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25. Apr. 2019

„Optionen gibt es immer“

Ein Interview mit Timothy Snyder

Timothy Snyder über eine Politik der Ewigkeit, eine der Unvermeidbarkeit und warum wir in der Demokratie Spieler sind – nicht aber Schiedsrichter

IP: Herr Snyder, Sie blicken schon länger auf die Entwicklung der politischen Beziehungen zwischen Russland, der EU und den USA. Erleben wir gerade das Ende des Westens, wie wir ihn kennen?
Timothy Snyder: Das ist möglich, aber es liegt in unserer Hand. Wir haben uns zuletzt natürlich selbst einige Narrative aufgetischt, die uns schwächer und ignoranter gemacht haben. Zumindest haben wir es verpasst, die vergangenen 25 Jahre zu nutzen, um über die Geschichte des Westens nachzudenken. Und ohne Geschichte – das klingt banal, ist aber wahr – ohne Geschichte kann es keine Zukunft geben. Wenn der Westen also eine Zukunft haben soll, dann braucht er auch eine Vergangenheit, über die sich die Menschen, die im so genannten Westen leben, auf sinnvolle Art und Weise miteinander unterhalten können, um die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft einzuordnen.

IP: Stattdessen haben wir der Geschichte den Rücken gekehrt?
Snyder: Genau. Zum einen haben wir uns in einer Art ewigen Gegenwart eingerichtet. Und das hat andernorts, zum Beispiel in Russland, wiederum Tür und Tor für rechtspopulistische Politiker geöffnet, die haltlose Geschichten kultivieren, welche es für uns wiederum noch schwieriger machen, über die Zukunft nachzudenken. Zum anderen haben wir aber auch eine Reihe verheerender Fehler gemacht. Denn die EU ist ja noch immer die größte Wirtschaft der Welt, die wichtigste zusammenhängende Gemeinschaft demokratischer Staaten und darüber hinaus die einzige Institution, die bisher versucht hat, die meiner Meinung nach größten Probleme unseres Jahrhunderts anzugehen: die Monopolisierung, die Steueroasen, den Datenschutz und den Klimawandel. Die Dinge, um die es im 21. Jahrhundert wirklich geht, sind von der EU zwar noch nicht gelöst, aber zumindest angegangen worden.

IP: Was empfehlen Sie?
Snyder: Zuerst müssen wir über die Zukunft nachdenken – und damit wir das machen können, müssen wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen. Wir müssen lernen, die echten Herausforderungen von den Dingen zu unterscheiden, die uns gegenwärtig nervös machen. Und wir müssen die Institutionen bestimmen, die am besten für diese Herausforderungen gewappnet sind. Wenn man das so sieht, dann steht Europa gar nicht so schlecht da.

IP: Die so genannte Politik der Ewigkeit ist eines Ihrer wichtigsten Konzepte – und in Ihren Büchern geht es unter anderem auch um die Gefahr, die der Aufstieg des Autoritarismus für westliche Demokratien bedeutet. Machen Sie sich große Sorgen?
Snyder: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, nicht alles anhand einer klaren Unterteilung in „Ja“ und „Nein“ zu bewerten. Wir sollten uns davor hüten, immer nur in Gegensätzen zu denken, also hier zum Beispiel zu sagen: Es gab einmal die Demokratie und jetzt wird es eben den Autoritarismus geben. Genauso finde ich, dass man nicht ständig über Dinge wie rote Linien und unumkehrbare Momente reden sollte, jenseits derer es keine Hoffnung mehr gibt. Es gibt immer Hoffnung. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, dass wir uns nicht ständig als Beobachter sehen, so als ob wir Schiedsrichter wären und die Demokratie eine Art Fußballspiel. Wir sind nicht die Schiedsrichter, wir sind die Spieler. Das zu verstehen, ist fundamental. Wir dürfen nicht glauben, dass der Erfolg der Demokratie lediglich von objektiven Erwägungen abhängt. Der Moment, an dem wir das glauben, ist der Moment, an dem wir die Demokratie aufgeben. Denn die Demokratie ist abhängig vom Regierungswillen der Menschen.

IP: Wenn aber niemand regieren will und alle glauben, dass es nur um objektive Faktoren geht, dann gibt es keine Demokratie mehr.
Snyder: Wie wir selbst handeln, ist einer dieser Faktoren. Sie fragten ja auch nach der Politik der Ewigkeit. Mit dieser Idee will ich ausdrücken, dass Politik immer von einem Verständnis der Zeit abhängt; dass die moderne Politik der Rechtsstaatlichkeit, der Gesellschaftsverträge und der Demokratie von einem Zeitgefühl herrührt, das zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. Seit 1989 haben wir allerdings eher eine Politik der Unvermeidbarkeit erlebt. Wir sagten: Wir brauchen keine Geschichte, weil wir schon wissen, wie die Welt funktioniert. Wir wissen, dass der Kapitalismus die Demokratie bringt – oder so ähnlich. Wir müssen uns also nicht mit den ­Details ­beschäftigen. Wir brauchen nicht einmal ein Verständnis für die Zeitgeschichte, weil wir überzeugt sind, dass wir uns auf dem einzigen Pfad befinden.

IP: Viele glaubten, dass es zu diesem Weg keine Alternativen gäbe.
Snyder: Die Menschen, die diese Art des Denkens unterstützen, und auch ihre Gegner haben sich in dieser gefühlten Alternativlosigkeit eingerichtet. Genau das ist die Politik der Unvermeidbarkeit. Das Problem an der Politik der Unvermeidbarkeit ist allerdings, dass sie falsch ist. Es gibt immer Alternativen und wenn diese dann eintreten, sind sie meistens schlecht und wir sagen: „Oh Gott, jetzt gibt es doch Alternativen, aber alle sind schlecht.“ Das wiederum ist die Politik der Ewigkeit, die „Zukunftslosigkeit“, in der wir uns heutzutage bewegen. Wir begegnen ihr zum Beispiel, wenn Donald Trump sagt: „Let’s make America great again.“ Oder wenn europäische Populisten davon reden, eine Zeit zurückzubringen, in der alles gut war, weil es damals noch keine Einwanderer gab.

IP: Die Politik der Ewigkeit ist also der erfolgreiche Versuch, Menschen davon abzuhalten, über die eigentlichen Probleme unserer Zeit nachzudenken?
Snyder: Genau. Und sie nimmt Menschen den Glauben daran, dass es tatsächlich einen Handlungsspielraum gibt, um diesen Problemen zu begegnen. Dabei werden unsere eigentlichen Probleme durch Stellvertreterprobleme ersetzt, also durch vage Bedrohungen von außen, durch die Flüchtlingskrise oder durch andere Szenarien. Denken Sie nur an den Fall der Lisa F. in Deutschland, bei dem Russland den Deutschen weiszumachen versuchte, dass die eigentliche Gefahr unserer Zeit islamistische Vergewaltiger seien. Die Angst vor äußeren Bedrohungen, vor den anderen, vor Vergewaltigung und vor Gewalt ersetzt die eigentliche Politik. Darum geht es bei der Politik der Ewigkeit. Ich versuche in meiner Arbeit darzulegen, dass Zeit eine wichtige politische Komponente ist. Ich vergleiche die aktuellen autoritären Bewegungen allerdings nicht mit denen der Vergangenheit. Natürlich haben sie etwas mit dem Faschismus und den 1920er und 1930er Jahren zu tun, aber sie sind auch Kreaturen der Gegenwart und Kreaturen des Internets, welches die Politik der Ewigkeit ja dramatisch verstärkt, weil es die Vergangenheit und die Zukunft komplett ausblendet und auf gewisse Art und Weise alle in das Leben im ewigen Jetzt zwingt.

IP: Unternehmen die EU und insbesondere Deutschland genug, um dem russischen Angriff auf westliche Demokratien und Werte etwas entgegenzusetzen?
Snyder: Nein. In Deutschland gibt es dafür meiner Meinung nach eine Begründung, die in der Vergangenheit liegt und eine, die mit der Zukunft zu tun hat. Die erste Begründung ist, dass viele Deutsche – und insbesondere Teile der SPD – die bequeme Haltung einnehmen, dass Russland das Hauptopfer des Zweiten Weltkriegs war und die deutsche Russland-Politik deswegen milde und mitunter auch großzügig sein sollte. Dabei haben die Ukrainer und die Weißrussen, um gar nicht erst von den Juden zu reden und in Europa zu bleiben, viel mehr gelitten als die Russen. Für die war der Zweite Weltkrieg im Grunde ja auch ein Kolonialkrieg, in dem es um die Eroberung der ­Ukraine ging. Dieser Teil der Geschichte ist aber vollends aus dem deutschen Gedächtnis gelöscht. Die russische Außenpolitik macht sich das seit Jahren zunutze und versucht den Deutschen einzureden, dass die Ukrainer die Bösen und die Russen die Guten sind.

IP: Viele Deutsche blenden also Teile der Geschichte und Opfer des Zweiten Weltkriegs aus, weil es politisch bequemer ist?
Snyder: Genau, und das bringt mich zur Zukunft. Deutschland schützt die Politik der Ewigkeit mittels der Nord Stream 2. Für den Bau dieser Gaspipeline gibt es kein gutes Argument. Sie spielt einzig und allein den russischen Gasbaronen in die Karten. Dabei würde man denken, dass die Rohstoffoligarchie in Russland insbesondere der politischen Linken in Deutschland Sorgen machen sollte, die sich ja um das Klima und auch um die wirtschaftliche Ungleichheit kümmert.

IP: Eine Rohstoffoligarchie ist an sich die „Regierungsform“, die sich am schlechtesten mit dem Klima und der wirtschaftlichen Gerechtigkeit vereinbaren lässt.
Snyder: Die Politik der Ewigkeit wird grundsätzlich nicht von Staaten produziert, sondern von Situationen. Nicht Russland ist der Grund allen Übels, und auch nicht die Tatsache, dass die Russen anders sind als alle anderen. Vielmehr ist Russland so gut darin, zukunftslose Politik zu produzieren, weil es eine Oligarchie ist, der es an sozialer Mobilität mangelt – und weil Russland eines der wenigen Länder ist, das meint, vom Klimawandel profitieren zu können und dessen Regime komplett von fossilen Energien abhängig ist. Russland hat ein Interesse daran, dass der Rest der Welt in der ewigen Gegenwart lebt. Denn die Zukunft, die uns blüht, wenn wir wie bisher weiterhin auf fossile ­Energien setzen, ist ja zweifelsohne eine katastrophale. Mit Nord Stream 2 unterstützt Deutschland also ein Russland, das die Politik der Ewigkeit propagiert. Das muss man bei allem Respekt vor Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Verständnis der Situation in der Ukraine, das meiner Meinung nach besser war als das vieler ihrer Kollegen, so hart sagen – und auch bei allem Respekt vor den wirklich sinnvollen Dingen, die man zurzeit zum Thema Russland und zur Ukraine von der deutschen Regierung hört. Das sind die großen Probleme, die Deutschland davon abhalten, sich wirklich positiv hervorzutun.

IP: Das hat auch viel mit Gefühlen zu tun. In fast jedem politischen Bereich nimmt die Bedeutung von Gefühlen im Verhältnis zu Rationalität und Fakten zu. Verändert das die internationalen Beziehungen von Grund auf?
Snyder: Das ist ein sehr interessanter Punkt. Ich glaube, die größte Veränderung ist, dass ausländische Regierungen mittlerweile Zugriff auf die Gefühlswelt ganzer Gesellschaften haben. Der traditionelle Unterschied zwischen Außen- und Innenpolitik lag ja ursprünglich darin, dass sich die Innenpolitik mitunter um Emotionen drehte, die in der Außenpolitik nichts zu suchen hatten. Dort versucht man, objektiv über das Interesse des eigenen Landes nachzudenken. Man denkt auf einer viel höheren Abstraktionsebene – und der Feind ebenfalls. Letzterer könnte es natürlich mit Propaganda versuchen oder ein Komplott anzetteln …

IP: … oder heute eben über das Internet direkten Einfluss auf Zivilgesellschaften nehmen …
Snyder: … ja, und das ist etwas, was man insbesondere in Russland sehr gut versteht und ausnutzt – was wiederum einer der Gründe dafür ist, dass Donald Trump heute Präsident ist. Trump ist von einer großen Emotionswelle ins Weiße Haus gespült worden. Ein Teil dieser Welle brandete in den USA selbst auf und wurde von der wirtschaftlichen Ungleichheit, der dramatischen Opioidkrise und dem Rassismus im Land befeuert. All das waren amerikanische Probleme. Neu war allerdings, dass die russische Außenpolitik diese Emotionen anzapfen und verstärken konnte. Moskau half dem Wahlverhalten der Menschen einfach etwas nach, indem man ihnen suggerierte, für welchen Kandidaten man unbedingt stimmen sollte und für welchen auf gar keinen Fall. In dieser Hinsicht ist Russland übrigens weder speziell noch anders als andere Staaten. Der Punkt ist, dass Russland auf der traditionellen Weltbühne vergleichsweise schwach daherkommt und deshalb heute umso mehr Interesse daran hat, sich in das Feld der subjektiven oder emotionalen Macht einzumischen. Hier verzeichnet der Kreml ja bereits einige Erfolge. Der Umschwung der deutschen Gesellschaftsmeinung zur Ukraine-Frage war so ein Erfolg, der Wahlsieg von Donald Trump auch – und der Brexit, insofern er wirklich stattfinden sollte, wäre ebenfalls einer. Ich glaube allerdings, dass die betroffenen Staaten mittlerweile wehrhafter geworden sind und auch die Zivilgesellschaften merken, dass die Einmischung von außen ein Problem darstellt.

IP: Meine letzte Frage dreht sich um die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Die beiden Staaten haben sich zuletzt immer weiter voneinander wegbewegt. Für Donald Trump ist Deutschland kein Partner mehr, sondern ein Gegenspieler, wenn nicht gar ein Feind. Haben Sie angesichts dieser traurigen Momentaufnahme eine Empfehlung für die deutsche Außenpolitik?
Snyder: Lassen Sie uns das aus einer etwas anderen Perspektive betrachten. Als die USA sich nach dem Zweiten Weltkrieg an Westdeutschland annäherten, war der Gedanke ja auch nicht, dass eine deutsche Führungsrolle etwas ganz Wundervolles wäre. Vielmehr ging man davon aus, dass alle Parteien ein Interesse an einer wirtschaftlichen und politischen transatlantischen Allianz haben würden. So ähnlich sollten die Deutschen die USA auch gegenwärtig einordnen. Natürlich ist die aktuelle amerikanische Regierung trotzdem eine komplette Katastrophe – und niemand würde verhehlen, dass der Präsident Dinge über deutsche und auch andere europäische Politiker sagt, die schmerzhaft, beleidigend und damit kontraproduktiv sind.

IP: Trotzdem sind weite Teile der USA auf verschiedenen Ebenen staatlich wie bürgerschaftlich nach wie vor proeuropäisch eingestellt. Sie stehen auch einer zukünftigen Wiederannäherung an Europa ­offen gegenüber. Darauf könnte aufgebaut werden, wenn man das möchte.
Snyder: Vor diesem Hintergrund ist es tatsächlich von äußerster Wichtigkeit, dass die deutsche Außenpolitik ihre Kontakte pflegt und ihre Kommunikationskanäle offenhält. Die Beziehungen zur amerikanischen Zivilgesellschaft und auch zu den politischen Institutionen müssen aufrechterhalten und sogar noch verbessert werden, damit man in zwei Jahren – oder wie lange es auch immer dauern mag – bereit ist, wenn die Zeit für ein Revival der transatlantischen Beziehungen gekommen ist.

IP: Donald Trump ist nicht Amerika.
Snyder: Aber natürlich nicht! Die größte Gefahr für Europa ist es, von Trumps Wahlerfolg auf das Wesen Amerikas zu schließen. Die USA sind riesig – ein ganzes Universum, wenn man so will – und voller Meinungen und Möglichkeiten. Die Frage, die man sich in Deutschland also stellen sollte, ist, mit welchen amerikanischen Städten, Bundesstaaten oder Persönlichkeiten man gerade gut kooperieren könnte. Auf lange Sicht wird das wichtig werden – eben weil langfristig auch die transatlantische Partnerschaft wieder für alle Beteiligten an Bedeutung gewinnen wird.

Das Interview führte Martin Bialecki

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 100-105

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