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29. Juni 2018

Eingefrorener Konflikt

In der Ostukraine verfestigen sich die „Quasi-Staaten“ Donezk und Luhansk

Die Uhren sind auf Moskauer Zeit vorgestellt, und es gibt eigene Pässe, Autokennzeichen und Lehrpläne für die Schule. Die abtrünnigen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk setzen sich fest. Militärisch ist der Konflikt eingedämmt, politisch bleibt er ungelöst. Die Ukraine muss hoffen, dass sich ihre größere Wirtschaftskraft als Magnet erweist.

In diesem Frühjahr ist der Konflikt in der Ostukraine in sein fünftes Jahr gegangen. Ein baldiges Ende der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und den von Russland kontrollierten Separatisten ist auch nach über 10 000 Toten nicht in Sicht. Das Abkommen von Minsk von 2014/15, das eine friedliche Rückkehr der Separatistengebiete in die Ukraine vorsieht, wurde noch immer nicht umgesetzt.

Immerhin ist der Konflikt militärisch insofern eingedämmt, als sich beide Seiten hüten, die 500 Kilometer lange Front, die so genannte „Kontaktlinie“, zu überschreiten. Die Ukrainer wissen, dass Russland innerhalb weniger Tage große Verbände über den Abschnitt der ukrainisch-russischen Grenze senden kann, der von den Separatisten kontrolliert wird. Auf der anderen Seite sind sich Moskau und die Separatisten bewusst, dass ein weiterer Vorstoß nach Westen einen hohen Preis haben würde – sowohl militärisch, weil der Gegner mittlerweile gut ausgerüstet und ausgebildet ist, als auch wirtschaftlich, weil er vom Westen mit schärferen Sanktionen beantwortet werden dürfte.

Diese Situation ist paradox: Einerseits beklagen beide Seiten, dass der Konflikt „eingefroren“ ist, weil sich nichts Grundsätzliches ändert. Andererseits wird beklagt, die Weltöffentlichkeit vergesse, dass hier ein „heißer Krieg“ ausgetragen wird – entsprechend äußerte sich die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid Anfang Juni nach einem Besuch im Konfliktgebiet. Tatsächlich wird weiter scharf geschossen, aber eben nur von einer Seite der Kontaktlinie auf die andere, meist mit indirektem Feuer, also mit Artillerie und Raketenwerfern, deren Geschosse gekrümmte Flugbahnen haben.

Dabei liegt der Verdacht nahe, dass es bei einigen Gefechten weniger um den militärischen Zweck geht als das Erzielen von Propaganda­effekten. Die Botschaft lautet dann entweder „Schaut her, hier wird die Freiheit Europas verteidigt“ (­Ukraine) oder „Schaut her, hier werden friedliche ­Zivilisten von Truppen der eigenen Regierung abgeschlachtet“ (Russland/Separatisten). So hing ein schwerer Zwischenfall Ende Januar 2017 im Raum Awdiiwka vermutlich mit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump zusammen. Die Kämpfe mit mindestens 37 Toten (darunter sieben Zivilisten) fanden zwischen Trumps erstem Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin (28. Januar) und seinem ersten Telefonat mit dem ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko (4. Februar) statt.

Seit mehr als zwei Jahren setzt das ukrainische Militär darauf, Siedlungen entlang der Kontaktlinie zu besetzen, die in der so genannten Grauzone zwischen den vordersten Stellungen beider Seiten liegen. Im November rückten Truppen in Hladosowe und Trawnewe in der Region ­Donezk ein, Anfang dieses Jahres in Kateryniwka in der Region Luhansk. Zwar betonen die Ukrainer, dass sie sich an die Regeln von Minsk halten, weil sie die Kontaktlinie nicht überschreiten. Doch das Eskalationsrisiko steigt, weil die verfeindeten Truppen näher aneinanderrücken. Mancherorts trennt sie weniger als 100 Meter.

Gestärktes Militär

Nun kommen weitere Risiken hinzu. Am 1. Mai trat das ukrainische Donbass-Reintegrationsgesetz in Kraft, das unter anderem die Kommando­gewalt vom Inlandsgeheimdienst SBU an die Streitkräfte überträgt. Dies dürfte das Selbstvertrauen des ukrainischen Militärs steigern, ebenso wie das Eintreffen der lang erwarteten amerikanischen Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ „Javelin“. Hinzu kommt, dass 2019 in der Ukraine Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anstehen. Staatschef Petro Poroschenko würde wohl gerne wiedergewählt werden, hat aber mit katastrophalen Umfragewerten zu kämpfen – zuletzt wollten gerade noch 6 Prozent der Ukrainer für ihn stimmen. In dieser Lage wird er auf militärische Stärke setzen, da sind sich die Beobachter einig.

Offensichtlich ist, dass die Ukrainer Hinweise auf Schwächen des Gegners sofort ausnutzen. Als am 11. Mai die Moskauer Mediengruppe RBC den Rücktritt von Putins einflussreichem Donbass-Beauftragten Wladislaw Surkow meldete, rückten Regierungstruppen in Tschyhari ein, eine Grauzonen-Siedlung westlich der von Separatisten kontrollierten Stadt Horliwka. Und als im November ein bewaffneter Putsch den bisherigen Machthaber der Separatisten in Luhansk aus dem Amt fegte, nahmen Regierungstruppen, wie beschrieben, Hladosowe und Trawnewe ein.

Wie in Zukunft die Politik auf Seiten Russlands und der weitestgehend vom Kreml kontrollierten Separatisten aussehen wird, ist schwerer einzuschätzen. Putin selbst hat seit seiner Wiederwahl im März wenig Neues zum Thema Ukraine gesagt. Der Westen wiederum setzt weiterhin auf die Entsendung einer UN-Friedens­truppe, aber nach wie vor stehen sich zwei völlig verschiedene Konzepte gegenüber: Während die Ukraine und ihre Verbündeten eine robuste Truppe wollen, die den gesamten Donbass einschließlich der russischen Grenze kontrolliert, will Putin nur leicht bewaffnete Eskorten zum Schutz der OSZE-Beobachter akzeptieren, und auch nur entlang der Kontaktlinie.

Im Herbst 2018 enden in den beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk die vierjährigen Amtszeiten der Anführer und De-facto-Parlamente. Doch nach welchem Recht soll neu gewählt werden? Die Ukraine und der Westen bestehen darauf, dass die Wahlen erst dann abgehalten werden dürfen, wenn die Separatistengebiete wieder komplett unter Regierungskontrolle sind. Schließlich steht im Minsker Maßnahmenpaket vom Februar 2015 (Punkt 4), dass Wahlen unter ukrainischem Recht stattfinden sollen. Das gilt in den „Volksrepubliken“ bislang nicht. Nicht nur endet die Autorität der Kiewer Regierung an den schwer bewaffneten Militärposten entlang der Kontaktlinie; praktisch ist auch allen ukrainischen Politikern, Journalisten und Personen des öffentlichen Lebens der Zugang zu den Separatistengebieten versperrt, sodass auch kein ansatzweise normaler Wahlkampf möglich ist. Die Separatisten dagegen können auf Punkt 9 desselben Abkommens verweisen, wo es heißt, dass die Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die eigene Staatsgrenze am Tag nach der Wahl beginnen soll.

Das Problem ist nicht neu. Bereits 2015/16 hatten die „Volksrepubliken“ Kommunalwahlen abhalten wollen, diese aber – offenbar unter russischem Druck – mehrfach und zuletzt unbefristet verschoben. Ob sich Russland und die Separatisten diesmal mit einer Verschiebung zufriedengeben, ist fraglich. Denn es geht nicht um Bezirksverordnete, sondern um die höchsten „Staatsämter“. Vor allem der Chef der „Volksrepublik“ Luhansk, Leonid Passetschnik, dürfte ein starkes Interesse an einer baldigen Wahl haben, weil er sein Amt dem Putsch vom November verdankt.

Das größte Problem sind jedoch die „Volksrepubliken“ selbst. Denn diese Gebilde, die im Frühjahr 2014 von bis dahin weitgehend unbekannten Aktivisten ausgerufen wurden, sind von keinem Staat der Welt anerkannt worden, auch nicht von Russland (die einzige Ausnahme ist Südossetien, das aber selbst nur von sehr wenigen Staaten anerkannt ist). Im Minsker Abkommen kommen sie nicht vor, dort ist von „bestimmten Bezirken“ der Regionen Donezk und Luhansk die Rede. Die Separatistenführer Alexander Sachartschenko (Donezk) und der im November gestürzte Igor Plotnizki (Luhansk), die alle drei Teile des Abkommens (Protokoll, Memorandum und Maßnahmenpaket) unterschrieben haben, taten dies ohne Amtsbezeichnung.

Die Ukraine und ihre Unterstützer verlangen eine Abschaffung der „Volksrepubliken“. Der US-Sonderbeauftragte Kurt Volker erklärte kürzlich, dass ihre Auflösung integraler Bestandteil der Umsetzung des Minsker Abkommens sei. „Minsk umsetzen = diese illegalen Strukturen auflösen. Sie nicht auflösen wollen = Minsk nicht umsetzen wollen“, twitterte Volker am 5. März.

Eigene Pässe und Lehrpläne

Betrachtet man aber die jüngeren Entwicklungen innerhalb der beiden „Volksrepubliken“, wird schnell klar, dass eine baldige Auflösung nicht einfach ist. Je länger sie existieren, desto mehr setzen sich diese Quasi-Staaten fest. Seit mehreren Jahren ist der russische Rubel offizielles Zahlungsmittel, und die Uhren wurden auf Moskauer Zeit vorgestellt. Mittlerweile gibt es eigene Pässe, Kfz-Kennzeichen und Lehrpläne für Schulen. Sowohl in Donezk als auch in Luhansk ist nur selten von einer Rückkehr in die Ukraine im Rahmen des Minsker Abkommens die Rede. Viel lieber und häufiger schwärmen die Separatistenführer von der fortschreitenden Integration mit Russland.

Verstärkt wurde diese Entwicklung im Jahr 2017, als ukrainische Aktivisten die verbleibenden Handelswege zwischen den „Volksrepubliken“ und regierungskontrolliertem Gebiet blockierten. Im Anschluss verhängten beide Seiten eine offizielle Handelssperre, sodass die Betriebe in den von Separatisten kontrollierten Gebieten ihre bisherigen Zulieferer und Absatzmärkte verloren. Den vollmundigen Ankündigungen, man werde die Betriebe binnen weniger Monate neu nach Russland ausrichten, sind bislang kaum Taten gefolgt. Ein Grund dafür dürfte die Tatsache sein, dass russische Konzerne, die mit den „Volksrepubliken“ direkt Handel treiben, mit westlichen Sanktionen rechnen müssen.

Trotzdem wird in den Erklärungen der Separatisten und ihren offiziellen Medien unentwegt die unverbrüchliche Freundschaft mit Russland und die Feindschaft mit der Ukraine und dem Westen beschworen. Auch die russischen Staatsmedien sind stramm auf diesem Kurs. So verfestigt sich innerhalb der „Volksrepubliken“ die Vorstellung, enger zu Russland als zur Ukraine zu gehören.

Umstritten ist, wie stark die einheimische Bevölkerung die Separatisten tatsächlich unterstützt. Telefonische Umfragen des Königsteiner IFAK-Instituts im Auftrag des Berliner Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (2017) sowie des Kiewer „Donbas Think Tank“ (2018) deuten auf eine geringe Identifizierung als „Bürger der Volksrepublik Donezk“ (13 Prozent der ­Befragten), aber eine relativ große Bereitschaft, sich mit Russland zu identifizieren (zwischen 40 und 50 Prozent).

Wie alle soziologischen Erhebungen in autoritären Systemen sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen, weil die Befragten Repressionen befürchten müssen (etwa weil ihre Telefone abgehört werden), wenn sie nicht im Sinne der Machthaber antworten. Dennoch ist es schwer vorstellbar, dass eine Rückkehr der Separatistengebiete – wie auch immer geartet – in die Ukraine leicht wird. Das Risiko von bewaffnetem Widerstand steigt, je länger die „Volksrepubliken“ ihre prorussische Ideologie in Medien, Schulen und Hochschulen verbreiten und je länger an der Front für sie gestorben wird.

Die Aussichten auf eine baldige Verhandlungslösung sind schlecht. Die größte Hoffnung ukrainischer und westlicher Experten beruht auf der Vermutung, dass die Subventionierung der zwei „Volksrepubliken“ mit ihren knapp drei Millionen Einwohnern für Moskau irgendwann zu teuer werden könnte. Nicht erst seit der Handelsblockade hängen Donezk und Luhansk am Tropf Russlands. Allein 2017 bezahlte Moskau nach ukrainischen Angaben mehr als zwei Drittel des Jahresetats der „Volksrepublik Luhansk“, umgerechnet knapp 500 Millionen Euro. Rechnet man die Subventionen für die deutlich größere „Volksrepublik Donezk“ und die vermutlich umfangreichen Militärausgaben dazu, kommt man auf Kosten von zwei Milliarden Euro und mehr im Jahr.

Eine weitere Hoffnung liegt in den vielen Begegnungen von Menschen aus den Regierungs- und Separatistengebieten. Zehntausende Menschen pendeln täglich über die Kontaktlinie, die zahlreiche Siedlungen völlig willkürlich trennt. Im ­April waren es nach UN-Angaben eine Million. Der ständige Bevölkerungsaustausch ist eine Besonderheit im Donbass-Konflikt, und er lässt die Ukraine deutlich attraktiver erscheinen als die „Volksrepubliken“. Nicht nur ist die Versorgungslage in den regierungskontrollierten Gebieten besser, die Löhne und Gehälter sind es auch. In der „Volksrepublik“ Donezk lag der durchschnittliche ­Monatslohn Anfang 2018 bei 10 000 Rubel (136 Euro). Das war weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns im regierungskontrollierten Teil der Region, der 8927 Hrywna (287 Euro) betrug.

Die Schlussfolgerung für die westliche Staatengemeinschaft ist klar: Das wichtigste Instrument, um den Völkerrechtsbruch in der Ostukraine zu heilen und die „Volksrepubliken“ wieder in die Ukraine zu integrieren, ist die geduldige und beharrliche Stärkung der Ukraine selbst. Dabei geht es weniger um militärische Hilfe als um den Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft und rechtsstaatlicher Strukturen sowie die Bekämpfung der Korruption. Nur so wird es der Ukraine gelingen, Strahlkraft weit über die „Kontaktlinie“ hinaus zu entwickeln.

Nikolaus von ­Twickel ist Journalist in Berlin. 2015/16 war er Medienverbindungsoffizier für die OSZE-Beobachtungsmission in Donezk.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 42 - 46

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