IP

05. Jan. 2018

Im Schatten der Hisbollah

Wie die Familie Hariri zum Sinnbild des Machtkampfs im Libanon wurde

Einst baute Rafiq Hariri den Libanon nach dem Bürgerkrieg wieder auf. Doch die Rivalität zwischen Irans Verbündeten und Saudi-Arabien wurde ihm zum Verhängnis. Sein Sohn und amtierender Premier, Saad Hariri, geriet nun ebenfalls zwischen die Fronten. Eine Geschichte, die hier mit großer Sympathie für das kleine, zerrissene Land erzählt wird.

Es war Anfang November 2017, als meine Mutter mir das erste Mal in meinen vier Jahren als Nahost-Korres­pondentin nahe legte, die Koffer zu packen. Nicht etwa wegen des Krieges in Syrien, meiner Reisen ins irakische Mossul oder möglicher Terror­anschläge. Sondern wegen eines eher unmartialischen, molligen Herrn mit Drei-Tage-Bart, dem libanesischen Premierminister Saad Hariri. Hariri hatte gerade auf höchst eigenartige Weise, nämlich sichtlich unfreiwillig vor Fernsehkameras in der saudischen Hauptstadt Riad, seinen Rücktritt erklärt. Durch Beirut und die Region ging – nein, kein Beben, sondern ein verwirrtes, hektisches Flattern. Doch in deutschen Nachrichtenredaktionen, wo Hariri bis dahin eher zu den Statisten auf der nahöstlichen Bühne zählte, war offenbar der Eindruck entstanden, im Libanon stehe der nächste Bürgerkrieg bevor.

Ich erklärte meiner Mutter, dass die Koffer im Schrank blieben, die Beiruter Bars nach einem kurzen Schrecken wieder gut besucht seien und die Affäre Hariri eher eine Farce als ein Casus Belli sei. Und dass ich die ganze Angelegenheit selber noch nicht ganz durchschaute. Sie war beruhigt. Oder tat zumindest so.

Von den anderthalb Dutzend Ländern meines Berichtsgebiets ist ausgerechnet jenes am verwirrendsten, in dem ich lebe: der Libanon. 10 452 Quadratkilometer, geschätzte sechs Millionen Einwohner, davon geschätzte eine bis anderthalb Millionen Flüchtlinge, 18 anerkannte Konfessionen, zwei Staaten – ein offizieller, notorisch dysfunktionaler und ein informeller, straff organisierter. Außerdem mehrere Familiendynastien, die seit Jahrzehnten die politische Elite dominieren. Eine dieser Familien sind die Hariris. Ihre Geschichte spiegelt am dramatischsten wider, wie der Libanon und die gesamte Region zum Schauplatz des saudisch-­iranischen Machtkampfs wurden.

Diese Geschichte beginnt mit Saads Vater Rafiq, Libanons Version des Tellerwäschers, der zum Millionär wurde. In diesem Fall zum Multimilliardär. Hariri, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte sich in Saudi-Arabien vom Buchhalter einer Baufirma zum Konzernchef und bevorzugten Bauherrn des Königshauses hochgearbeitet.

Reichtum und mächtige ausländische Verbündete sind zentrale Voraussetzungen für eine politische Karriere im Libanon. Die von Hariri Senior begann gegen Ende des Bürgerkriegs. Was 1975 als Konflikt zwischen rechtsextremen Christen und linken Muslimen (Libanesen und Palästinensern) begonnen hatte, war 15 Jahre später in einem Mehrfrontenkrieg mit ständig wechselnden Allianzen und zwei Interventionsmächten (Israel und Syrien) erstarrt. Unter anderem mit Hariris Hilfe kamen die libanesischen Fraktionen im saudischen Ta’if an den Verhandlungstisch, beschworen Frieden und Abkehr vom Konfessionalismus. Tatsächlich umgesetzt wurden eine Amnestie für alle Kriegsherren und die Neuauflage der konfessionellen Machtaufteilung. Demnach gehört den Christen das Amt des Präsidenten, den Sunniten der Stuhl des Premierministers und den Schiiten der des Parlamentssprechers (der Rest geht an die kleineren Fraktionen). Den regionalen Segen für das Abkommen von Ta’if gaben Saudi-Arabien und Syrien, das sich eine massive militärische Präsenz im Libanon vorbehielt. An der Seite von Damaskus stand zu diesem Zeitpunkt bereits der Iran.

Seit Khomeinis islamischer Revolution 1979 sind das mächtigste sunnitische und das mächtigste schiitische Land auf Kollisionskurs. Im Libanon hatten sie nach dem Bürgerkrieg ihre Statthalter positioniert. Die allerdings zeichneten bereits neue Kräfteverhältnisse vor: Ein schwächerer sunnitischer Block unter der Führung des charismatischen Hariri stand der immer mächtigeren, von Teheran ausgebildeten Hisbollah und den syrischen Truppen gegenüber.

Mit enormen Investitionen (und nicht immer legalen Methoden) baute Hariri Beiruts zerbombte Innenstadt wieder auf. Das politische Geschäft verlief schwieriger. Zwei Amtsperioden als Premier­minister beendete er mit Rücktritt, weil die Achse Tehe­ran–Damaskus–Hisbollah ihn immer mehr an die Wand drückte. Sein ­dritter Versuch endete tödlich.

Ein politisches Attentat

Nachdem die Hisbollah im Jahr 2000 militärisch den Abzug der israelischen Armee aus dem Süden des Landes erzwungen hatte, fanden viele Sunniten und einige christliche Fraktionen, dass nun auch die syrische Armee nach Hause gehen könne. Rafiq Hariri, im Land populär, schickte sich unmittelbar nach seinem zweiten Rücktritt 2004 mit einer politischen Kampfansage gegen Damaskus und die Hisbollah an, erneut Premierminister zu werden. Als sein Konvoi mit Leibwächtern und Beratern am 14. Februar 2005 die Beiruter Corniche entlangraste, zündete ein Selbstmordattentäter eine Autobombe.

Scheinbar übermächtig steht er nun am Ort seines Todes mitten in Beirut, gut drei Meter groß und in Bronze gegossen, die Hände lässig in den Hosentaschen, den Blick auf den Yachthafen gerichtet. An jedem Jahrestag versammeln sich hier seine überwiegend sunnitischen Anhänger zum Gedenken, angeführt von Saad, dem zweitältesten Sohn und politischen Erben. Abwesend ist Jahr für Jahr der mutmaßliche Drahtzieher des Attentats: die Hisbollah.

Es muss Momente gegeben haben, in denen der Sohn die Fußstapfen des Vaters verfluchte, die er bis heute nicht ausfüllen kann. In denen er sich wünschte, er hätte sein Leben als Leiter des Familienkonzerns Saudi Oger in Saudi-Arabien weiterführen können, dessen Staatsbürgerschaft er neben der libanesischen besitzt. Oder als Geschäftsmann in Frankreich, dessen Pass er ebenfalls hat.

Aber so einfach kann man sich nicht entziehen. Schon gar nicht im Libanon, wo die Söhne mächtiger Familien immer wieder ihre ermordeten Väter oder älteren Brüder zu Grabe getragen und dann deren Mantel des Patriarchen übernommen haben. Und so findet sich Saad Hariri fast 13 Jahre nach der Autobombe an der Corniche in der Falle desselben regionalen Machtkampfs, der seinem Vater zum Verhängnis geworden war. Die Geschichte wiederholt sich hier tatsächlich als Farce. Allerdings durchaus mit Potenzial zur Tragödie.

Ich bin nach vier Jahren in diesem Land nachhaltig libanisiert, ich kann die trotzig-schizophrene Lebenslust genießen und nahtlos einstimmen in die Klagen einheimischer Freunde über Korruption, konfessionelle Aufteilung staatlicher Pfründe und die skandalöse öffentliche Versorgung. Täglich fällt der Strom aus (woran die Betreiber von Generatoren verdienen). Das Leitungswasser nimmt man besser nicht in den Mund, und der neapolitanische Umgang mit Müll veranlasste vor Kurzem Human Rights Watch zum Vorwurf der Gefährdung der Bevölkerung. Der offizielle Staat garantiert hier kein Gemeinwohl, sondern ein stetes Gesundheitsrisiko. Der Libanon kann sich das Leben also auch ohne Einmischung von außen schwer machen. Aber genau diese Weigerung, ein überkonfessionelles Gemeinwesen zu errichten, macht das Land so anfällig für die Usurpa­tion von außen.

Hier Iran, dort die Saudis

Die Mehrheit von Libanons Schiiten, durch jahrelange Diskriminierung und iranische Propaganda in einem militanten Opfer-Narrativ gefangen, sieht ihr Heil allein im Schutz der Hisbollah. Die kann dank iranischer Gelder eine übermächtige Miliz und im schiitisch dominierten Südlibanon einen gut funktionierenden Staat im Staate unterhalten. Mit sozialem Netz, Gesundheitssektor, Müllabfuhr und steter Indoktrination.

In Tripoli, Libanons zweitgrößter und überwiegend sunnitischer Stadt im Norden, hängen die Bilder saudischer Monarchen in den Straßen. Saudisches Geld fließt hier in Moscheen und bei Bedarf auch an salafistische Milizen, die sich Mini-Bürgerkriege mit der alawitischen Minderheit liefern. Die wird wiederum von Damaskus und der Hisbollah ausgehalten.

Der große Unterschied zwischen den ausländischen Paten? Die Einflussnahme des Iran erfolgte von Beginn an konzentriert und langfristig. Der Libanon war das erste Labor für den iranischen Revolutionsexport. Diese Investition zahlte sich Jahre später im Irak, in Syrien und auch im Jemen aus, wo Hisbollah-Kämpfer Huthi-Rebellen ausgebildet haben.

Die Reaktion Saudi-Arabiens auf die iranische Expansion war von Beginn an erratisch: Der mit Millionen Dollar finanzierte Export des Wahhabismus brachte unter anderem Al-Kaida hervor, dessen Gewalt sich auch gegen das Königshaus richtete. Unter dem neuen starken Mann und Kronprinzen Mohammed Bin Salman wirkt die saudische Außenpolitik noch paranoider. Die Intervention im Jemen hat sich zu einem teuren „mission creep“ entwickelt, die blindwütige politische Attacke gegen den kleinen Nachbarn Katar die Kooperation der Golf-Länder zerstört. Vor allem aber hat das saudische Königshaus den Ruf, Verbündete hängen zu lassen. Oder aus der Bahn zu kegeln. Genau das widerfuhr Saad Hariri.

Hariri betrat die politische Bühne als Laie mit enormem politischen Rückenwind. Massenproteste im Libanon und massiver Druck aus dem westlichen Ausland erzwangen nach der Ermordung seines Vaters das Undenkbare: den Abzug der syrischen Truppen, deren Präsident Baschar al-Assad für das Attentat mitverantwortlich gemacht wurde.

Was als Zedern-Revolution in die Geschichte einging, war allerdings keine. Die Hisbollah konterte mit ebenso großen Demonstrationen. Jener Frühling 2005 vertiefte die Gräben zwischen einem prosaudischen und sunnitisch dominierten Block unter Führung von Hariris „Tayyar al Mustaqbal“ (Zukunftsbewegung) und einem proiranischen und prosyrischen unter Führung der Hisbollah.

Dabei war längst klar, welcher von beiden der Stärkere ist. Allen UN-Resolutionen und Friedensabkommen zum Trotz hatte die Hisbollah sich ihrer Entwaffnung immer widersetzt – unter Verweis auf ihre „Mission des Widerstands“ gegen Israel. Diese militärische Übermacht garantiert ihr bis heute freie Hand im Umgang mit politischen Gegnern. Hariri musste zusehen, wie in den folgenden Monaten hisbollahkritische Intellektuelle und Journalisten in einer Serie von Anschlägen getötet wurden; wie die Hisbollah nach Kräften die Ermittlungen zur Ermordung seines Vaters behinderte und wie sie schließlich aus dem kurzen Krieg mit Israel 2006 gestärkt hervorging. Ha­riris kurze erste Amtszeit als Premierminister war 2011 nach zwei Jahren zu Ende, als Hisbollah-Minister seine Einheitsregierung kollabieren ließen.

Seine endgültige Demontage erfolgte jedoch nicht durch die Hisbollah, sondern durch seinen großen Verbündeten. Es wird sich vielleicht nie aufklären lassen, was genau den Niedergang des Hariri-Großkonzerns Saudi Oger herbeigeführt hat. Missmanagement, unbezahlte Rechnungen oder der royale Zorn nach abfälligen Bemerkungen Hariris über die Monarchie. Fakt ist: Saudi Oger bekam plötzlich keine Aufträge mehr im Königreich, wurde mit Prozessen und Steuerfahndungen überzogen und musste seine Geschäftstätigkeit inzwischen einstellen.

Eine unvorstellbare Allianz

Als Saad Hariri Ende 2016 zum zweiten Mal Premierminister wurde, war er schon nicht mehr Riads Mann. Er war auch nicht mehr der Führer eines immer fragmentierteren sunnitischen Blockes. Er war ein Mann ohne politische und ökonomische Optionen, der in den Augen vieler Anhänger das Unvorstellbare tat: Er stimmte der Ernennung eines mit der Hisbollah verbündeten Christen, des ehemaligen Armeegenerals Michel Aoun, zum Präsidenten zu und bekam dafür wieder das Amt des Regierungschefs. Aber nun vollends von den Gnaden der Hisbollah und damit den mutmaßlichen Mördern seines Vaters.

Je nach Standpunkt kann man das als endgültige Unterwerfung oder als Dienst an der Nation werten. Aufgrund der Selbstblockade der konfessionellen Fraktionen war der Libanon zwei Jahre lang ohne Regierung durch die horrenden regionalen Krisen und Kriege getaumelt. Seit Dezember 2016 hat er wenigstens wieder einen Präsidenten und ein Kabinett. Und einen Premierminister, der offenbar dieses Mal bereit war, die neuen Machtverhältnisse anzuerkennen. Weder beeilte sich Hariri sonderlich bei der Umsetzung internationaler Sanktionen gegen die Hisbollah, noch scheute er sich vor direkten Kontakten mit der neuen Regionalmacht. Nach einem Treffen Hariris mit dem außenpolitischen Berater des iranischen Religionsführers Khamenei, Ali Akbar Velayati, verkündete dieser, die „Achse des Widerstands“ habe im Irak, in Syrien und im Libanon gewonnen. Kurz darauf wurde Saad Hariri, offenbar völlig ahnungslos, zum Rapport nach Riad bestellt und verlas wenig später kreidebleich seine Rücktrittserklärung. Dann verschwand er wieder in seiner Villa in Riad.

Was immer sich Mohammed Bin Salman bei dieser „Jetzt-reicht’s“-Inszenierung gedacht haben mag, sie entwickelte sich zum Bumerang. Aus dem Weißen Haus kam ausnahmsweise kein Beifall klatschender Tweet, in Beirut fanden sich plötzlich Libanesen aller Konfessionen zusammen unter dem Slogan „Wir wollen unseren Premier zurück“ und Präsident Aoun verkündete, Rücktrittserklärungen nehme er nur persönlich entgegen. Die Chance, im Libanon erneut die Rolle der Hisbollah zu hinterfragen, war damit vertan. Und das Königshaus in Riad hatte ein weiteres internationales PR-Desaster zu verbuchen.

Und nun? Im Dezember 2017, als diese Zeilen in Druck gingen, war die Libanon-Krise schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Saad Hariri ist dank einer meisterlichen diplomatischen Intervention des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach Beirut zurückgekehrt. Dort hat er Anfang Dezember seinen Rücktritt zurückgezogen, nachdem sämtliche politischen Fraktionen ihre Verpflichtung zur „Neutralität des Libanon“ in allen Konflikten der Region bekräftigt hatten. Was das genau heißt, definiert nicht Hariri, sondern Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Seine Miliz, so verkündete Nasrallah treuherzig, habe sich nie im Jemen eingemischt, und aus dem Irak ziehe man sich nach dem Sieg über den IS ohnehin gerade zurück.

Ein nützliches Etikett

Wären die Libanesen nicht so hart im Nehmen, wäre das Land wahrscheinlich unter schallendem Gelächter zusammengebrochen. Jeder weiß, dass die Hisbollah weiter in Syrien kämpft und dort Gebiete faktisch annektiert hat. Dass Angehörige der jemenitischen Huthi-Rebellen in der Dahiyeh, der Hisbollah-Hochburg im Süden von Beirut, ein- und ausgehen. Dass die Führer von Schiiten-Milizen aus dem Irak auf Einladung der Hisbollah die Grenze zu Israel „inspizieren“ dürfen. Und dass Saad Hariri Geisel im Kampf der beiden Regionalmächte bleibt. Für die Hisbollah und Präsident Michel Aoun ist er ein nützliches sunnitisches Etikett, das die Schimäre einer Regierung der „nationalen Einheit“ aufrechterhält. Und damit auch das europäische Wunschbild eines stabilen Libanon und gut abgedichteten Aufnahmelands für die syrischen Flüchtlinge.

Für Riad bleibt Saad Hariri eine politische Altlast. Der nächste saudische Schuss Richtung Libanon könnte also nur eine Frage der Zeit sein. Er könnte drastischer ausfallen als die bizarre Rücktrittsinszenierung. Den Ausschluss des Libanon aus der Arabischen Liga hat man in Riad bereits erwogen. Ökonomische Sanktionen wären eine weitere Waffe. In Saudi-Arabien und anderen Golf-Staaten arbeiten Hunderttausende Libanesen.

Denkbar ist aber auch, dass sich Riad auf amerikanischen Druck in den nächsten Monaten zurückhält. In Washington hat man offenbar eigene Pläne und will die Hisbollah – zunächst durch verschärfte Sanktionen – gezielt ins Visier nehmen, um so den Druck auf Teheran zu erhöhen. Die Libanon-Krise ist noch lange nicht vorbei. Die persönliche Tragik des Saad Hariri liegt darin, dass er anders als sein Vater nicht Akteur, sondern Spielball ist. Womöglich ist aber genau das seine Lebensversicherung. Ein Spielball bedroht niemanden. Er rollt irgendwann einfach ins Aus.

Andrea Böhm ist Nahost-Korrespondentin der ZEIT mit Sitz in Beirut. 2017 ­veröffentlichte sie „Das Ende der west­lichen Weltordnung“ (siehe dazu die Buchkritik auf S. 134 ff.).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 100 - 105

Teilen