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29. Juni 2018

Ein ganz normales Land

Griechenland braucht Rechtssicherheit und Investitionen aus dem Ausland

Im August endet das dritte Hilfsprogramm der Euro-Länder. Künftig werden sich die Griechen selbst finanzieren müssen. Wird das funktionieren? Ist die Krise überwunden? Offiziell sind alle Beteiligten guter Dinge. Doch das Land krankt weiter an alten Problemen – und der verordnete Sparkurs hemmt die Wirtschaft zusätzlich.

Umarmung, Küsschen, Schulterklopfen. Wie einen alten Freund begrüßte Ministerpräsident Alexis Tsipras EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im April in Athen. Angesichts des bevorstehenden Endes des dritten Hilfsprogramms im August 2018 war Juncker eigens nach Griechenland gereist. Mitgebracht hatte er viel Lob und Optimismus. Juncker sprach von exzellenten Fortschritten und ermutigenden Aussichten. Das Wachstum in Griechenland sei zurückgekehrt. Im Sommer werde Griechenland zu einem normalen Land der Währungsunion. Stimmt das?

Positive Ausblicke und Champagnerlaune sind kein Garant für die von Griechenland lang ersehnte Rückkehr in die volle Souveränität. Seit Monaten schon senden Athen und Brüssel Signale des Optimismus, um alle an der Krisenbewältigung beteiligten Akteure von einem Happy End zu überzeugen: Rückgang der Arbeitslosenrate auf 20 Prozent; 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum für 2017 und geschätzte 2,3 Prozent für 2018; Umsetzung nahezu aller Reform- und Sparvorgaben; erfolgreiche Neu­emissionen griechischer Obligationen; Aufwertung griechischer Staatsanleihen von „B–“ auf „B“ mit der Aussicht auf weitere Heraufstufungen. Selbst das von den Geldgebern anvisierte Haushaltsziel für 2017 hat Griechenland übertroffen. Statt 1,75 Prozent erwirtschaftete die Regierung einen Primärüberschuss von 4 Prozent.

Die „Operation Griechenland“ ist geglückt. Der jahrelang am Tropf der Troika hängende Patient steht gesundet auf eigenen Füßen. So viel zu den Träumen der Athener Regierung und so mancher Politiker in Brüssel und Berlin. Nach acht Jahren, drei Rettungspaketen, Notkrediten in Höhe von insgesamt 256 Milliarden Euro und einem Reigen aus Kontrollbesuchen, Krisengipfeln, Sondergipfeln und EU-Sonderkrisengipfeln wünscht man sich nichts sehnlicher als ein Ende des ewigen Schuldendramas. Wie also steht es um die Wirtschaft Griechenlands? Geht es aufwärts? Und wie geht es den Menschen?

Fragile Lage, positive Ausblicke

Jahrelang war die Leistungsbilanz Griechenlands und anderer südeuropäischer Staaten negativ. Vereinfacht gesagt, es wurde mehr Geld ausgegeben als eingenommen. Mit der Einführung des Euro verstärkte sich die Schieflage. Griechenland machte sich stark abhängig von Fremdkapital. Am Ende konnte es sich nicht mehr finanzieren. Mit Hilfe der Rettungspakete und einem Bündel von Reformen wurde das Leistungsbilanzdefizit radikal abgebaut. Mittlerweile erwirtschaftet das Land wieder einen Primär­überschuss: sieben Milliarden Euro für 2017. Hinter dem Überschuss stehen erhöhte Beiträge zur Sozialversicherung sowie vermehrte Einnahmen aus Einkommen- und Mehrwertsteuer, erklärte ein Regierungssprecher.

Die Rekordsumme geht allerdings zu Lasten der öffentlichen Hand, so das Urteil der Kommentatoren. Viele Busse und Straßenbahnen sind außer Betrieb, es mangelt an Ersatzteilen und Geldern für Reparaturen. Auch Gerätschaften beim Militär und im Gesundheitswesen funktionieren nicht, und manche Polizeistelle hat nicht einmal Geld für Benzin. Statt die Verbindlichkeiten von Krankenhäusern, Universitäten und des halbstaatlichen Energieversorgers abzubauen, lässt man die Schuldenberge staatlicher Träger und Körperschaften weiter anwachsen. Auf 3,4 Milliarden Euro belaufen sie sich. Kurz: Der hohe Primärüberschuss reißt an anderer Stelle Löcher auf. Mit Absicht.

Die Regierung will einen Teil des Überschusses für notleidende Bürger ausgeben: 600 Millionen Euro für Mietzuschüsse, 200 Millionen für kostenloses Mittagessen in Schulen, 150 Millionen für Kitas usw. Auf gut 2,1 Milliarden Euro belaufen sich die so genannten Anti-Memorandum-Maßnahmen. Statt langfristig und nachhaltig zu planen, die Wirtschaft anzukurbeln und neue Arbeitsplätze zu schaffen, kauft die Regierung mit ihren Wohlfahrtsprogrammen Wähler, lautet der Vorwurf der Opposition.

Die wirtschaftliche Lage Griechenlands bleibt trotz positiver Ausblicke fragil. Nach Schätzung des griechischen Finanzministeriums werden die Staatsschulden bis Ende 2018 auf 332 Milliarden Euro anwachsen, trotz eines ersten Schuldenschnitts 2012. Das sind fast 180 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung. Schulden in dieser Größenordnung gelten als nicht tragfähig. Was heute in Athen und Brüssel als Erfolg gefeiert wird, kann morgen schon nicht mehr gelten.

Im Mai meldete das Finanzministerium drastisch zurückgehende Steuereinnahmen. Sollte sich diese Situation in den folgenden Monaten fortsetzen, ist mit sinkenden Haushaltseinnahmen zu rechnen. Gründe sind die stark gestiegene Steuerlast, die gesunkenen Löhne und eine weiterhin hohe Arbeitslosigkeit von 20 Prozent. Immer weniger Haushalte und Unternehmen können oder wollen ihre Steuern bezahlen. Zwei von drei Bürgern stehen in der Kreide. Auf insgesamt 102 Milliarden Euro haben sich die Steuerschulden akkumuliert. Davon wurden 2017 vier Milliarden Euro eingetrieben. Rund 14 Milliarden Euro gelten als verloren, weil die Schuldner längst bankrott oder verstorben sind.

Die fiskalische Schieflage ist auch eine Folge des Steuersystems. Wie chaotisch und ungerecht es ist, zeigt eine Studie des Think Tank Dianeosis: 80 Prozent der direkten Steuern werden von 20 Prozent der Bürger getragen. Ein vernichtendes Urteil für eine linke Regierung, die sich die moralische Revolution auf die Fahnen geschrieben hat, es aber nicht schafft, die galoppierende Steuerhinterziehung in den Griff zu bekommen. 71 Prozent aller Selbstständigen und 93 Prozent aller Landwirte deklarierten 2015 ein Jahreseinkommen von unter 9000 Euro; der Steuerfreibetrag liegt bei 8636 Euro. Während also Ärzte, Rechtsanwälte und Landwirte wenig oder gar keine Steuern zahlen, kommen hauptsächlich Angestellte und Lohnempfänger für den Großteil der Steuerlast auf. An diesen Zahlen hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert.

Obendrein schulden Selbstständige und Arbeitgeber den Sozialkassen Beiträge in Höhe von über 35 Milliarden Euro – angesichts hoher Arbeitslosenzahlen, Überalterung und eines wachsenden Niedriglohnsektors eine tickende Zeitbombe. Hinzu kommen die Bankkredite, die viele Haushalte und Unternehmen nicht mehr tilgen können oder aus Hoffnung auf eine spätere Amnestie nicht tilgen wollen. Die Hälfte aller Bankkredite, gut 50 Milliarden Euro, sind faul. Griechenland hat eine der höchsten Quoten privater Verschuldung in Europa. Das ist schlecht für den inländischen Konsum, der stark geschrumpft ist.

Auch die Baubranche ist zusammengebrochen. Doch der ­Tourismus boomt. Seitdem sich die innenpoli­tische Lage beruhigt hat und keine EU-Fahnen mehr verbrannt werden, kommen die Touristen wieder in Scharen. 34 Millionen Besucher werden erwartet, nach 2017 vermutlich ein weiteres Rekordjahr. Die Reisebranche trägt rund ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Es wird kräftig in den Tourismus investiert. 263 000 neue Arbeitsplätze seien geschaffen worden, erklärte Ministerpräsident Tsipras im Herbst. Was er nicht sagte: Die ­Tourismusindustrie ist mittlerweile Teil des wachsenden Niedriglohnsektors. Mehr als die Hälfte der neu geschaffenen Stellen in der Privatwirtschaft entfällt auf schlecht bezahlte Teilzeitjobs.

Seit Ausbruch der Krise arbeiten immer mehr junge Menschen für ein monatliches Einkommen von unter 500 Euro. Und je höher Steuern und Sozialbeiträge steigen, desto mehr floriert die Schwarzarbeit. Laut IWF ist die Schattenwirtschaft auf 27 Prozent des Bruttosozialprodukts angestiegen. Ein Teufelskreis. Von der Krise weniger hart betroffen sind die Angestellten im öffentlichen Sektor. Die Hälfte aller Staatsbediensteten verdient mehr als 1000 Euro im Monat. Ihr großer Vorteil: Sie müssen um ihre Stelle nicht bangen.

Hohe Arbeitslosigkeit

Noch immer hat Griechenland die höchste Arbeitslosenrate innerhalb der EU. Sie ist zwar um 6 auf 20 Prozent gesunken, doch der Rückgang ist mit Vorsicht zu genießen. Über 420 000 Griechen, überwiegend Akademiker und Fachkräfte, haben ihr Land verlassen. Ihre Beweggründe waren ­übrigens nicht Armut oder Arbeitslosigkeit, sondern das, was ihnen das Leben im eigenen Land schwer macht: Vetternwirtschaft, Korruption, eine überbordende Bürokratie und die Tatsache, dass nicht Leistung den Lohn und Aufstieg bestimmt, sondern die richtigen Beziehungen. Dabei könnte man junge, ausgewanderte Wissenschaftler mit mehr Investitionen in Forschungs- und Technologievorhaben zurückholen. Doch der Forschung fehlen Geld und ein zündendes Umfeld aus Hightech-Start-ups und Universitäten. 85 Prozent aller Forscher griechischer Herkunft leben und arbeiten im Ausland.

Was Griechenland dringend benötigt, sind Planungs- und Rechtssicherheit, Wachstum und damit Investitionen aus dem Ausland. Abgesehen von der Reederei war Griechenland nie ein Land, in dem Großinvestitionen getätigt wurden und Großunternehmen florierten. Das Rückgrat der Wirtschaft sind kleine und mittlere Unternehmen. Bei den ausländischen Direktinvestitionen hinkt Griechenland im europäischen Vergleich bis heute hinterher. 2002 betrugen sie 9,5 Prozent des BIP. Zehn Jahre später lagen sie bei 10 Prozent, während sie im EU-Durchschnitt 30 Prozent erreichten. 2016 lockten vor allem Spanien, Portugal, Irland und Italien ausländische Direktinvestitionen an. Griechenland ist hier nicht vertreten.

Darüber hinaus ist die Regierung nicht willens oder in der Lage, Überregulierungen aufzubrechen und die Bürokratie transparenter und effizienter zu gestalten. Bei den Privatisierungen sind die administrativen Hürden und politischen Auflagen noch immer zu hoch. Privatisierungen gehen schleppend und holprig voran. Die Übernahme des Hafens von Piräus durch das chinesische Unternehmen Cosco ist zwar ein Erfolg, aber das gilt noch lange nicht für alle anderen Projekte. So liegen der kanadische Minenkonzern Eldorado Gold und die Athener Regierung seit Jahren im Streit. Und bei der Privatisierung Ellinikons, dem ehemaligen Flughafen Athens, der seit 2001 brachliegt, geht es auch nicht voran. Deshalb bewertet die OECD das Wirtschaftsklima Griechenlands als wenig unternehmerfreundlich.

Frage an den Propheten

Und wie geht es den Menschen? Spüren sie den Aufschwung? Die Krise geht weiter, ist die Meinung vieler Griechen. Einen „sauberen Exit“, wie ihn Tsipras proklamiert, können die wenigsten erkennen. Vor allem Kleinhändler klagen: Die Umsätze sind eingebrochen. Geld zirkuliert in homöopathischen Dosen. Die Liquiditätsprobleme scheinen so groß zu sein, dass selbst ELTA, die griechische Post, von Kunden einbezahlte Stromrechnungen nicht sofort an den Empfänger weiterleitet, sondern die Beträge zurückhält, um eigene Liquiditätsprobleme zu überbrücken.

Rund ein Viertel aller Kleingeschäfte und Kleinunternehmen sind hoch verschuldet. In den vergangenen sechs Monaten wurden die Konten von 81 000 Kleinunternehmen gepfändet; rund 7000 Kleingeschäfte sollen Prognosen zufolge in nächster Zeit schließen. Kein Wunder: Immer mehr Kleinunternehmer und Bürger können ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Finanzamt, den Sozialkassen und den Banken nicht mehr nachkommen. Renten und Löhne wurden gekürzt, Sozialabgaben erhöht, die Privatschulden und die Schulden gegenüber dem Fiskus aber sind geblieben. Die durchschnittliche Steuerlast eines Lohnempfängers mit zwei Kindern stieg 2017 auf 39 Prozent. Lange versäumte es Griechenland, Steuern in voller Höhe einzutreiben und das ­Fiskalsystem zu ­reformieren. Aber jetzt fordert der Staat übermäßig viel Steuern von Bürgern und ­Unternehmen.

Leere Staatskassen, exorbitante Schuldenberge und eine ruinöse Politik. Griechenland werkelte jahrzehntelang unter den Augen der EU an seinem Absturz und niemand steuerte ernsthaft dagegen. Im Gegenteil. Laxe Kontrollen bei der Verteilung von EU-Geldern, Zementierung eines Klientelsystems mit EU-Zahlungen, ein aus dem Ruder gelaufenes Sozialsystem, Vergabe von Ämtern und Großaufträgen nach Gutdünken, zweifelhafte Buchhaltungstricks und die Einführung des Euro beschleunigten ihn. Förderung hilft, wenn ein Staat funktioniert. Tut er das nicht, versickern die Mittel. Seit acht Jahren versucht Griechenland unter dem Druck seiner Geldgeber und gegen den Willen vieler Politiker und Bürger nachzuholen, was es jahrzehntelang versäumt hat. Angesichts eines lahmenden Reformwillens, verkrustete Strukturen aufzubrechen und mehr und bessere Anreize für ausländische Investitionen zu schaffen, angesichts verunsicherter und launischer Kapitalmärkte, einem anhaltenden Vertrauensverlust bei den Gläubigern, Investoren und Kapitalmärkten und einer nicht tragfähigen Schuldenlast von 328 Milliarden Euro ist die Frage, wie es mit Griechenland weitergeht, eine Frage für den Propheten.

Richard Fraunberger berichtet unter anderem für die ZEIT, die Süd­deutsche Zeitung, GEO und Mare aus Griechenland.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 86 - 90

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