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01. März 2019

Europas Wüstenfestung

Niger bekommt viel Aufmerksamkeit des Westens. Doch massives Sicherheitsengagement droht das Land zu destabilisieren

Noch vor wenigen Jahren war Niger für westliche Regierungen vor allem eines: irrelevant. Nur Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hatte mit dem Uranabbau nennenswerte Interessen in dem Land. Heute konkurrieren westliche Armeen in der Hauptstadt Niamey um Platz für Militärstützpunkte.

Weiter nördlich im Lande baut die US Air Force mit einer Drohnenbasis in Agadez den teuersten Luftwaffenstützpunkt ihrer Geschichte; weiter östlich fliegt die CIA seit Kurzem von der Kleinstadt Dirkou aus ebenfalls Drohnen. Französische Soldaten sind seit 2014 an der Grenze zu Libyen stationiert; ein italienisches Kontingent könnte bald hinzukommen. Außer den Franzosen bilden auch deutsche, belgische und kanadische Soldaten die nigrische Armee aus. Die EU hat ihre 2012 gegründete Mission zur Stärkung der nigrischen Sicherheitskräfte seit 2015 massiv aufgestockt und neben Niamey auch einen Stützpunkt in Agadez aufgebaut.

Zwei Entwicklungen erklären das plötzliche Interesse westlicher Mächte an Niger, einem der ärmsten Länder der Welt. Erstens: Seit dem Sturz Gaddafis in Libyen 2011 und dem Ausbruch einer Rebellion im Norden des Nachbarlands Mali 2012 hat sich das regionale Umfeld Nigers drastisch destabilisiert. In Nordmali übernahmen Dschihadisten die Kontrolle, bevor Frankreich 2013 militärisch eingriff; gleichzeitig machte die Terrorgruppe Boko Haram ganze Landstriche im Nordosten Nigerias unsicher – direkt an der Grenze zu Niger. Seitdem hat sich die dschihadistische Mobilisierung in Mali und Burkina Faso weiter ausgebreitet und Boko Haram agiert mittlerweile auch auf nigrischem Staatsgebiet – all das trotz des militärischen Eingreifens von Frankreich und den USA. Westlichen Regierungschefs gegenüber betont Präsident Mahamadou Issoufou, dass Niger eine von Konfliktherden umgebene Festung sei und bleiben müsse – und ist damit ­offensichtlich erfolgreich.

Zweitens rückte die zentrale Mittelmeerroute – insbesondere Libyen – nach dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei von 2015 ins Zentrum europäischer Bemühungen, sich gegen Flüchtlinge und Migranten abzuschotten. Die Zahl der über Libyen nach Italien gekommenen Migranten stieg 2016 auf ein Rekordhoch; zwei Drittel von ihnen hatten zuvor Niger durchquert und waren in den meisten Fällen durch Agadez gekommen.

Im Gegensatz zu Konflikten und Dschihadismus in Nachbarländern stellte Migration für den nigrischen Staat jedoch keine Gefahr, sondern eine Einnahmequelle dar. Insbesondere im Norden war das Geschäft mit Migranten einer der wenigen florierenden Wirtschaftszweige. Zudem besserten sich die im Norden stationierten nigrischen Sicherheitskräfte mit Wegegeldern auf Migrantenkonvois ihre mageren Gehälter auf – obwohl nicht die Durchquerung der Republik Niger, sondern nur die irreguläre Grenzüberschreitung nach Norden illegal war. Erst als die EU im Zuge der „Migrationskrise“ massiven Druck ausübte und attraktive Angebote an die nigrische Regierung machte, leitete Issoufou eine Kurswende ein. Eine Verhaftungswelle traf Fahrer, Vermittler und Hausbesitzer, die im Migrationsgeschäft tätig waren; Hunderte Fahrzeuge wurden beschlagnahmt, vor allem in Agadez. Tausende Menschen im Norden verloren ihre Existenzgrundlage; Alternativen wurden nicht geschaffen.

Bei europäischen Regierungen und den USA hat Niger seitdem den Ruf, der verlässlichste Partner in einer instabilen Region zu sein – ein Frontstaat, der nicht fallen darf. Dementsprechend wird die Sicherheitskooperation weiter ausgebaut, und auch der starke Anstieg der Budgethilfen und Entwicklungszusammenarbeit folgt dieser Logik. Deutschland ist einerseits Triebkraft hinter dem wachsenden europäischen Engagement: Bis 2020 hat die EU der nigrischen Regierung bereits Projekte im Wert von einer Milliarde Euro versprochen. Andererseits ist Deutschland auch bilateral immer präsenter, vor allem durch die Ertüchtigungsinitiative der Bundeswehr, in deren Rahmen unter anderem Hunderte Pick-ups, Motorräder, Tanklastwagen und Satellitentelefone geliefert wurden, mit denen die nigrischen Sicherheitskräfte Migration nach Norden stoppen sollen.
 

Stärkung der Staatsmacht

Die enge Kooperation mit westlichen Staaten folgt einem klaren Kalkül: Sie stärkt die Verhandlungsposition der nigrischen Führung – sowohl nach innen als auch nach außen. Präsident Issoufou ist unabkömmlich geworden für die EU und die USA. Seit 2015 ist er ein regelmäßiger Gast in Paris, Brüssel oder Berlin. Auch hochrangige Besuche von europäischen Staats- und Regierungschefs haben Issoufous politisches Kapital im In- und Ausland erhöht.

Die Staatsführung erhält durch die engere politische Zusammenarbeit – aber auch durch die Ertüchtigung des Sicherheitssektors – mehr Spielraum im Umgang mit internem Dissens. Seit 2017 kam es immer wieder zu Demonstrationen gegen die gestiegene Militärpräsenz oder den Bau der amerikanischen Drohnenbasis. Zahlreiche Demonstranten und Gegner der nigrischen Sicherheits- und Migrationskooperation wurden in diesem Zusammenhang festgenommen. In Agadez grassiert das Misstrauen gegenüber der EU-Mission EUCAP Sahel Niger und der US Air Force; lokale Gesprächspartner bemängeln, dass sich beide gegen die Bevölkerung abschirmten, statt ihr zu helfen. Und das nigrische Parlament nimmt seine Kontrollfunktion über die Absichten der Staatsführung nicht wahr.

Nigrische Offiziere und Entscheidungsträger machen im direkten Gespräch deutlich, dass es sich bei ihrem Eingehen auf westliche Sicherheitsinteressen um eine bewusste Entscheidung der Regierung handelt, die in voller Abwägung der damit verbundenen Folgen getroffen wurde. Sie wissen, dass die westliche Militärpräsenz unpopulär ist und Futter für Oppositionspolitiker oder islamistische Prediger bietet. Die meisten Gesprächspartner in staatlichen Institutionen sind mittlerweile geübt im offiziellen Diskurs, wonach die Kriminalisierung der Transitmigration im nigrischen Interesse lag, da die Transporteure auch in Waffen- oder Drogenschmuggel verwickelt gewesen seien (eine weitgehend falsche Behauptung) und die Migranten oft in der Wüste im Stich gelassen hätten. Doch sie sind sich darüber im Klaren, dass die Kurswende in der Migrationspolitik einzig und allein auf europäisches Betreiben geschah und erhebliches politisches Spannungspotenzial birgt.

Erklärtes Ziel westlicher Unterstützung im nigrischen Sicherheitssektor ist die Stärkung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber Terroristen und Schmugglern aller Art. Tatsächlich aber greift diese Unterstützung tief in die fragilen Arrangements ein, auf denen Staatlichkeit im Niger beruht. Dies zeigt das Vorgehen gegen die Migration. Es hat insbesondere im Norden des Landes viel Unmut ausgelöst. Für junge Tuareg und Tubu – zwei Bevölkerungsgruppen, aus deren Mitte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt Rebellionen hervorgegangen sind – war der Transport von Migranten eine der wenigen lukrativen Einnahmequellen.

Seitdem der Migrantentransport kriminalisiert wurde, weichen viele von ihnen auf abgelegene Routen aus und bewaffnen sich, um gegen Pa­trouillen oder konkurrierende Gruppen gewappnet zu sein. Aus einer regulären Tätigkeit sind straff organisierte Netzwerke geworden, die nun tatsächlich auch anderen kriminellen Aktivitäten nachgehen. Offiziell sind die Maßnahmen der Regierung äußerst erfolgreich: Zwischen 2016 und 2017 reduzierten sie die Transitmigration durch Agadez um 75 Prozent; seitdem sind die Zahlen weiter gesunken. Doch ist unbekannt, wie viele Migranten jetzt fernab staatlicher und internationaler Augen Niger durchqueren – mit erheblich erhöhtem Risiko.

Mehr noch als über die Kriminalisierung des Migrantentransports selbst wächst der Groll im Norden über die europäischen Gelder und Projekte, die für die Region im Ausgleich für die verlorenen Einnahmen aus der Migration angesetzt werden. Diese Mittel kamen sehr spät und blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Von den Geldern, so hört man oft in Agadez, komme kaum etwas bei der Bevölkerung an: „Die Regierung steckt das Migrationsgeld in die eigene Tasche.“ So heizt der Strukturwandel im Norden des Landes, den die Europäer mit ihrer Migrationspolitik betreiben, neue politische Spannungen an.

Risiken und Nebenwirkungen

Unkalkulierbar sind zudem die Verwerfungen, die diese Migrationspolitik im nigrischen Sicherheitsapparat nach sich ziehen könnte. Bis 2016 profitierten Polizei- und Armeeoffiziere stark von der Transitmigration, indem sie Transporteure und Migranten an zahlreichen Checkpoints illegal besteuerten. Aufstrebende Offiziere setzten daher ihre Beziehungen ein, um einen lukrativen Posten im Norden des Landes zu ergattern und beteiligten ihre Förderer in Niamey an den Einnahmen.

Was macht eine Armee, die seit 1974 insgesamt viermal und zuletzt 2010 geputscht hat, wenn solche Privilegien wegfallen? Ein Parlamentarier aus dem Norden winkt ab: „Keine Sorge, die Offiziere haben weiterhin ihre Einnahmequellen. Zum Beispiel erheben sie Wegzölle auf Benzin und Material, das illegal aus Libyen kommt, um die Goldminen an der algerischen Grenze zu versorgen.“

Dennoch gibt es klare Hinweise darauf, dass die Staatsführung sich um die Loyalität der Armee sorgt. Anfang 2018 wurden neun hohe Offiziere wegen eines angeblichen Putschversuchs zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt; im Dezember wurden erneut mehrere Offiziere aufgrund dieses Vorwurfs festgenommen. Präsident Issoufou hat in den vergangenen Jahren mit französischer Unterstützung die Präsidialgarde stark ausgebaut – offensichtlich, um einem Putsch vorzubeugen. Im Verteidigungs- und im Innenministerium weckt das Neid, bemüht man sich dort doch zu vermeiden, dass der rasche Anstieg externer Unterstützung das interne Kräfteverhältnis zugunsten einer der vier wesentlichen Akteure (Armee, Polizei, Gendarmerie und Nationalgarde) verschiebt.

Hinzu kommt, dass externe Akteure mit jeweils unterschiedlichen regionalen Partnern ­zusammenarbeiten: „Die Amerikaner und Franzosen sprechen nicht miteinander. Sie kommen zu mir und fragen, was der jeweils andere macht“, sagt ein einfluss­reicher ehemaliger Rebellenführer in Agadez. In Niamey erzählt ein führender Politiker der Tubu, der im Grenzgebiet zu Libyen dominanten Bevölkerungsgruppe, von Versuchen italienischer Offiziere, Dutzende Schmugg­ler der Tubu als Kollaborateure zu ­rekrutieren.

Wie schnell westliche Militärs sich auf diese Weise in lokale Machtkämpfe verwickeln lassen können, sieht man im Grenzgebiet zu Mali. Dort kooperiert das französische Militär eng mit zwei malischen Tuareg-Milizen, die auch auf der nigrischen Seite operieren – ihrer Darstellung zufolge, um gegen Terroristen vorzugehen. Doch Vertreter der Bevölkerungsgruppe der Peul in der Region erheben schwere Anschuldigungen gegen beide Milizen. Viele der Opfer seien Zivilisten, und die Terrorismusbekämpfung sei nur ein Vorwand für Raubzüge und territoriale Expansion auf Kosten der Peul.

Korruption und Drogenhandel

Die Europäer sehen über zwei zen­trale Aspekte hinweg: Korruption im Allgemeinen sowie den wachsenden Einfluss von Drogengeldern in Politik und Staatsapparat im Besonderen. Beim Drogenschmuggel handelt es sich in Niger vor allem um marokkanisches Haschisch sowie das meist in Indien hergestellte Schmerzmittel Tramadol, die über die Sahelzone nach Norden geschmuggelt werden. Die Unterwanderung des Staats- und Sicherheitsapparats durch Drogenschmuggler war in Mali eine der wichtigsten Ursachen für den Verlust staatlicher Kontrolle über den Norden des Landes im Jahr 2012 – zu einer Zeit, als auch größere Mengen südamerikanischen Kokains über Sahel und Sahara ihren Weg Richtung Europa fanden. Schon damals sahen viele nigrische Gesprächspartner den politischen Einfluss mutmaßlicher Drogenschmuggler auch in ihrem Land als Gefahr.

Das Problem hat in der Wahrnehmung wohlinformierter Beobachter immer größere Ausmaße angenommen. Eine Reihe weithin bekannter Unternehmer, die über Nacht unerklärlicherweise steinreich wurden, soll sich durch ihre Beiträge zur Wahlkampffinanzierung der Regierungspartei politischen Einfluss und einen direkten Draht zum Präsidenten erkauft haben. Im vertraulichen Gespräch berichten Offiziere, Politiker und Geschäftsleute von der Verwicklung hoher Amtsträger im Sicherheitsapparat in den Drogenschmuggel und warnen nachdrücklich vor der Infiltrierung des politischen Lebens durch kriminelle Netzwerke. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Im Juni 2018 waren drei Mitarbeiter des Geheimdienstchefs unter 15 Verdächtigen, die im Zusammenhang mit der Sicherstellung von zweieinhalb Tonnen Haschisch verhaftet wurden. Die hochrangigen Drahtzieher, die hinter solchen Geschäften vermutet werden, konnten der Strafverfolgung bisher entgehen.

Westliche Geheimdienste sind sich des Problems bewusst. Doch weder die Europäer noch die USA thematisieren das Problem in ihren Beziehungen mit dem „verlässlichen ­Partner“ Niger. Es ist zu sensibel, weil es die höchsten Ebenen der nigrischen ­Politik betrifft und die Kooperation mit der Regierung gefährden könnte.

Nachhaltigere Ertüchtigung

Dass Niger – anders als Mali – der Destabilisierung seines regionalen Umfelds seit 2011 bisher erstaunlich gut standgehalten hat, liegt nicht in erster Linie an externer Unterstützung. Im Vergleich zu Mali wurden die Rebellen aus dem Norden Nigers weitaus effektiver in ein auf nationalen Ausgleich angelegtes Machtgefüge eingebunden. Zu dieser Einbindung gehörten auch informelle Arrangements, die es ehemaligen Rebellen, aber auch Offizieren in Armee und Sicherheitsapparat erlaubten, von Migration und Schmuggel zu profitieren. Der rapide Ausbau westlicher Militärpräsenz und Unterstützung im Sicherheitsbereich destabilisiert solche Arrangements. Das heißt nicht, dass solche Unterstützung grundsätzlich falsch ist: Die Sorge, dass Konflikte in Nachbarländern noch stärker auf Niger übergreifen könnten, ist durchaus berechtigt. Doch gibt es mindestens zwei Bereiche, in denen Kurskorrekturen vorgenommen werden könnten, um die Zusammenarbeit mit Niger auf eine nachhaltigere Basis zu stellen.

Erstens sollten die Europäer die Ertüchtigung der Sicherheitskräfte in Niger an eine umfassende Reform des Sicherheitssektors knüpfen. Diese sollte sowohl die Streitkräfte als auch die Einheiten des Innenministeriums einschließen und das Ziel verfolgen, die demokratische Kontrolle der Sicherheitskräfte zu stärken sowie Korruption und organisierte Kriminalität in den Fokus ihrer Maßnahmen zu rücken. In diesem Zusammenhang sollten auch die Bedingungen, unter denen die nigrischen Sicherheitskräfte arbeiten, verbessert werden, um die Anreize für illegale Aktivitäten zu verringern.

Zweitens sollten die Mitgliedstaaten der EU daran arbeiten, die verschiedenen Maßnahmen im Sicherheits-, Migrations- und Entwicklungsbereich besser miteinander zu koordinieren. Im Zuge ihrer rapide expandierenden Aktivitäten drohen die USA, die EU und ihre Mitgliedstaaten, mit lokalen Akteuren zusammenzuarbeiten, die teils unterschiedliche Interessen verfolgen. Selbst die einzelnen nigrischen Ministerien erkennen die Gefahr nicht rechtzeitig, da sie häufig durch die pure Anzahl von Unterstützungsangeboten überfordert sind. Dies könnte lokale Konflikte verstärken oder neue hervorrufen sowie die Handlungsfähigkeit der nigrischen Regierung in der Schlichtung von Konflikten einschränken.

Auch wenn eine engere Kooperation mit den USA in dieser Hinsicht kaum realistisch scheint, so sollten sich doch zumindest die Europäer um einen kohärenten Ansatz bemühen, der nach der langfristigen Schaffung von Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung strebt.

Dr. Wolfram Lacher und Dr. Melanie Müller arbeiten in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Oberstleutnant i.G. Dirk Hamann hat am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik zu Militarisierung und Demokratie in Mali geforscht und war 2017 Verbindungsoffizier in Niger.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 74-79

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