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01. Juli 2015

„Das ist eine Bombe“

Scheitert China? Sebastian Heilmann und Eberhard Sandschneider im Gespräch

Mit einer aufstiegsorientierten Bevölkerung, selbstbewussten Unternehmern und einer krisenerprobten Regierungspartei scheint China prädestiniert dafür, sich immer wieder neu zu erfinden. Doch eine explosive Mischung aus Verschuldung, Überalterung und Sozialstaatsversprechungen bedroht den gesellschaftlichen Frieden – und damit die Zukunft des Modells China.

Internationale Politik: Herr Heilmann, Herr Sandschneider, China ist am sprichwörtlichen Scheideweg angekommen. Das Wachstumsmodell muss grundlegend umgebaut werden, um eine Wirtschaft, die in großen Teilen noch über staatliche Investitionen funktioniert, in eine innovationsbasierte Wirtschaft umzuwandeln. Was macht Sie optimistisch, dass dieser Wandel gelingt?

Eberhard Sandschneider: Ich glaube, Optimismus ist der falsche Zugang. Wir brauchen einen realistischen Blick. Dass ein Land dieser Größe, das sich wirtschaftlich derart rasant entwickelt, einen permanenten Anpassungsbedarf hat, versteht sich von selbst. Wie grundlegend das sein muss, das hängt dann von der jeweiligen Perspektive ab. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch in China kein Einverständnis darüber gibt, wie grundlegend das geschehen muss, aber man muss aufpassen, dass man nicht die typischen, manchmal etwas überheblichen westlichen Erwartungen an das Land heranträgt.

Sebastian Heilmann: „Daumen hoch, Daumen runter“ – das funktioniert tatsächlich nicht. Was aber derzeit für eine gewisse Zuspitzung sorgt, das ist der Kurs von Partei- und Staatschef Xi Jinping. Der erklärt, anders als seine Vorgänger, unmissverständlich, die Kommunistische Partei werde China durch das 21. Jahrhundert führen. Die Idee einer Transition, eines Wandels, der sich auch westlicher Vorbilder bedient: Das ist vom Tisch. Damit einher geht eine Verhärtung im Inneren: verschärfte Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen in den Medien, im Bildungssystem, beim Austausch mit dem Ausland, bei den NGOs. Wenn das Reformprogramm von Xi Jinping jetzt scheitert, wenn es nicht gelingt, die Kommunistische Partei zum leistungsfähigen Kern eines modernen Staates zu machen, dann wird es gefährlich, dann bleibt nur noch der Kollaps.

Sandschneider: Das haben Sie „Schubumkehr“ genannt, und das halte ich, salopp gesagt, für falsch. Solche Verhärtungsphasen hat es in den vergangenen 30 Jahren immer wieder gegeben. Zum Beispiel Anfang der achtziger Jahre – die berühmte Kampagne gegen die „Verschmutzung des geistigen Denkens“. Ich glaube auch nicht, dass es neu ist, dass Xi Jinping auf die Kommunistische Partei setzt, das haben seine Vorgänger auch getan.

Heilmann: Natürlich.

Sandschneider: Ich glaube, Xi Jinping hat ein anderes Problem: Er hat eine gewaltige Problemlast übernommen, und zwar als Konsequenz des Erfolgs der Kommunistischen Partei in den vergangenen 30 Jahren. Das ist das chinesische Paradoxon: Die Entwicklung war beeindruckend, aber sie hat auch beeindruckende Probleme geschaffen, und die müssen jetzt gemanagt werden. Das tut Xi Jinping zum Teil mit Härte, aber härter, als die Partei seinerzeit etwa gegen die religiöse Falun-Gong-Bewegung vorgegangen ist, geht er nicht vor.

Heilmann: Ich bleibe dabei: Es gibt da ein ganz neues Element, und das wird im Westen gern übersehen. Der wichtigste Punkt im Reformprogramm von 2013, das von vielen ausschließlich ökonomisch gelesen wird, ist die Disziplinierung, die Erneuerung der Partei. Und was die Einschätzung westlicher Einflüsse angeht – da sind die Urteile mittlerweile weitaus härter. Nicht nur die westlichen Bildungsinstitutionen, auch die Einrichtungen, die den akademischen Austausch fördern, und natürlich die NGOs, die in China tätig sind: Alle werden als potenziell feindliche Kräfte definiert. Im Grunde geht es darum, den westlichen Einfluss, der noch unter Deng Xiaoping und Jiang Zemin durchaus willkommen war, komplett abzublocken. Das ist in dieser Schärfe etwas Neues – und das ist eine Umkehr. „Schubumkehr“ heißt: Es gibt eine Verhärtung nach innen, aber auf der anderen Seite ist man, und das ist das Bemerkenswerte, außenpolitisch und außenwirtschaftlich sehr aktiv.

Sandschneider: Ich vermag das wirklich nicht als „Schubumkehr“ zu lesen, weil ich nicht sehe, was daran neu ist. Aber wenn wir schon mal bei der Außenwirtschaft sind, da lohnt sich ein Vergleich: Die chinesische Strategie ist investmentgetrieben, ein markanter Unterschied etwa zu den USA, die immer noch geomilitärisch und geostrategisch ausgerichtet sind. Russland denkt in Einflusszonen, Europa denkt in Kooperationen, China denkt in Investitionen. Es ist hochinteressant, den chinesischen Weg zu beobachten.

Heilmann: Chinas wirtschaftliche, finanzielle und diplomatische Engagements werden integriert, nicht getrennt betrieben.

Sandschneider: Genau, sie werden integriert betrieben, und das gilt sowohl für Afrika als auch für Zentralasien. Die Chinesen kommen zuerst mit Investitionen in Infrastruktur und bauen dann darauf ihr politisches Kooperationsnetzwerk auf. Alle anderen großen Mächte machen das anders. Ein spannendes Experiment. Vermutlich wird China erfolgreicher sein als die USA, Europa und vor allem Russland.

Heilmann: Es sei denn, man überdehnt sich. Das scheint mir derzeit die Gefahr zu sein. Schon jetzt hat China Dutzende von Milliarden Dollar in verschiedene Projekte versenkt, in Venezuela, in Simbabwe. Selbst ein Prestigeprojekt wie die Seidenstraßen-Initiative steht im eigenen Land massiv in der Kritik, weil Zuständigkeiten und Ziele nicht so recht geklärt sind, geschweige denn, dass man sich ernsthaft mit den Vorbehalten und Widerständen in den Gesellschaften entlang dieser Seidenstraße auseinandergesetzt hätte.

IP: Inwieweit kompensiert man mit dieser außenpolitischen Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik die Tatsache, dass innerhalb des eigenen Landes manches ökonomisch noch nicht so richtig läuft?

Sandschneider: Das außenpolitische Ventil für innenpolitische Probleme? Schwer zu sagen. Ich glaube aber nicht, dass die Kommunistische Partei so leichtsinnig ist, sich darauf zu verlassen, dass sie nach außen Druck ablassen kann, wenn sie die Dinge intern nicht auf die Reihe bekommt. Die Außenpolitik ist meiner Auffassung nach eine logische Konsequenz aus der wirtschaftlichen Erstarkung über die vergangenen 30 Jahre – das würde man bei jedem anderen Land der Welt dieser Größe genauso beobachten.

IP: Wie müsste die Regierung die innenpolitischen Probleme denn angehen?

Sandschneider: Darüber kann man lange spekulieren. Die Ankurbelung des Konsums etwa, das ist eine leicht zu erhebende politische Forderung. Aber wenn man sich anschaut, dass in Teilen Chinas die Sparquote der Bevölkerung immer noch zwischen 30 und 40 Prozent liegt, dann hat das sehr viel mit sozialen Unsicherheiten zu tun. Und in einem Land mit fast 1,4 Milliarden Menschen mal eben ein belastbares und verlässliches soziales Netz aufzubauen – das ist nicht so ganz einfach. Selbst für China nicht. Und solange man auf die Großmutter aufpassen muss, wenn sie ins Krankenhaus geht, und bar bezahlen muss, solange ist man vorsichtig, sein Geld in den Konsum zu stecken …

Heilmann: Das ist übrigens einer der wichtigsten Punkte, der aber viel zu wenig wahrgenommen wird: Man redet über Schulden, über nachlassendes Wachstum, über wachsende Verpflichtungen. Jetzt dagegen ist die wichtigste Herausforderung, ein vernünftiges soziales Sicherungssystem aufzubauen.

Sandschneider: Da haben Sie recht.

Heilmann: Wenn wir uns die, vorsichtig formuliert, ungünstige demografische Entwicklung ansehen und den unglaublichen Schuldenberg – wir sprechen da von rund 250 bis 280 Prozent private und öffentliche Verschuldung – dann wird das nicht nur teuer, man fragt sich auch, wovon man das bezahlen will. Ich fürchte, die chinesische Regierung hat die Kosten ihrer Wohlfahrts- und Sozialstaatsversorgung überhaupt nicht im Griff und auch nicht im Blick. Das heißt, ihr wird an der Stelle die fiskalische Leistungsfähigkeit abhanden kommen.

Sandschneider: Und das führt zu einer Form der Unzufriedenheit, die sich auch außenpolitisch nicht mehr kompensieren lässt.

IP: Demografisch versucht die Regierung ja schon gegenzusteuern, etwa mit der Zwei-Kind-Politik. Aber die wird kaum angenommen. Warum eigentlich nicht?

Heilmann: Dass sich die Kinderzahl innerhalb von einer Generation reduziert, das kennen wir aus vielen ostasiatischen Ländern, aus Taiwan, aus Südkorea, aus Japan. Da reagiert man schnell auf eine veränderte wirtschaftliche Lage. Viele der Chinesen, die man eigentlich ermuntern möchte, mehr Kinder zu bekommen, wollen überhaupt keine Kinder mehr, weil sie zur städtischen Elite gehören und Kinder nicht zu ihrem Lebensstil passen.

Sandschneider: Immer mehr Chinesen kaufen sich Drei-Zimmer-Wohnungen. Wer hat denn früher in China Drei-Zimmer-Wohnungen gehabt? Da wurde in großem Maßstab eine klassische Kernfamilien-Wohnsituation geschaffen. Man darf auch nicht vergessen, dass da eine Generation in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit aus der Kulturrevolution ins 21. Jahrhundert katapultiert worden ist.

Heilmann: … mit Einkommenszuwächsen von mindestens 10 Prozent netto pro Jahr, über mehrere Jahrzehnte. Das ist natürlich psychologisch eine extrem ungünstige Ausgangslage für eine Veränderung der Erwartungshaltung. Wir haben also eine hohe und seit 2008 extrem gestiegene Gesamtverschuldung, eine gefährliche demografische Entwicklung und die Sozialstaatsversprechen. Und das alles vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, deren Erwartungen an den Staat ohnehin ausgesprochen hoch sind. Das ist eine Bombe!

Sandschneider: Das ist eine Atombombe! Bislang ist keine der Protestaktionen in die Masse der Bevölkerung gedrungen, auch die 89er Studentenbewegung nicht. Aber wehe, es kommt zu dem, was ich den „Bouazizi-Effekt“ nennen würde, nach dem tunesischen Gemüsehändler, dessen Selbstverbrennung den Arabischen Frühling ausgelöst hat. In China gibt es jedes Jahr zwischen 130 000 und 180 000 solcher namenloser Protestler – nach offizieller Zählung. Und auch wenn die chinesische Regierung in den vergangenen 30 Jahren keinen nennenswerten Fehler in dieser Hinsicht gemacht hat, dann heißt das nicht, dass sie nicht morgen einen machen könnte.

Heilmann: Wir haben seit 1978 die Möglichkeiten der Kommunistischen Partei zur Problemlösung und zur Überwindung von Reformblockaden systematisch unterschätzt. In der Parteizentrale sitzen exzellente, erfahrene, international ausgebildete Leute. Die antizipieren hervorragend, die wissen, was möglich ist.

Sandschneider: Die kennen uns besser als wir die. Wir machen uns ja gar nicht die Mühe, da überhaupt noch hinzuschauen.

Heilmann: Völlig richtig. Wogegen in China klar ist, dass man an jeden Politikvorschlag drei vergleichende Kapitel dranhängen muss, wie es die anderen machen. Aber was jetzt neu ist: Wenn es um Problemlösungen geht, hat man in China jahrzehntelang mit dezentralen Lösungen experimentiert – die Sonderwirtschaftszonen sind nur die bekannteste Variante davon. Erst später, wenn es funktioniert hat, hat man das auch als nationale Regelung übernommen. Das war eine gigantische Innovationsmaschine. Denn dieses Land ist sehr vielfältig, die Chinesen sind enorm produktiv und erfindungsreich – da kamen massenweise Lösungen für Probleme heraus, die die nationale Regierung gar nicht auf dem Schirm hatte. Jetzt aber reden Xi Jinping und seine Leute einer „Gestaltung von der Spitze“ das Wort. Das heißt, wir haben eine Situation erreicht, in der wir mit Experimenten nicht mehr weiterkommen, denn jetzt geht es um Strukturfragen. Und die müssen von der Zentrale her geregelt werden.

Sandschneider: Die Lösung ist immer von oben gekommen. Die Experimente haben auf der lokalen Ebene stattgefunden, aber ihre Durchsetzung war stets eine Sache der Zentrale.

IP: Eine gewisse Durchlässigkeit war also immer da. Wird das jetzt anders?

Heilmann: Ich fürchte, ja. Vor allem die Anpassungsfähigkeit war stets die Stärke Chinas. Die Osteuropäer sind daran gescheitert, dass sie zubetoniert waren als politische Systeme, als Wirtschaftssysteme. Das chinesische System aber hat sich seit 1979 als hochelastisch erwiesen. In den Sonderwirtschaftszonen hat man sogar den Handel mit Bodennutzungsrechten zugelassen, was gegen die Verfassung und die damalige Ideologie verstieß. Und derzeit habe ich den Eindruck, dass einiges, was da passiert, der Logik dieser erfolgreichen Reformpolitik und der gesellschaftlichen Dynamik zuwiderläuft. Auf einmal bekommen wir jetzt Meldungen, wonach die lokalen Parteikader einfach nichts mehr unternehmen. Die haben Angst vor der Korruptionskampagne, Angst davor, Fehler zu machen, und sie sind auch überlastet, weil Genehmigungsverfahren und andere Dinge dezentralisiert worden sind.

Sandschneider: Das ist doch alles nichts Neues. Schon in den achtziger Jahren ist die Parteiführung auf Tauchstation gegangen, wenn sie unsicher war, ob eine Kampagne einschlagen würde. Selbst der Umgang mit zentraler Politik ist letztendlich nichts Neues.

Heilmann: Doch, das ist völlig neu. Das Experimentelle, die dezentrale Initiative, die China seit 1978 angetrieben und die Anpassungsfähigkeit des Systems ausgemacht hat, das geht verloren. Und das könnte die Dynamik des Landes mindern.

Sandschneider: Ich glaube, den Blick auf das, was vor Ort passiert, den gibt es immer noch. Wir haben noch immer Dutzende von Think-Tanks, die beobachten, was sich auf den lokalen Ebenen abspielt, und das dann nach oben melden. Dass es bei der Einräumung von Entscheidungsrechten auf lokaler Ebene zu Stockungen und Verwerfungen kommt, scheint mir nicht spezifisch chinesisch zu sein. Ansonsten habe ich nicht den Eindruck, dass sich von der grundsätzlichen Philosophie her besonders viel verändert hat. Außer dass die Geschwindigkeit, der das System ausgesetzt ist, deutlich angezogen hat und dass es von daher auch den Zugriff der Zentrale braucht.

Heilmann: Es gibt dafür einen Terminus, „komprimierte Entwicklung“: Viele Schritte, die wir über Jahrzehnte gemacht haben, muss China innerhalb weniger Jahre gehen: soziale Sicherung, Umweltprobleme …

Sandschneider: … und das für 1,4 Milliarden Menschen. Insofern muss man sagen, dass die Leistung dieser Regierung – auch wenn es eine kommunistische ist und Menschenrechte nicht so achtet, wie wir uns das vorstellen – bislang gigantisch ist, und ich wage zu bezweifeln, dass es viele andere Regimetypen gibt, die das ähnlich können. Das heißt leider nicht, dass wir uns darauf verlassen können, dass es die kommenden 30 Jahre so weitergeht.

Heilmann: Auf manchen Politikfeldern haben wir eine Erfolgsgeschichte, die wirklich beeindruckend ist, etwa bei der Infrastrukturentwicklung. Auf anderen Feldern gibt es unglaubliche Defizite: bei der Machtkontrolle, bei der Rechtssicherheit. Ob man da jetzt den Begriff Menschenrechte nimmt oder nicht – letztlich geht es um ganz elementare Dinge: Werden die Mächtigen kontrolliert? Bekomme ich meine gesetzlich verbrieften Rechte vor Gericht? Und da würden auch die meisten Chinesen sagen: „Da sind wir defizitär.“

Sandschneider: Völlig richtig. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass man irgendeinem Chinesen erklären muss, dass die Herrschaft des Rechts wichtig ist: als Rahmen für eine funktionierende Wirtschaft, als Stabilisierungsprogramm für den Umgang mit der Gesellschaft. Aber in einem solchen Land ist das nicht von heute auf morgen zu schaffen. Das hat mit Bildung zu tun. Ein Bauer in Zentral- oder Westchina muss erst lernen, dass er ein Recht hat, das er auch einklagen kann. Und man muss die Leute ausbilden, die Recht sprechen. Wir reden hier von einem Land, das bis 1978 den Beruf des Rechtsanwalts gar nicht kannte. Diese Zeit muss man China schon geben.  

Heilmann: Wenn man einmal in die Parteiführung hineinhört, dann merkt man schnell: Die wissen alle, dass sie eine unglaubliche Verantwortung haben. Die wachen jeden Morgen mit einem Betonklotz auf ihrer Brust auf. Weil ihnen das alles jeden Moment um die Ohren fliegen kann. Und dann haben sie eine Parteiorganisation, die nicht mehr funktioniert – die an vielen Stellen zersetzt ist, wo die Leute auf eigene Rechnung arbeiten, die ein Selbstbedienungsladen geworden ist. Aber es kann natürlich auch gut gehen. Das Positivszenario aus Sicht der Partei wäre ein moderner Staat mit einer vertrauenswürdigen Partei, einer zuverlässigen Verwaltung und einem funktionierenden Rechtssystem. Und mit einer – das ist aus Sicht der Partei ganz wichtig – gezielten Nutzung des Cyberspace. Um die Öffentlichkeit zu lenken, um die Gesellschaft mitzunehmen.

IP: Die neuen Medien als Propaganda- und Steuerungsinstrument für 1,4 Milliarden Chinesen? Wird das funktionieren?

Heilmann: Die neuen großen IT-Unternehmen haben in mancherlei Hinsicht ein ähnliches Interesse wie der Staat: Die wollen Datenverfügbarkeit, die wollen die Bevölkerung „durchsichtig“ machen. Das kann zu einem Orwellschen Szenario führen, nämlich dazu, dass wir in China schon innerhalb der kommenden fünf bis zehn Jahre 1,4 Milliarden granulare, jeden Tag aktualisierte Datensätze haben. Das sind dann keine Massen mehr, sondern Individuen mit ihren Mobilitätsdaten, mit ihren Transaktionsdaten, mit ihrem Surfverhalten. Es gibt diese Vision in China, und viele haben große Angst davor.

Sandschneider: Ich fürchte in der Tat, dass es eine solche Form der Kontrolle ist, die dem Führungspersonal in Peking vorschwebt. Das ist eigentlich die erschreckende Variante, weil sie die politische Diskussion mit dem technologischen Wandel verbindet. Insofern müssen wir uns schon die Frage stellen, was wir von China nicht lernen wollen. Demokratien sind gegen diese Formen der totalitären Steuerung vielleicht doch ein bisschen besser geschützt.

Heilmann: Das ist das große Thema, das bei uns noch völlig vernachlässigt wird: das Bündnis zwischen Staat und Unternehmen mithilfe der neuen Technologien. Und die Bevölkerung macht bereitwillig mit und gibt ihre Daten heraus. Dass die chinesische Regierung das interessant findet, ist kein Wunder. Die IT-Branche ist der innovativste Teil der ganzen chinesischen Wirtschaft. Diese Unternehmer, die „Geeks“, sind die großen gesellschaftlichen Vorbilder. China hat ein unglaubliches unternehmerisches Potenzial. Allein im vergangenen Jahr hatten wir 50 Prozent mehr Neuregistrierungen von Privatunternehmen. Diese Unternehmer sind nicht nur erfolgreich, die haben auch ein enormes Sendungsbewusstsein. Sie wollen die Gesellschaft verändern. Und zwar zum Guten – durch Technologie. Die Frage ist natürlich: Werden sie sich nicht doch irgendwann von der Partei instrumentalisieren lassen?

IP: Die Partei versucht ja einiges, um die Unternehmer für sich einzuspannen.

Sandschneider: Natürlich. Nur: Das wird nicht funktionieren. Wahrscheinlicher scheint mir, dass sie sich weiter verselbständigen. Wenn wir das Phänomen aber einmal gesamtgesellschaftlich betrachten, dann stellt sich schon die Sinnfrage. Die jüngere Generation, die in den vergangenen 30 Jahren nur diesen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg miterlebt hat – wo sind ihre moralischen, politischen und persönlichen Fixpunkte? Das ist eine völlig offene Frage. Ich sehe wenige. Die kommunistische Ideologie ist es sicher nicht mehr. Eher schon der Nationalismus. Den muss man unbedingt einpreisen – ins gesamte System.

Heilmann: Das ist in der Tat eine große Leerstelle, und es wird in den sozialen Medien intensiv diskutiert. Wie „leer“ das alles sei – und wie moralisch verkommen. Die chinesische Gesellschaft entwickelt sich da in einer Weise, wie es auch die Partei nicht vorhersehen kann. Vor allem in Sachen Konsum und Lebensstil geht China in eine extrem pluralistische Richtung. Und vor allem: Es ist ein unglaubliches Tempo in der Gesellschaft, ein geradezu brutaler Wettbewerb. Da kommen wir kaum mit. Nur ein Beispiel: Deutsche Ingenieure haben ein System entwickelt, das den Zugang zur U-Bahn regelt. Das haben sie erfolgreich in die ganze Welt exportiert, und überall funktioniert es. Nur in Peking nicht. Denn das System basiert darauf, dass die Leute mindestens einen halben Meter Abstand halten. Und das in China, wo der Abstand zwischen den Menschen in der Regel gerade einmal 10 Zentimeter beträgt! Kein Wunder, dass die Technik ständig gestreikt hat. Die Menschen haben einfach zwischen den Schranken festgesteckt.

Das Gespräch wurde moderiert von der IP-Redaktion

Prof. Dr. Sebastian Heilmann ist Gründungsdirektor des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin.
Prof. Dr. Eberhard Sandschneider ist Otto Wolff-Direktor des Forschungs instituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
 

Bibliografische Angaben

IP Länderpoträt 2, Juli-Oktober 2015, S. 14-20

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