittlerweile gelten Verschuldungsobergrenzen und verschärfte Anforderungen in Sachen Eigenkapital. Und was das Thema Umweltschutz betrifft, so rühmt sich das kleine Land zwar, Weltmeister der Elektromobilität zu sein, ist aber immer noch einer der größten Öl- und Gasexporteure der Welt. Im eigenen Land dürfen keine Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. Stattdessen exportiert man die Schadstoffemissionen in andere Teile der Welt.

Bleibt noch Island, die sagenumwobene Inselgruppe im Nordatlantik. Die knapp 341 000 Einwohner sorgen immer wieder für Aufsehen. Trotz (nicht selbstverschuldeter) Vulkanausbrüche oder (höchst selbstverschuldeter) Korruptionsskandale und undurchsichtiger Finanztransaktionen rappelt sich das Land immer wieder auf. Die Finanzkrise von vor zehn Jahren ist überwunden, der Tourismus boomt, die Fischerei-Industrie hat sich erholt. Was bleibt, ist die Vetternwirtschaft, das Einfallstor für Korruption. Die Isländer, so scheint’s, haben sich daran gewöhnt. Besser wird es dadurch aber nicht.

Helmut Steuer ist Nordeuropa-Korrespondent des Handelsblatts mit Sitz in Stockholm.

Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 01, März - Juni 2019, S. 24-27

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