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01. Mai 2019

Comandante der Herzen

Von Thomas Fischermann

In Venezuela ist der Traum von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ gescheitert. Seine Anhänger kämpfen trotzdem weiter

Wer immer schon geglaubt hat, dass der Sozialismus nichts als Verderben bringt, für den ist Venezuela das ideale Anschauungsobjekt. „Venezuela“, schrieb Ulf Poschardt, Chefredakteur der WeltN24-Gruppe, Anfang April in einer Ein-Wort-Bemerkung auf Twitter. Es war seine Replik auf irgendeinen antikapitalistischen Kommentar, in dem es um Deutschland, nicht um Lateinamerika ging. Wer Linke kritisiert oder sich von ihnen angegriffen fühlt, verweist – da ist Poschardt nicht allein – heute gern auf „Venezuela“. Der Name eines Landes ist zum Kampfbegriff geworden. Das neue „Geht doch nach drüben!“

Drüben, 8400 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt, in der venezolanischen Wirklichkeit, ist in diesen Tagen eine humanitäre Großkatastrophe ausgebrochen. Der Strom in den Städten fällt stunden- oder gar tageweise aus, dann stecken Menschen in Bahnen oder Aufzügen fest, und in den Fabriken und Büros geht nichts mehr. In Krankenhäusern müssen Operationen unterbrochen werden, wenn auch die Notstromaggregate nicht mehr laufen. Wasserwerke betreiben ihre Pumpen elektrisch, also funktionieren Toilettenspülungen, Duschen und Wasserhähne nicht mehr. Menschen stehen an Trinkwasserverteilungsstellen Schlange, füllen Eimer an Abwasserkanälen auf. Medikamente fehlen, Nahrungsmittel, einfachste Güter des täglichen Bedarfs. Schätzungsweise drei Millionen Menschen sind aus Not und Hoffnungslosigkeit bereits in die Nachbarländer geflohen.

Venezuela: Das war einmal eines der reichsten Länder der Erde. Im Prinzip ist es das auch heute noch. Das 30-Millionen-Einwohner-Land an der Karibik-Küste ist OPEC-Mitglied, unter seinem Staatsgebiet liegen vermutlich größere Ölreserven als unter der saudischen Wüste. Doch inzwischen funktioniert dort nicht einmal mehr die grundlegendste Infrastruktur. Der bei Redaktionsschluss noch amtierende Präsident Nicolás Maduro hat keine erkennbare Idee, wie er das ändern will.

Tatsächlich lautete das überzeugendste Erklärungsmuster für diesen Niedergang inmitten von Reichtum: Sozialismus. 1998 wählten die Venezolaner den Soldaten und selbsternannten Revolutionsführer Hugo Chávez zum Präsidenten, ganz demokratisch, und er baute Jahr für Jahr den Staat und die Wirtschaft um. Mit besonderem Vorrang sicherte der „Comandante“ sich Zugriff auf die profitable Erdölproduktion. Die Erlöse verteilte er mit der Gießkanne unter seinen Anhängern und unter den Armen im Volk. Eine große Mehrheit im Land sah Chávez als ihren Helden an.

Chávez legte Sozialprogramme auf, die internationale Preise gewannen und sogar von der Weltbank in Washington gelobt wurden. Es gab plötzlich viel sozialen Wohnungsbau, subventionierte Lebensmittel, Alphabetisierung der Massen und Kulturprogramme für bettelarme Kinder aus den „barrios“, neue kommunale Strukturen für die gemeinschaftliche Mitbestimmung vor Ort.

So weit, so gut gemeint – doch gleichzeitig vernachlässigte Chávez jede Wirtschaftspolitik der konventionellen Art. Die Chavistas verstaatlichten Unternehmen, zahlten den früheren Eignern häufig nicht mal eine Entschädigung aus, warfen widerspenstige Unternehmer und Manager ins Gefängnis. Wenn Chávez die Wirtschaftsdaten nicht passten, änderte er nicht etwa seinen Kurs, sondern beschimpfte den Chef des Statistikamts. Die Erhebungsmethoden seien nicht „revolutionär“ genug!

In der Verwaltung tolerierte der Staatschef ein erstaunlich hohes Maß an korrupter Selbstbedienung, solange die Beamten ihm gegenüber loyal waren. Schaltstellen der Wirtschaft ließ er von einfachen Leuten aus der Arbeiterschaft, von Parteifunktionären und Militärs besetzen, die aber für solche Aufgaben nicht vorbereitet waren. Bei Chávez drehten sich Personalentscheidungen hauptsächlich um den Machterhalt, nicht um die Effizienz. Als er 2013 an einer Krebserkrankung starb, übernahm sein auserwählter Nachfolger Nicolás Maduro das Management by Bonzenclub. Auf Dauer führte es in den erwarteten ökonomischen Niedergang.

Bizarre Berichte

Quasi alle Journalisten, die seit Mitte der 2000er Jahre in das südamerikanische Land gereist waren, brachten damals bizarre Berichte aus der Wirtschaft mit. Sie schrieben über den Kollaps der einst stolzen Raffinerien und Ölanlagen, von der verwesenden Infrastruktur. Von kilometerlangen Warteschlangen um Apotheken und Supermärkte. Von Schwarzmärkten, sinnlosen Preiskontrollen und Säcken voller wertlosem Geld als Folge der Hyperinflation. Das wurde zu einem ganz eigenen Genre der wirtschaftspolitischen Reiseberichterstattung, mit immer gleicher Pointe. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den Chávez und Maduro an der Karibik-Küste ausgerufen hatten, scheiterte wie sein europäischer Vorgänger aus dem Jahrhundert davor.

An dieser Darstellung ist nichts falsch, sie ist bloß unvollständig. Zu den Lücken gehört, dass Venezuela zum Ende der 1990er Jahre kaum anders konnte, als einen ­radikalen Bruch mit der bisherigen Wirtschaftsordnung zu vollziehen: So wie bisher konnte es kaum weitergehen. Venezuela war eines der ungerechtesten Länder der Welt, Arm und Reich klafften selbst für lateinamerikanische Verhältnisse besonders weit ­auseinander.

Die andere Lücke in der üblichen Chávez-Erzählung ist, dass der Mann von links sich gezwungen sah, Machterhalt über alles zu stellen. Schon vor Chávez hing die Wirtschaft überwiegend am Erdöl, und die jeweiligen Machthaber schoben die Gewinne daraus einer vergleichsweise kleinen Bevölkerungsschicht zu, den so genannte Eliten: bürgerliche Kräfte, die von ihren Verbindungen lebten, vom direkten oder indirekten Zugriff auf Ölrenditen. Sie saßen an den Hebeln der Verwaltung, der Sicherheitskräfte und der großen Unternehmen.

Mit diesen Leuten hatte in Venezuela kaum eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung jenseits der Ölbranche stattgefunden. Es gab auch keine Aussicht darauf, dass die Massen der venezolanischen Armen jemals in den Wirtschaftskreislauf integriert werden könnten. Von Beginn an kämpfte Chávez für seinen Sozialismus und gegen dieses ­Milieu. In seinen Fernsehansprachen zeterte er viel und publikumswirksam über „düstere Verschwörer“, über „Saboteure“ in der venezolanischen Wirtschaft und Verwaltung, die mit „US-amerikanischen Imperialisten“ gemeinsame Sache machten und den Revolutionär Chávez stürzen wollten. In vielen Fällen war das Blödsinn, in anderen nicht. Es gab solche Kräfte unter den alten Eliten des Landes. Chávez wäre früh gescheitert, wenn er sie hätte gewähren lassen.

Bloß: An den Schaltstellen saßen nun korrupte Parteigänger, und das ging ebenfalls nicht lange gut. Tragischerweise nicht einmal für die Armen. In den ersten Chávez-Jahren sank die Armut, mehrere Gradmesser der sozialen Gerechtigkeit verbesserten sich. Doch inzwischen geht es den Menschen sogar schlechter als vor dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.

Nostalgische Gefühle

Es ist interessant, dass so viele Menschen in Venezuela sich trotzdem noch voller Wärme an Chávez erinnern. Der heutige Machthaber Maduro kann höchstens noch einen Kern fanatischer Anhänger um sich scharen. Der tote Chávez aber weckt bei vielen ein nostalgisches Gefühl. Er hatte eine im Rückblick ruinöse Politik angestoßen, aber sie fühlte sich für viele Menschen gut an. Er verschaffte den Armen, die kaum Hoffnung auf eine vollständige ­Integration in die Gesellschaft hatten, Respekt und Sichtbarkeit. Der Präsident nahm bei seinen Auftritten am Existenzminimum lebende Mütterchen in den Arm und tröstete sie, so etwas rührte die Menschen zu Tränen. Für Millionen Venezolaner bleibt Hugo Chávez der Comandante der Herzen.

Gegen Ende der 2000er Jahre gingen Venezuela die Öleinnahmen aus, da ließ sich das Durcheinander in Wirtschaft und Verwaltung nicht mehr übertünchen. Der Ölpreis sank, und die inkompetent betriebenen Förderanlagen gerieten an ihre Grenzen. Jahr für Jahr sank die Förderleistung, und 2018 pumpte das Land nicht einmal mehr halb so viel Erdöl an die Oberfläche wie noch vor zehn oder 20 Jahren. Treue Freunde des Maduro-Regimes, allen voran China und Russland, vergaben jahrelang großzügige Kredite und ließen sich dafür künftige Öllieferungen versprechen. Inzwischen werden sogar sie nervös.

Ein anderer Exportartikel aus dem chavistischen Venezuela ist nach wie vor erfolgreich: linke Ideologie. Auf dem Bonner Parteitag der Linken kletterten im Februar etwa zwei Dutzend Menschen auf die Bühne. Sie hielten Schilder hoch: „Hände weg von Venezuela – Vorwärts zum Sozialismus“, was sich unter anderem gegen Druck und Sanktionen vonseiten der USA richtete. Über die Aktion wurde in der Partei heftig gestritten, sie ist aber kein isoliertes Phänomen. Bei vielen linken Parteien und Bewegungen in aller Welt bekennen sich heute Leute solidarisch mit Maduro und seinem Regime – und seinem Versprechen eines vorbildhaften Latino-Sozialismus.

Vor anderthalb Jahrzehnten, auf dem Höhepunkt der Chávez-Herrschaft und der Rohölpreise, war das noch viel weiter verbreitet. Der deutsche Soziologe Heinz Dieterich, der in Mexiko lebt, hatte den Slogan vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ erfunden. Er hielt Vorträge über dieses „neue historische Projekt“ und beriet zeitweise sogar persönlich Hugo Chávez. In linken Salons interessierte man sich für die Ideen aus Venezuela. Man hoffte auf eine Alternative zur US-dominierten, neoliberal geprägten Marktwirtschaft und Globalisierung. Denn die geriet ja – Stichwort soziale Verwerfungen, entfesselter Konsumismus, ungebändigter Rohstoffhunger – ebenfalls an ihre Grenzen.

Von geopolitischer Bedeutung war, dass Chávez seit seinen frühen Amtsjahren einen Kreis ähnlich gesinnter Staatschefs anführte. Der Ökonom und Staatschef von Ecuador (2007–2017) Rafael Correa wurde zeitweise ein Bruder im Geiste, rief seinerseits einen neuartigen Sozialismus aus und umschwärmte die linke Intelligenzija der westlichen Welt. In Bolivien vertrat der frühere Landarbeiter-Aktivist Evo Morales (2006 bis heute) ähnliche Ziele. In Argentinien bauten Néstor Kirchner (2003–2007) und seine Ehefrau und Nachfolgerin Cristina Fernández (2007–2015) eine wirtschaftspolitische Ordnung wider das Diktat der USA und der internationalen Finanzmärkte auf, bei denen das Land tief verschuldet war. In Nicaragua wurde Daniel Ortega, Haudegen aus Sandinisten-Tagen, 2007 zum zweiten Mal Staatschef.

Die Motive waren unterschiedlich: Ideologie spielte eine Rolle, der Zugang zu dem von Chávez bereitwillig verteilten Öl eine andere. Die Chávez-Sympathisanten schlossen miteinander Handelsabkommen. Sie hoben sogar eine gemeinsame Entwicklungsbank aus der Taufe und schufen eine Währungsalternative zum Dollar, den SUCRE, für ihre Geschäfte untereinander. Sie wollten gemeinsam mit größeren Mächten wie Brasilien, Russland, China und Indien eine Integration der Schwellenländer unabhängig von den USA vorantreiben. Sie träumten von einer Süd-Süd-­Achse ­gegen den neoliberalen Norden.

Als ehrgeizigstes Vorhaben aus dieser Reihe entstand 2004 der Staatenbund ALBA, die „Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América“, an dem außer Venezuela auch das Kuba der Castros führend beteiligt war, obwohl man dort eher von Sozialisten des vorigen Jahrhunderts sprechen muss. ALBA strebte eine wirtschaftliche, politische und soziale Integration von Ländern Südamerikas und der Karibik an. Zehn Staaten (Antigua und Barbuda, Bolivien, Kuba, die Dominikanische Republik, Grenada, Nicaragua, Saint Kitts und Nevis, Saint Lucia, Saint Vincent und die Grenadinen sowie Venezuela) sind heute noch Mitglieder. Seit der Ölboom vorbei ist, läuft allerdings nicht mehr viel. Das jüngste ALBA-Treffen fand im Dezember 2018 in Havanna statt und hatte vorwiegend symbolischen Charakter.

Konservativere Zeiten

Neue Zeiten sind in Lateinamerika angebrochen: In vielen Ländern haben wirtschaftsliberale, konservative und sogar weit rechts stehende Kandidaten Wahlen gewonnen. In Argentinien regiert seit 2015 der Wirtschaftsmann Mauricio Macri, in Ecuador entpuppte sich der 2017 angetretene und von Correa auf den Posten beförderte Lenin Moreno als Konservativer im Amt, in Brasilien gewann 2018 der rechtsextreme Jair Bolsonaro, ein selbsterklärter Fan einer Militärdiktatur im Stil der 1970er Jahre.

Selbst in Venezuela siegte 2015 bei der Wahl des Abgeordnetenhauses die Opposition, die sich aus einem breiten Spektrum von links bis rechts zusammensetzt. Insgesamt steht sie aber für eine deutlich konservativere Politik. Viele ihrer führenden Köpfe stammen aus den alten Eliten. Und anders als die Machthaber in den meisten Nachbarländern – mit Ausnahme Nicaraguas –, wo die Linken den Machtverlust demokratisch akzeptierten, entschieden sich die Chavisten zum kompromisslosen Widerstand bis zum Verfassungsbruch.

Seit den verlorenen Parlamentswahlen von 2015 operierten die Chavisten mit institutionellen Tricks: Der Präsident ignorierte die Rechtswege, schloss beispielsweise Erdölverträge mit China am Parlament vorbei, rief Ermächtigungsgesetze aus, schuf eine neue Nationalversammlung, die mächtiger als die gewählte Volksvertretung ist. Das Wahlsystem untergruben die Chavisten so gründlich, dass die Opposition sich großteils entschied, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 gar nicht mehr anzutreten, weshalb der unbeliebte Maduro automatisch gewann.

Inzwischen ist Venezuela in eine Diktatur abgerutscht, was sich am Niederknüppeln und -schießen von Demonstranten zeigt, an Schläger- und Killertrupps, die nachts durch Stadtviertel mit vielen oppositionellen Einwohnern ziehen. Man sieht es an Hunderten politischen Gefangenen, an der Folter auf den Polizeistationen und in den Gefängnissen. Chávez-Gegner sagen, dass dies eigentlich seit 1999 angelegt gewesen sei. Früh hatte der Comandante beispielsweise parallele Strukturen zu Militär und Polizei aufgebaut, bewaffnete „Kollektive“, informelle Schutztruppen zur Verteidigung der Revolution, die sich keinen Regelungen unterwerfen müssen. Sie waren in den vergangenen Wochen, als neue Massenproteste gegen Maduro in den Straßen aufkamen, für Gewaltexzesse gegen Demonstranten verantwortlich.

Venezuelas „demokratische Revolution“ war wohl nie als Demokratie nach bürgerlichen Vorstellungen gedacht. Gemeint war damit eher, dass Chávez und Maduro sich anfangs freien Wahlen stellten und diese auch gewannen, also den Volkswillen hinter sich sahen beim radikalen Umbau ihres Landes. Dialog und Kompromisse mit politisch Andersdenkenden lehnten sie und ihre Gefolgsleute weitmöglichst ab. Politische Konkurrenten überzogen sie mit Schimpftiraden, Verleumdungen und Fake News.

In diesen Tagen verteidigen sich Maduro und seine verbliebenen Anhänger mit einer Art Wagenburg-Mentalität. Die venezolanische Opposition versucht unter ihrem Anführer Juan Guaidó einen Umsturz, die USA unterstützen ihn maßgeblich dabei, und mehr als 50 Länder (auch Deutschland) haben sich für einen Rücktritt Maduros und Neuwahlen ausgesprochen. Ob dieser Umsturzversuch Erfolg hat, ist ungewiss. Für die Chavisten bestätigt sich gerade alles, woran sie immer geglaubt haben: Sie sind im Krieg gegen die alten Eliten und gegen die Imperialisten aus aller Welt! Das stärkt auch ihren Kampfeswillen.

Maduro spielt damit in diesen Tagen meisterlich. Auf die vielen Stromausfälle seit März reagiert er mit einem Chávez-Klassiker: In Fernseh­ansprachen ruft er den Notstand aus und macht die USA verantwortlich. Cyberattacken und Sabotage an Kraftwerken seien schuld, nicht etwa Missmanagement und Verfall. Die Machtfrage in Venezuela wird sich auch da­ran messen, wie viele Venezolaner solche Erklärungen noch glauben. Falls es vor lauter Stromausfällen überhaupt Fernsehempfang gibt.
 

Thomas Fischermann ist Redakteur der ZEIT. Als Korrespondent berichtete er aus London, New York und Südamerika und lebt heute in Hamburg und Rio de Janeiro.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 90-95

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